Die Nann. Anna Croissant-Rust

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Название Die Nann
Автор произведения Anna Croissant-Rust
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711460832



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zum Fürchten war sie, gerade wie der Alte, wenn er seinen bösen Tag hatte! Von Ausruhen war keine Rede, nicht einmal essen und trinken wollte sie, und ein Stück Brot, das ihr Anderl brachte, warf sie ihm vor die Füsse. Es fiel ihr gar nicht ein, sich um die Nann zu kümmern, die konnte schreien, so viel sie wollte.

      „Hörscht es denn nit, Juli, die Nann? Reahrn tuat sie in oan Trumm fort,“ mahnte Anderl.

      „Lass sie reahrn, i kann ihr nit helfen, mir hilft aa koaner.“ –

      Die Nacht kam, und die Juli hockte noch oben auf dem Dache und schlug Nägel ein. Anderl stand unten und hielt die Leiter, vor Müdigkeit fielen ihm fast die Augen zu; fast wäre er eingeschlafen, hätte ihm die Schwester nicht auf einmal zugerufen: „Hilf mir, Bua, i kann nit awer.“

      Die ganze Leiter herunter musste Anderl sie stützen, ja beinahe tragen, und als sie unten stand, ging sie fast stolpernd vorwärts, sich an den Wänden haltend, als schwanke der Boden unter ihren Füssen. Aber das Dach war fertig, nun war alles gut, nun war alles gleich!

      Sie vermochte nichts mehr zu essen, sie war so abgemattet, dass sie sich nur noch ins Bett schleppen konnte und gleich einschlief. Ein schwerer, dumpfer Schlaf kam über sie, der in wirres Träumen überging; sie musste immer weiterarbeiten, ohne Rast und Ruh, immer mit der treibenden Angst, nicht fertig zu werden. Das war ein Wühlen und Graben, ein Wüten und Schaffen! Selbst Anderl mühte sich ab unter Weinen und Ächzen und Stöhnen, jetzt stiess er gar ein Wehgeschrei aus – jetzt wieder! – Das Schluchzen und Rufen dauerte an! – nein, aber das war ja nicht ein Träumen; jemand rief und weinte wirklich! Nicht da war’s, in der Stube, draussen auf dem Gang oder in der Küche musste es sein! Noch in ihren verwirrten Träumen, fand sie sich nicht gleich zurecht; war das wirklich Anderls Stimme, die nach ihr rief? Was war denn?

      Gleich fiel’s ihr auf die Seele, sie hatte ja der Nann gestern nichts zu essen gegeben! – „Die Nann?“ schrie sie in Todesangst.

      „Na, die Kuh!“ heulte Anderl. Richtig, da stand ja die Wiege mit der Nann, und die schluckte an ihrem Fläschlein und schaute fröhlich und vollständig mit dem Schicksal ausgesöhnt aus ihren blaugrauen grossen Augen nach der Juli.

      Wie lange die brauchte, bis sie nur ihre Kleider fand! Und sobald sie in der Höhe war, kam immer wieder dies Schwindelgefühl, dies Sausen und Klopfen, das sie schon am Abend gespürt, die Zunge lag ihr wie geschwollen im Munde; wenn sie ging, drehte sich alles um sie, am Ende wurde sie gar krank? Ganz sachte, ganz vorsichtig, ganz unsicher kam sie in die Küche geschlichen, gerade als die Kuh die Augen verdrehte und sich streckte. Aus war’s, sie war tot. Die Juli konnte keinen Schmerz empfinden, sie wunderte sich nicht einmal darüber, dass sie nicht verzweifelte, nicht schrie und betete wie Anderl, der ausser sich war.

      „Mir derhungern, mir müass’n derhungern,“ weinte er, und gleich darauf wieder: „Heilige Maria Mutter Gottes, wenn ma decht ’s Fleisch essen kannten! – Der Voda derschlagt uns ja! Bitt für uns arme Sünder – moanscht nit, Juli, mir kannten’s essen? – jetzt und in der Stunde unsers Absterbens! Amen!“

      Das war ein Jammer, dass es einen Stein hätte erbarmen mögen, einen grösseren Schmerz hatte Anderl noch nie durchgemacht! Und kein Wort fand die Juli, ihn zu trösten, sie ging einfach wieder zurück und legte sich auf die Ofenbank und liess ihn ratlos und allein in der Küche!

      *

      Gegen Mittag begann der warme Föhn zu wehen, eine matte Sonne kam hinter dem Gewölke vor, verschwand und erschien aufs neue; die Farbe der Berge ging vom Weiss ins Bleigrau über, die Eiszapfen am Haus fingen an zu tauen; auch der Brunnen rann wieder und der Schnee ringsum krachte und knisterte geheimnisvoll; später begann ein Knacken und Rieseln ringsumher, vor dem Hause standen grosse Lachen, denn die Dachtraufe spie unaufhörlich das Schneewasser aus, kleine Rinnsale kamen von den Hügeln herunter, und mit leisem Schauern fiel der Schnee von den Bäumen. Nun wurde die Ferne dunkelblau und violett, die Berge mit ihren Zacken und Graten waren ganz vors Haus gerückt, es war, wie wenn der Frühling kommen wollte.

      Doch der Föhn wurde immer lauter, Wolkenfetzen flohen über die blasse Sonne, es sang und heulte im Kamin, und der Rauch drang aus allen Ritzen des Ofens, wenn ihn der Sturm niederdrückte. Die Juli sah und hörte nichts von allem, teilnahmslos kauerte sie am Ofen mit halbgeschlossenen Augen, während Anderl scheu um sie herumstrich. Sie nahm die Brotsuppe nicht, die er brachte, sie hörte nicht, was er sagte, sie gab keine Antwort, wenn er jammerte und fragte.

      Was soll denn werden um aller Heiligen willen?

      „So sag was, sag was, hörscht denn nit?“ redete er auf die Schwester ein, und weil sie hartnäckig schwieg, geriet er, der sich sonst nicht rührte, vor Angst und Schrecken ganz wild gemacht, ausser sich. Er riss Juli in die Höhe, er versuchte sie auf die Füsse zu stellen und schüttelte sie, doch sank sie ihm unter den Händen zu Boden. Und welche Mühe das dem erschrockenen Buben machte, sie auf die Bank hinaufzulegen, denn weiter brachte er sie nicht, mit welcher Angst er nach ihr schaute, wie er hin und her lief, bis er ein Kissen und eine Decke für sie fand und sie gebettet hatte!

      Da lag sie nun am warmen Ofen und zitterte vor Frost, hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht mehr.

      Er betete und weinte leise und betete und weinte laut, es blieb dasselbe. –

      Die Geiss hatte er nun in den neuen Stall geführt und sie schon gemolken, vielleicht trank Juli die Milch?

      Aber die Kranke nahm nur in grossen, gierigen Schlucken das Wasser, das er ihr reichte, und versank wieder in ihre Teilnahmslosigkeit.

      In der Stube hörte man nichts wie das Jauchzen oder Krähen Nanns, die ganz zufrieden mit den Hobelspänen spielte, die Anderl beim Feueranmachen verstreut hatte.

      In der letzten Zeit hatten die Kinder ganz vergessen, die Uhr aufzuziehen. Anderl wusste nicht mehr, welche Zeit am Tage es war; doch begann er jetzt nachzuzählen und brachte heraus, dass dies der letzte Tag des Jahres sein musste.

      So ging also das neue gut an! Was sollte denn aus ihnen werden, wenn die Juli auch noch krank wurde und keiner kam, nach ihnen zu sehen? Was blieb denn da übrig, wie zu versuchen, nach Malsein hinunterzukommen?

      Er trat vor die Haustüre, aber der Schneehügel versperrte ihm die Aussicht, nicht einmal den Rauch von Malsein konnte man sehen, nichts wie das weite, weite Weiss und das stille Rieseln und Rauschen war ringsum, ein leises Knacken, ein Zerstäuben, emporschnellende Äste, wenn ein Wind kam – sonst nichts.

      Aber da wachte plötzlich irgendwo ein dumpfer, fast verhaltener Ton auf, der stärker und stärker wurde und näher und näher kam, zuletzt in ein Sausen überging –

      Anderl sah erschreckt nach der Wand über dem Hause – dort hatte sich’s losgelöst, von dort kam’s auf ihn zu – er rannte wie besessen hinein: „A Lahn kimmt!“

      Da brach es schon mit dumpfem Getöse herein. Einen Augenblick wurde es dunkel vor den Fenstern, Steine, die die Lawine mitführte, schlugen krachend gegen die Türe – ein Sausen und Tosen und Splittern – dann stürzte der weisse Koloss ins Tal, sie waren verschont geblieben! Zitternd und fast ohne Besinnung, den Kopf in den Händen vergraben, blieb Anderl noch lange Zeit knien, ehe er es wagte, aufzustehen.

      An den Fenstern lief wässeriger Schnee herunter, ganz so wie im Frühjahr, wenn der Tauwind Regen und Schnee an die Scheiben warf; nach und nach erst getraute sich Anderl, hinauszusehen. Der Gartenzaun war weg und eine Ecke des Schupfens; weit über das Haus hinaus sah man die breite Bahn, die die Lawine genommen, und wie sie alles reingefegt hatte, sogar der Schneehügel war verschwunden. Jetzt konnte er gewiss nach Malsein hinunter! Er lief hin und her, von einer grossen Unruhe getrieben.

      Er kam ganz gut bis an den Platz, wo der grosse Schneehügel gelegen, aber dahinter sank er gleich wieder ein, und droben fing’s aufs neue an, ein Rutschen, ein sausendes Geräusch – an einer andern Stelle löste sich wieder ein Schneeklumpen los und stürzte, sich stetig vergrössernd, mit unglaublicher Schnelligkeit über die Matten herunter.

      Nein, nein, er wagte es nicht, er getraute sich nicht hinunter, nun war man erst recht seines Lebens nicht sicher!

      Was