Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620. Robert Ralf Keintzel

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Название Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620
Автор произведения Robert Ralf Keintzel
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783969870006



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ob in Freiheit, Halbfreiheit oder Unfreiheit. Auch war diese Gruppe in ihrer Funktion ausdifferenziert. Bauern konnten in der Stadt oder auf dem Land leben, eine Amtsfunktion bekleiden oder eben nicht, viele oder wenige grundherrschaftliche Leistungen erbringen sowie beispielsweise eine große Wirtschaftsfläche oder eine kleine aufweisen.113 Das Bild in der Geschichtskultur vom hörigen Bauern, welcher komplett rechtlos ist und unter einem grausamen Herrscher leidet, kann so nicht pauschal bestätigt werden. So waren die Höhe der Sachabgaben und Frondienste wie auch andere Bereich im Leben von abhängigen Bauern nach Gewohnheitsrecht geregelt. Aus den kirchlichen und karolingischen Güterverzeichnissen kann entnommen werden, dass die Landwirtschaft die alles beherrschende Wirtschaftsform des älteren deutschen Reiches war. Danach gab es verbreitet Großgrundbesitz, welcher in das vom Gesinde bewirtschaftete Herrenland und anderseits in die Höfe der abhängigen Bauern eingeteilt war. Bei den Frondiensten existierten starke regionale Schwankungen und nach Vollrath kann eine pauschale Aussage, dass unfreie Bauern mehr leisten mussten als freie Bauern nicht getroffen werden. Auch befähigt die Quellenlage nicht zu einer exakten Antwort, dennoch kann festgehalten werden, dass die grundherrlichen Belastungen niedrig bis hoch sein konnten.114 Auch kann keine pauschale ungerechte Bevormundung der Großgrundbesitzer, welche Gericht sowie Verteidigung für abhängige Bauern organisierten, festgestellt werden. Zum einen war Grundherrschaft aufgrund von Erbteilungen oftmals verstreut und weniger auf ein Gebiet konzentriert. So lässt sich Dienheim bei Oppenheim in der Zeit des 8. und 9. Jahrhunderts anführen, hier existierten nach Urkunden 200 Landbesitzer, darunter sieben geistliche Institutionen, deren Herrschaftsrechte sich auf eine Einwohnerzahl von 200 bis 300 Bewohnern aufteilt. Daher muss sich die Frage gestellt werden, inwieweit ein striktes Grundrecht praktiziert wurde. Zusätzlich war der Grundherr auf die Arbeitskraft der Vasallen angewiesen, hierbei lassen sich aus Quellen Rückschlüsse auf einen Arbeitermangel schließen, so zeigt sich im Besitzverzeichnis des Bistums Augsburg, dass in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts 5,6 % der landwirtschaftlichen Güter aus Arbeitermangel nicht bewirtschaftet wurden. Dagegen lässt sich aus Quellen auf ungezügelte Gewalttaten gegenüber Hörigen schließen. So scheint Affektkontrolle wie auch Rationalität in dieser Zeit weniger verbreitet, hier lässt sich im Hofrecht aus dem Jahr 1024/25 von Bischof Burchard von Worms lesen:115

      „weil oft um nichts, oder in Trunkenheit oder aus hochfahrender Prahlerei zwei wie wahnsinnig so in Raserei gerieten, daß im Laufe eines Jahres 35 Hörige unschuldig von anderen Hörigen umgebracht wurden; und die Mörder haben sich dessen eher gerühmt und gebrüstet, als daß sie Reue gezeigt hätten.“116

      So zeigt sich das soziale Klima des Mittelalters bestimmt durch:

      „Sich-Einfügen in die vorgegebene Ordnung einerseits und Ausbrüche von Brutalität und Gewalttätigkeit auf allen Ebenen der Gesellschaft und gegen jedermann andererseits.“117

      Das Mittelalter war eine brutale Zeit, aber eben auch eine Zeit, die arm an Macht war, da Machtausübung durch Institutionen durchgesetzt werden musste, sodass institutionelle Macht kalkulierbar wurde. Aufgrund des Mangels an durchsetzungsstarken Institutionen gab es kein Gewaltmonopol des Staates oder der Herrschenden.118 Hierbei muss aber wiederum differenziert werden, ob der adelige oder klerikale Grundherr unmittelbar mit den Lehensnehmern in Verbindung stand, heißt vor Ort lebte und damit direkten Einfluss nehmen konnte oder weit entfernt lebte und einen mittelbaren Einfluss ausübte. Die Aktivitäten des Königs und des Hofes selbst hatten meist nur einen geringen sowie mittelbaren wie auch zeitverzögerten Einfluss auf die meisten Menschen, da das Deutsche Reich lange keinen Staat mit nachgeordneten sowie weisungsbefugten Behörden darstellte. Vielmehr war das Reich zu dieser Zeit ein Personalverband von institutionellen Flächenstaaten, so begriffen sich auch die einzelnen Stände als Bestanteile des Ganzen, wo jeder seinen Beitrag leistete. Dies änderte sich erst mit dem Investiturstreit.119 In der Zeit der Karolinger wurde die Grundherrschaft stark ausgedehnt, sodass freie Bauern die Ausnahme und nicht die Regel waren. Die Gesellschaft des Mittelalters war eine Agrargesellschaft, eine Gesellschaft von Abhängigkeit und Ordnung, so auch im Denken, auch wenn mit regionaler Differenzierung und Ausnahmen. Technologie und Wissenschaft waren voneinander getrennt und Wachstum konnte nicht aufgrund der Verbesserung von Technologien, sondern aufgrund von Expansion stattfinden.120 Dies führte ab Ende des 11. Jahrhunderts zu einer Beschleunigung der Ausbreitung von Landwirtschaft, unfreie Bauern wurden angeworben, um in neuen Gebieten zu leben und zu arbeiten, als Anreiz wurden ihnen mehr Freiheiten gewährt, sodass sie freier als in den alten Gebieten waren. Somit entstand durch die Expansion eine gesteigerte soziale aber auch örtliche Mobilität.121 Auch durch Ämter konnte ein sozialer Aufstieg gelingen, so gab es bereits unter den Merowingern höhergestelltes höriges Gesinde, welches aus unfreiem Hausgesinde als auch Hufbauern rekrutiert wurde. Diese höhergestellten aber immer noch unfreien Dienstleute bildeten die Gruppe der Ministerialen, welche durch die Ausübung eines Amtes einen Sonderstatus erlangt hatten. Der Status wurde vererbt, sodass sich die Ministerialen im Stand der Bauern als eine Sonderrolle etablierten. So wurde dann auch ihre Rolle erstmals rechtlich im Jahre 1023 im Bamberger Hofrecht festgehalten. Im Verlauf der Zeit glichen sich die Ministerialen den Adeligen rechtlich immer weiter an, so hatten sie einen eigenen rechtlichen Sonderstatus und besaßen abgabefreie ministeriale Dienstgüter.122 Mit der Heeresschildordnung ab der Mitte des 12. Jahrhunderts wurden Ministeriale auch als Schild des Reiches und damit als Kämpfer gesehen, sodass ab diesen Zeitpunkt Ministeriale im funktionalen sowie hierarchischen Denken den Adeligen näher waren als den Bauern. 123

      Abbildung 10:

      Die Heeresschildordnung im Heiligen Römischen Reich ab der Mitte des 12. Jahrhunderts - Ministeriale als Bestandteil der Heerschildordnung

      Aber auch in den Städten konnten Bauern ihr Glück machen sowie ihrer Unfreiheit entfliehen, diese Städte mussten aber zunächst vermehrt und damit erreichbar entstehen. Durch das Bevölkerungswachstum ab Ende des 10. Jahrhunderts wurde die Grundlage für die Entstehung von Städten geschaffen. Zwischen dem 11. und beginnenden 14. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung des Deutschen Reiches mit regionalen Unterschieden um durchschnittlich rund 0,5 %.124 Im Jahre 1120 wurde Freiburg im Breisgau gegründet, dieses Datum gilt als Markstein deutscher Stadtgeschichte. Die Stadtgründung wurde durch adelige Grundherren sowie den König gefördert, dabei warb man Kaufleute an und gab diesen bei der Stadtgründung Land, auf dem sie ein Haus errichten konnten; der Grundherr war Konrad von Zähringen.125 Mit den Städtegründungen entwickelte sich auch eine Möglichkeit der Landflucht für Unfreie, daraus entwickelte sich auch der Ausspruch: „Stadtluft macht frei.“ Unfreie Bauern flüchteten sich in die Städte und konnten hier Zuflucht sowie Versteck vor ihren Grundherren finden. Mit der Zeit entwickelte sich ein Gewohnheitsrecht und der Grundherr musste mit Zeugen beweisen, dass dieser Stadtbewohner ihn als unfreier Bauer entflohen ist, wenn der Grundherr den Bauern überhaupt fand beziehungsweise sich auf die Suche machte.126 Mit Ausbildung der städtischen Wirtschaft im 12. Jahrhundert kann man von einer ersten Industrialisierung sprechen. Hierbei taten sich besonders Oberdeutschland mit seinen Zentren für Leinen- und Barchent-Webereien in Augsburg und Ulm hervor. Barchent ist ein Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle, das für Leinen benötigte Flachs wurde traditionell bereits in Süddeutschland angebaut und die Baumwolle wurde seit dem 15. Jahrhundert aus Italien importiert. Das deutsche Barchent wurde überwiegend exportorientiert produziert, dieses konnte sich schon bald gegenüber dem italienischen Barchent aufgrund der hohen Qualität durchsetzen. Für die Versorgung der meisten Menschen, vor allem für die Landbevölkerung und die ärmere Stadtbevölkerung, waren die zünftigen Handwerksprodukte noch im 16. Jahrhundert von keiner großen Bedeutung, da Kleider, Schuhe und einfache Werkzeuge selber hergestellt wurden. Mit der Produktion von Barchent waren auch neuere Arbeitsformen, wie eine starke dezentrale Organisation in Heimarbeit, verbunden. Daneben spielte der Bergbau eine wichtige Rolle, hierbei wurde in sogenannten Saiger Hütten, besonders in Thüringen, Silber gewonnen, die „Großindustrie“ für Kupfer im 16. Jahrhundert fand sich unter anderem in Tirol, Kärnten und Ungarn und die Zentren der regional organisierten Eisenproduktion befanden sich in der Oberpfalz, Steiermark und Kärnten. Die Arbeit eines Bergmanns war eine harte körperliche Arbeit, welche in Stollen von rund 1,60 x 1 Meter Querschnitt stattfand und eine Jahresleistung pro Bergmann und Stollen von einer Strecke zwischen zwei bis drei Metern erbrachte.127 Mit