Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin. Monique R. Siegel

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Название Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin
Автор произведения Monique R. Siegel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726071283



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Trost, was den Hunger anging: Ganz Deutschland hungerte 1945. Geteiltes Leid wurde so zwar nicht zu halbem Leid, aber es war etwas leichter zu ertragen. Ich würde später noch hungriger sein, aber das spielte sich dann zur Zeit des deutschen Wirtschaftswunders ab, als alle um mich herum mehr als gesättigt waren, und das war viel schwerer zu ertragen. Aber ich greife vor ...

      Also, der Hunger. Es war der Sommer des Brennessel-Salats, der vielen Kilos Blattspinat, der Suppen, die auf mirakulöse Weise aus einer Handvoll Kartoffeln, ein bißchen Lauch und ein paar Karotten kreiert wurden. Herbst und Winter brachten dann Kohlrabi, Steckrüben, die ich heute wieder gut finde, aber damals fast nicht mehr schlucken konnte, und Kürbis. Ich weiß nicht, wie er das fertiggebracht hat, aber mein Vater hatte ein Talent für die Mirakel-Suppen, die endlos lange auf dem Zwei-Flammen-Gaskocher in unserem Zimmer vor sich hin köchelten und verführerisch dufteten. Diese Art von Suppe mit Kartoffelbrot war der Höhepunkt des Tages, wobei der nicht immer gesichert war.

      Wie muß es wohl meiner Mutter ergangen sein? Sie hätte ja eigentlich für zwei essen müssen, aber das Essen reichte knapp für eine. Sie versuchte, trotz fortschreitender Schwangerschaft, auf den Bauernhöfen Kartoffeln, etwas Butter oder ein paar Eier zu – ja, was eigentlich? Geld hatten wir keins, »zu kaufen« kann ich also nicht schreiben; »zu tauschen« würde voraussetzen, daß sie immer noch etwas zum Tauschen hatte. Es wird wohl »zu erbetteln« heißen müssen, wobei ihr der dicke Bauch sicher geholfen hat. Ach ja, zu diesem Bauch fällt mir noch etwas ein. Meine Mutter und ich schliefen im selben schmalen Bett. Je dicker ihr Bauch wurde, desto mehr mußten wir unsere nächtlichen Bewegungen koordinieren, uns zum Beispiel, wann immer möglich, zur selben Zeit drehen. Eines Nachts spürte ich einen Tritt im Rücken – das erste, aber beileibe nicht das letzte Mal, daß das zu erwartende Geschwisterchen sich im Bauch meiner Mutter bemerkbar machte. Wir waren übrigens überzeugt, daß es ein Junge sein würde; Carsten-Malte sollte er heißen, und wir redeten von ihm, als ob er schon da sei.

      Das führte zu einem amüsanten Zwischenfall. Wir wohnten, wie gesagt, im Parterre und konnten uns durchs Fenster mit den Menschen auf der Straße mühelos unterhalten. Offenbar war meine Mutter persona grata geworden; vielleicht hatte sie durch ihr beherztes Auftreten gegenüber den Amerikanern sogar Heldinnen-Status erreicht. Jedenfalls weiß ich, daß ein paar Frauen vor unserem Fenster standen, ihre Kinder auf dem Arm, und sich mit meiner Mutter drinnen unterhielten. Ich kam gerade heim und blieb auch vor dem Fenster stehen. Die Frauen hörten mit ihrer Unterhaltung auf (wahrscheinlich hatten sie über die bevorstehende Geburt geredet), beugten sich zu mir herunter und sagten in der unerträglichen Art, die Erwachsene Kindern gegenüber bei solchen Gelegenheiten an den Tag legen, daß ich keine Angst haben müsse: Meine Mutter hätte einfach zu viele Kartoffeln gegessen, aber schon bald würde sie den Kartoffel-Bauch verlieren und wieder ganz normal aussehen. Ich war empört über soviel Blödheit und beeilte mich, in altkluger Art diesen Damen zu erklären, daß in diesem Bauch mein kleiner Bruder sei, der mich nachts mit schöner Regelmäßigkeit in den Rücken trat und mir das Schlafen erschwerte. Die Dorfbewohnerinnen waren einmal mehr entsetzt ob meiner Mutter, die ihre kleine Tochter im zarten Alten von sechs Jahren mit der Storch-Geschichte verschont und ihr statt dessen einen Teil der facts of life erklärt hatte.

      In diesen Herbst fällt meine Einschulung, wenn man das so nennen kann. Eigentlich hätte das schon im Frühjahr 1945 passieren sollen, aber zu der Zeit waren Bomben und Besatzungssoldaten, nicht Bildung, das Tagesthema. Auch hier hatte meine Mutter für ein kleines Wunder gesorgt: In Deutschland bekam ein Kind am ersten Schultag einen Tornister mit Tafel, Kreide und Wischer sowie die Schultüte – eine Riesenangelegenheit aus mit Glanzpapier umwickelter Pappe in Form eines Glace-Cornets, die gefüllt war mit Süßigkeiten und kleinen Geschenken. Was in meiner drin war, weiß ich nicht mehr, aber daß ich eine Schultüte hatte, ist durch ein Foto belegt. Wie hat meine Mutter das nur hingekriegt?

      Das Foto zeigte ein strahlendes Kind, dem die Freude darüber anzusehen ist, daß es endlich, endlich zur Schule gehen kann. Ich hatte mich den ganzen Sommer hindurch wie ein scharrendes Rennpferd gebärdet, das im Stall festgehalten wird. Zwar hatte ich noch nicht lesen gelernt, kannte aber viele Wörter in den alten Bilderbüchern. Ich rechnete, wo immer möglich, mit Hilfe eines alten Abakus laut vor mich hin. Meiner hatte blaue und rote Perlen, die sich kühl und angenehm anfühlten. Die große Entdeckung aber war Schreiben! Und das hat zur einzigen positiven Erinnerung an meinen Vater geführt:

      In der zweiten Oktoberhälfte wurde meine Mutter ins Kreiskrankenhaus in Hettstedt, ein paar Kilometer von Siersleben entfernt, eingeliefert. So oft passiert es ja auch nicht, daß man den Beginn einer Schwangerschaft so genau beziffern konnte, wie es hier der Fall war. Aber der ungeduldig erwartete Carsten-Malte machte am 19. Oktober keinerlei Anstalten, das Licht der Welt zu erblicken. Auch nicht am 20. oder in den Tagen danach.

      Das Kind ließ sich Zeit – und gab mir zum erstenmal Zeit mit meinem Vater. Ich hatte wahnsinnige Sehnsucht nach meiner Mutter, die ich nicht einmal jeden Tag besuchen konnte, und ich nehme an, daß ich die Nähe meines Vaters gesucht habe. Jedenfalls erinnere ich mich an einen stürmischen Herbsttag, an dem wir beide in unserem Zimmer saßen und »arbeiteten«: Er las, wie immer, und ich machte Hausaufgaben, die darin bestanden, daß ich das große und das kleine A üben mußte. Ich sollte meine Schiefertafel füllen mit so vielen »Anna und Alma«, wie auf ihr Platz hatten. Ich war im siebten Himmel und sagte immer wieder »Anna und Alma« halblaut vor mich hin, bis mein Vater meinte, jetzt sei es genug; er wisse nun, daß meine Hausaufgaben etwas mit einer Anna und einer Alma zu tun hatten. Okay, ich konnte das auch schweigend erledigen, und weil ich so begeistert von der Sache war, habe ich viele Male die Tafel wieder saubergewischt und die ganze Übung von vorne gemacht. Es war pure Harmonie: Ich tat etwas, was mir großen Spaß machte, mein Vater war milde gestimmt, eine von seinen berühmten Suppen blubberte vor sich hin – und wieder waren wir einen Tag der Heimkehr meiner Mutter näher. Hätte ich gewußt, daß es das einzige Mal war, wo ich das Gefühl hatte, einen liebenden Vater zu haben, hätte ich diesen Herbstnachmittag sicher noch mehr genossen.

      Der 4. November war ein Sonntag. Meine Mutter war nahe daran, ihren Verstand zu verlieren, weil das Kind immer noch nicht da war. Sie erinnern sich: Sie hatte diesen Tick mit den Sonntagskindern, und als am Morgen die Wehen einsetzten, beschloß sie, daß dieser nun zwei Wochen überfällige Junge an diesem Tag geboren würde. Sie hat das auch geschafft: Um halb acht an diesem Sonntag abend wurde sie von einem über achtpfündigen – Mädchen entbunden! Für diesen unerwarteten Fall hatte sie auch schon einen Namen bereit: Cora-Marina. Meine Mutter war immer der Meinung, daß man ja mindestens acht Monate Zeit hat, um sich Gedanken zur Namengebung zu machen, und da sie sich in das Monogramm meines Vaters verliebt hatte, der Carl-Michael hieß, wollte sie alle ihre Kinder mit dieser CMR-Kombination beglücken. Auch ich hatte zuerst dieses Monogramm: Carin war ihre Wahl für mich gewesen. Später habe ich das abgelegt, denn so schön fand ich das Monogramm gar nicht, und zudem erinnerte es mich an meinen Vater, was nicht für die Beibehaltung dieses anderen Vornamens sprach.

      Also, gut. Jetzt hatte ich eine Schwester statt eines Bruders, was ja eigentlich auch besser war, weil dieses kleine Bündel einfach eine etwas größere Ausgabe meiner Puppe war. Und meine Puppe liebte ich heiß und innig; sie war eine der bestangezogenen, denn meine Mutter nähte für sie, und ich strickte. Na ja, jedenfalls sah es danach aus. Als wir noch in Deutschland herumreisen konnten, sind wir im Sommer an die Ostsee und hie und da mal in eine andere Stadt gefahren. Ich mochte diese Zugfahrten, besonders nachdem meine Mutter mir das Stricken beigebracht hatte. Sehr schnell hatte ich herausbekommen, daß die Mitreisenden mich »einfach süß« fanden, wenn ich mich mit meinen kleinen Fingern darum bemühte, die Wolle nicht zu verheddern und die Maschen nicht fallen zu lassen. Aber ich habe wohl nie eine übergroße Aufmerksamkeitsspanne gehabt, denn nachdem ich sichergestellt hatte, daß alle Mitreisenden meiner Mutter gegenüber ihre Bewunderung für dieses herzige kleine Mädchen kundgetan hatten, verlor ich die Lust, streckte ihr das Strickzeug hin und guckte aus dem Fenster oder schlief mal eine Runde. Wenn wir an größeren Bahnhöfen gehalten hatten und neue Reisende dazugekommen waren, ging das Spiel von neuem los. Und trotzdem weiß ich, daß ich für meine Puppe selbstgestrickte Sachen hatte – irgendwann muß ich tatsächlich mal etwas zu Ende gestrickt haben. Nun würde ich für diese größere Puppe vielleicht auch größere Sachen stricken, aber