Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin. Monique R. Siegel

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Название Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin
Автор произведения Monique R. Siegel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726071283



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(wie bitte, ein Kuß für das Patenkind? Aber doch nicht bei Tante Änne!) an verpaßte sie keine Gelegenheit, zu jammern und zu klagen, wie schlecht es ihnen ginge. Natürlich hatten wir nicht erwartet, in dieser Wohnung die nächsten Jahrzehnte zu verbringen, aber die penetrante Art, in der sie uns klar machte, wie schwierig das Leben für sie und ihre Familie war, zeigte uns bald, daß auch eine kurzfristige Unterkunft in dieser großen, komfortablen 5-Zimmer-Wohnung nicht einmal für die nächsten paar Tage eine Option sein könnte.

      Sobald meine Mutter sich gefaßt hatte, drängte sie auf Abgang. Ihr Körper war zwar entkräftet, aber ihr Stolz nicht gebrochen, und so packte sie ihr Baby, für das Tante Änne übrigens weniger als null Interesse zeigte, nahm ihre kleine Tochter an der Hand und drängte meinen Vater zur Türe hinaus. Keine zwei Stunden waren vergangen, und wir waren wieder im Bunker, einige Illusionen ärmer und ziemlich ratlos.

      Das Haus, in dem meine Patentante wohnte, war das zweite von vier Häusern, die zusammen einen der besseren Wohnblocks in Duisburg darstellten und, o Wunder, keinerlei Bombenschaden erlitten hatten. Zu jeder Wohnung gehörte ein Mansardenzimmer für das Dienstmädchen. Die Dienstmädchen gab es inzwischen nicht mehr; die Mansarden waren voller Gerümpel. Irgend jemand im vierten Haus bekam mit, daß die Familie der einflußreichen Patentante gegenüber diesen Häusern im Bunker vegetierte, und bot uns eine dieser Mansarden zu einem Spottpreis an. Ein Bett, eine Pritsche, ein Tisch, ein paar Stühle wurden auch aufgetrieben, und bald schon kam eine zweite Mansarde hinzu, so daß wir eine Schlafkammer mit einer Dachluke und eine Küchenmansarde mit einem echten Fenster hatten. Diese beiden Zimmerchen (wie auch das dritte, das im Laufe der nächsten neun Jahre irgendwann dazugemietet worden war) waren nicht miteinander verbunden; es gab also keine Wohnungstüre, sondern anfänglich zwei, später drei einzelne kleine Räume am Ende des Ganges, von dem die anderen Dienstbotenkammern abzweigten. Am Anfang dieses Ganges, gleich oben an der Treppe, gab es eine Toilette und ein Waschbecken. Dort holten wir und die Bewohner der anderen Mansarden jeweils in einem Eimer das saubere Wasser und schütteten den Inhalt des zweiten Eimers mit dem verbrauchten Wasser in die Toilette. Wir hatten also immerhin den Komfort von fließendem Wasser und einer Innentoilette mit Wasserspülung, aber keine Badewanne. Haarewaschen in der schmalen Küche wurde zu einem Meisterwerk in Akrobatik – ich erinnere mich, daß ich im Alter von neun Jahren zum erstenmal erfuhr, was Rückenschmerzen sind, als ich mich von der Prozedur aufrichtete und vor Schmerzen fast nicht mehr gerade stehen konnte. Wir haben also von Januar 1946 bis Oktober 1955 in unmittelbarer Nachbarschaft zu dieser schrecklichen Familie meines Vaters gewohnt, deren Wohnung wir nur zu besonderen Gelegenheiten wie zum Beispiel Geburtstagsfeiern für die bald siebzigjährige Mutter meines Vaters betraten.

      Das Beste an dieser Familie war der jüngste Sohn Jürgen. Er war ein Jahr älter als ich, aufgeweckt und frech, und ein ganz brauchbarer Spielkamerad. Diese Freundschaft dauerte jedoch nicht lange. Eines Tages waren meine Eltern im Kino (meine Mutter war geradezu besessen vom Kino, und ich bin sicher, sie hätte oder hat auf eine Mahlzeit verzichtet, um statt dessen ins Kino zu gehen), und Jürgen nutzte die Gelegenheit, seine Cousine »aufzuklären«. »Ich wette, Du weißt nicht, woher die Kinder kommen« begann er. Aber da war er an die Falsche geraten: Natürlich wußte ich das, und wie genau! Schließlich hatte mich das Baby, das im Bauch meiner Mutter heranwuchs, oft genug getreten. Also winkte ich ab – damit konnte er mich nicht schockieren. »Aber wie sie in den Bauch hineinkommen, das weißt du nicht!« triumphierte er. Stimmt. Das wußte ich nicht, aber fünf Minuten später hatte er es mir detailliert und anschaulich erklärt. Er sprach über etwas, was so absurd und so brutal schien, daß ich nichts davon glauben konnte. Ich war empört, gab ihm eine Ohrfeige und schrie ihn an, daß meine Eltern so etwas nie tun würden. Dann rannte ich aus dem Zimmer und den ganzen Weg zum Kino. Er kam mir nach, und wir warteten, ohne ein Wort zu sprechen, bis der Film zu Ende war und die Besucher das Kino verließen. Mitten in der herausdrängenden Menge erspähte ich meine Eltern. Ich lief auf meine Mutter zu und erklärte ihr laut und vernehmlich, was dieser schreckliche Cousin mir da vorgelogen hatte. Meine Mutter versuchte, mich zu beruhigen und auf Zuhause zu vertrösten – meine Güte, muß das für sie peinlich gewesen sein! Zu Hause hat sie dann behutsam versucht, den Schaden wieder gutzumachen, soweit das möglich war. In ihrer Wortwahl hörte sich das alles weniger furchtbar an, aber für eine Siebenjährige war das Wissen um die menschliche Fortpflanzung vielleicht doch noch etwas früh. Muß ich betonen, daß der Kontakt mit diesem Spielgefährten, auch wenn er mein Cousin war, ein abruptes Ende erfuhr?

      Das kann Tante Änne nur recht gewesen sein; je weniger Kontakt zu diesen entsetzlichen Verwandten, mit der sie ein rächender Gott für irgend etwas bestrafen wollte, desto besser! Aber wofür nur hätte er diese fromme Frau bestrafen wollen? Daß Gott hier seine Hand im Spiel hatte, war eindeutig, denn sie war zwar keine Nonne geworden, aber ihr Sein wurde sonst ziemlich heftig von der katholischen Religion bestimmt. Sie ging jeden Tag zur Messe und meistens auch zur Kommunion. Das lohnte sich aber nur, wenn genügend andere Gottesdienstbesucher da waren. Stets saß sie in der ersten Reihe, die Augen geschlossen, einen Schritt vor der religiösen Trance, der sie sich jedoch mit einem prüfenden Blick kurz entzog, wenn sie feststellen wollte, wer denn sonst noch da war. Wenn das Resultat sie befriedigte, stand sie auf, ging mit aneinandergelegten Händen, die sie ausgesteckt vor ihre füllige Brust hielt, und halbgeschlossenen Augen in Richtung Altarstufen, um die Kommunion zu zelebrieren. Auf dem Rückweg zu ihrem Platz hatte die Verzückung noch um einen Grad zugenommen.

      Ich könnte das heute noch zeichnen, wenn ich zeichnen könnte, denn als Kind war ich öfter dazu verknurrt, mir dieses Schauspiel anzusehen, und ich saß dann immer erwartungsvoll da: Würde sie diesmal eine Stufe verpassen oder in die falsche Bank eintreten? Je älter ich wurde, desto mehr faszinierte mich dieses Ritual. Ich habe in meinem ganzen Leben keinen bigotteren Menschen getroffen, aber das würde sich erst nach und nach zeigen.

      Meine Patentante war in dem katholisch geprägten Quartier eine einflußreiche Frau. Sie spendete gezielt für karikative Institutionen, bei denen sie sicher sein konnte, daß sie Katholiken zugute kamen. Sie war eine immer gesprächsbereite Partnerin für die Anliegen der diversen Pfarrer und ging im Nonnenkloster, das einen Block entfernt lag, ein und aus. Ihre penetrant zur Schau getragene Frömmigkeit war für sie das Maß aller Dinge; Menschen, die von ihrer religiösen Überzeugung weniger Aufhebens machten oder – o Schreck, o Graus! – gar keine hatten, zählten nicht.

      Ihre alte Mutter, eine kleine, verhutzelte Frau, ging jeden Morgen um sechs Uhr zur Messe. Diese Tatsache, eine furchterregende Warze in ihrem Gesicht sowie der Geruch einer alten Frau sind die hauptsächlichen Eigenschaften, die mir von dieser zweiten Großmutter im Gedächtnis geblieben sind. Zum Geburtstag oder bei Familienanlässen gab sie mir jeweils fünfzig Pfennige, mit der Aufforderung, mir dafür »etwas Schönes zu kaufen«. Wenn sie nicht in der Kirche war, dämmerte sie vor sich hin, nuschelte ab und zu ein paar Sätze heraus oder betete ein paar Rosenkränze.

      Ich glaube, es ist Zeit, daß Sie den Rest dieser fragwürdigen Verwandtschaft kennenlernen, damit Sie wenigstens verstehen können, warum es meine Mutter mit aller Kraft nach Berlin zurückzog ...

      Tante Änne war die ältere Schwester meines Vaters, Tante Hedwig die jüngere. Sie war verheiratet mit einem gutaussehenden Schwächling, der eigentlich ganz nett war, aber durchaus kein Partner für seine herrschsüchtige, krankhaft geizige Frau. Die beiden hatten zwei Kinder produziert. Bei dem Erstgeborenen, der nur knapp jünger war als meine Schwester, hatten sie sich doch tatsächlich zu dem Vornamen Ingo verstiegen; bei der Tochter, die zwei Jahre später kam, reichte es immerhin noch für Vera.

      Die Vornamen dieses Cousins und dieser Cousine sagen viel aus über deren Mutter. Hedwig war in ihrer fugend weitaus ansehnlicher gewesen als ihre ältere Schwester, und während die sich früh den richtigen Ernährer geangelt hatte, stellte sich heraus, daß Hedwig kein Kind von Traurigkeit war. Was nicht ohne Folgen blieb. Diese Folgen sind in aller Heimlichkeit abgetrieben worden – etwas, was alle wußten, worüber aber nie gesprochen werden durfte. Ihrem späteren Ehemann hat sie offenbar noch Jungfräulichkeit vorgaukeln können – na ja, das sagt dann wiederum einiges über ihn aus. Hedwig hatte mal in Vorkriegszeiten ihre ferne Schwägerin in Berlin unter die Lupe nehmen wollen und war dorthin gereist. Dabei hatte sie sich in Berlin so gut amüsiert, daß sie öfter Gastrecht in Anspruch