Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin. Monique R. Siegel

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Название Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin
Автор произведения Monique R. Siegel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726071283



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Was immer sie dann noch geredet bzw. geschrieen haben, hat dazu geführt, daß sich die Frauen schließlich nach Hause flüchten dürfen, während die Besetzung ihren Gang nimmt. Ein paar GIs werden abkommandiert, um meine Mutter die ca. hundertfünzig Meter nach Hause zu begleiten. Das ist das Ende unseres zweiten Zimmers, das die Soldaten sofort beschlagnahmen. Wir dürfen noch ein Bett ins andere Zimmer tragen, dann wird das ehemalige Schlafzimmer geräumt, und so haben wir die Besatzer direkt im Haus.

      Mai 1945. Nachdem sich alle vom ersten Schock erholt hatten, nachdem alle Waffen eingesammelt worden waren (erstaunlich, wie viele davon noch in diesem verschlafenen Dorf vorhanden waren), nachdem die alten oder invaliden Männer – einschließlich des Vaters unserer Hausbesitzerin vom ersten Stock – verhört und meistens wieder freigelassen worden waren, kehrte eine gewisse Normalität ein. Wir gewöhnten uns an die freundlichen, heimwehkranken Soldaten, die immer irgend etwas verteilten und zu einer Sechsjährigen ausgesprochen nett waren. Die Menschen konnten wieder lachen oder einen Frühlingstag genießen. Selbstverständlich beeilten sich alle, den Amerikanern zu versichern, wie froh sie über die Befreiung seien. Selbstverständlich hatte keine(r) im Dorf je etwas mit den Nazis zu tun gehabt – warum hätten auch diese Dorfbewohner anders sein sollen, wo es doch, wie wir später herausfinden würden, in ganz Deutschland keine Nazis gegeben hatte ...?!

      Ein ungefähr fünfundzwanzigjähriger GI war besonders freundlich. Er hatte sich wohl ein bißchen in meine Mutter verguckt. Sie war zwar Ende dreißig und im vierten Monat schwanger, aber sie hatte immer noch die Allure einer Städterin, und sie war ein liebenswürdiger Mensch. Sie konnte den jungen Mann auf Distanz halten und sich trotzdem auf ihn als Beschützer verlassen. Für sie war er wie ihr Stiefsohn, der ihr 1943 abhanden gekommen war.

      »Stiefsohn? Was für ein Stiefsohn?« höre ich Sie sagen. Also, erwähnt habe ich ihn schon, aber nur im Zusammenhang mit meinem Vater, erinnern Sie sich? Aber Sie haben Recht: Ich schulde Ihnen diesen »Stiefsohn«, der jetzt, wo er in diese Geschichte platzt, bereits zwei Jahre als »vermißt« gilt. Also, hier ist er: Günter Ring, geboren ca. 1922/23 in Duisburg.

      Als meine Eltern heirateten, gab es im Rheinland einen kleinen Jungen namens Günter, der in einem Waisenhaus untergebracht war. Normalerweise befinden sich ja in solchen Institutionen Kinder, die keine Eltern mehr haben. Dieser Junge hingegen hatte vier, denn die Ex-Frau meines Vaters hatte auch wieder geheiratet. Beide natürlichen Eltern wollten jedoch nichts mit dem Kind zu tun haben und hatten es in dieses Waisenhaus abgeschoben. Als meine Mutter davon erfuhr, war sie empört; kurz entschlossen machte sie dieser absurden Situation ein Ende, indem sie meinen Vater veranlaßte, »das Kind« nach Berlin kommen zu lassen. Und so wurde die zweiundzwanzigjährige, frisch gebackene Ehefrau in kurzer Zeit Stiefmutter eines Siebenjährigen.

      Muß man erwähnen, daß dieser Junge meine Mutter anbetete? Die beiden haben sich vom ersten Moment an gut verstanden – ich habe ja schon erwähnt, daß meine Mutter für die Mutterschaft geradezu prädestiniert war. Aus dem verstörten Waisenhaus-Insassen wurde in kurzer Zeit ein intelligenter, fröhlicher Junge, der sich enorm gefreut haben soll, als er eines Tages als Siebzehnjähriger eine kleine Schwester in den Armen hielt. Ich hätte mir keinen besseren Bruder vorstellen können, nur habe ich nicht viel von ihm gehabt. Er wurde früh eingezogen, kam dann ein paar Mal auf Urlaub nach Hause – und dann eben eines Tages nicht mehr. Es hat lange gedauert, bevor meine Mutter akzeptieren konnte, daß dieser Junge, der so abrupt in ihr Leben gekommen war, genau so plötzlich daraus wieder verschwunden war. Sie und ich haben ihm ein liebendes Andenken bewahrt; ich kann mich nicht erinnern, daß mein Vater je von ihm gesprochen hat. Ich glaube, die beiden konnten es nicht so gut miteinander; Günter hat es seinem Vater wohl nie verziehen, daß dieser sich eigentlich schon sehr früh aus seinem Leben verabschiedet hatte.

      Der junge GI also, altersmäßig zwischen meiner Mutter und mir, war für sie so etwas wie der Ersatz für den Stiefsohn. Er, der nur Englisch sprach, sah sie wohl eher als Frau. Jedenfalls war die Trauer groß, als er von Siersleben abgezogen wurde, und die Briefe, die er ihr danach geschrieben hat und die sie anhand eines Wörterbuches, das er ihr geschenkt hatte, zu entziffern versuchte, waren eindeutig schwärmerische Liebesbriefe.

      »Von Siersleben abgezogen«. Diese drei Wörter bilden den Hintergrund für ein ganzes Horror-Szenario, das von da an für den Rest des Jahres unser Leben bestimmen sollte. Bald nach Ankunft der Amerikaner nämlich teilten die Sieger Deutschland unter sich auf – und leider fiel Thüringen an die Russen. Die Amerikaner räumten das Feld, und wir bekamen danach wirklich zu spüren, was es heißt, unter Besatzung zu leben. Die Russen sahen anders aus, rochen anders, stießen komische Laute aus und waren andauernd betrunken. Sie rollten ebenfalls auf Panzern herein, aber denen folgten keine Jeeps oder Lastwagen, sondern das, was man Panje-Wagen nannte: Leiterwagen, von kleinen Pferden gezogen, voll besetzt mit ungewaschenen Soldaten in schlammbedeckten Stiefeln. Wenn sie nur ungewaschen gewesen wären! Auch sie entsprachen dem, was man später in Hollywood-Filmen in epischer Breite vorgeführt bekam: Hier stießen wirklich zwei Kulturen aufeinander.

      Sogar ich hörte die Schreie der Frauen, die sich nicht rechtzeitig hatten in Sicherheit bringen können. Nichts, was einen Rock trug, war vor diesen in jeder Beziehung ausgehungerten Fronttruppen sicher. Ich weiß nicht, wie es meiner Mutter gelungen ist, dem zu entkommen; da müssen die Schutzengel Überstunden gemacht haben. In vielen Fällen haben auch fortgeschrittene Schwangerschaften nicht als Schutzfaktor dienen können; bei ihr hingegen scheint es funktioniert zu haben. Dafür gibt es ein eindrückliches Beispiel:

      Mein Vater war wieder da. Er hatte Glück gehabt: Das Kriegsende hatte er in britischer Kriegsgefangenschaft erlebt, und sein Lager war wegen Infektionskrankheiten aufgelöst worden. Irgendwie war es ihm gelungen, sich bis nach Siersleben durchzuschlagen, und plötzlich war er da. Sein einziges Kleidungsstück war seine von allen Abzeichen befreite Uniform – nicht unbedingt das, was man trug zu einer Zeit, als so etwas auf die Russen äußerst animierend wirkte. Nicht nur, daß die Uniform etwas repräsentierte, was sie jahrelang bekämpft und jetzt erobert hatten, sondern auch die dazugehörenden Stiefel, die mein Vater durch die Gefangenschaft hindurch gerettet hatte, waren für sie ein Objekt der Begierde. Da ist wieder so eine Szene, die wohl für immer in meinem Gedächtnis verankert ist:

      Das Bürgermeisteramt war schräg gegenüber dem Haus, wo wir das eine Zimmer hatten, das wir nun zu dritt bewohnten. Mein Vater hatte auf dem Amt vorsprechen müssen. Soeben war er aus der Tür auf die Straße getreten, ohne zu wissen, daß sich in der Zwischenzeit eine Gruppe von Soldaten zur Abfahrt versammelt hatte, direkt vor dem Bürgermeisteramt. Beim Anblick meines Vaters oder vielleicht eher seiner Stiefel wurde es plötzlich ganz ruhig. Mein Vater fing an, in unsere Richtung zu gehen; meine Mutter, nun sichtbar schwanger, stand am offenen Fenster; ich habe wahrscheinlich auf der Fensterbank gesessen, denn ich habe alles sehen können. Einige Russen fingen an, um meinen Vater herum einen Kreis zu bilden, der enger und enger wurde. Mein Vater kam geradewegs auf uns zu und lenkte damit die Aufmerksamkeit auf meine Mutter. Wie lange hat das Ganze wohl gedauert? In meiner Erinnerung hat es in Zeitlupe stattgefunden; in Wirklichkeit wird es ziemlich schnell gegangen sein. Keiner sprach ein Wort, und selbst als Kind konnte ich das Unheil, das in der Luft lag, spüren.

      Die unheimliche Stille wurde plötzlich durch einen gellenden Pfeifton unterbrochen. Ein Offizier hatte die Gefährlichkeit der Situation erkannt; vielleicht wollte er ein Lynchen verhindern, vielleicht wollte er nur vermeiden, seinen Vorgesetzten gegenüber diesen Akt rechtfertigen zu müssen. Jedenfalls befahl der Pfiff die ganze Mannschaft wieder auf ihre Leiterwagen; die Stille war gebrochen, sie hatten plötzlich viel zu reden und zu lachen. Offensichtlich machten sie sich über meinen Vater lustig, der kreidebleich wie festgeklebt vor unserem Fenster stand. Dann zog die ganze Gruppe davon, und der Spuk war vorbei.

      Als mein Vater wieder im Zimmer war, versuchte meine Mutter, die Spannung abzubauen, indem sie ihm eine Szene machte. Er hatte uns alle aus purem Leichtsinn in Todesgefahr gebracht; sie zitterte, und ich weinte für alle Fälle mal eine Runde. Es waren wirklich schreckliche Zeiten in diesem Frühsommer 1945, und die Tatsache, daß der furchtbare Krieg endlich zu Ende war, hieß nur, daß die Hauptgefahr vorbei war. Zu den »Nebengefahren« gehörte diese Begebenheit, gehörten Blindgänger (Bomben, die beim Aufprall nicht explodiert waren, dies aber bei unsachgemäßer Handhabung jederzeit tun konnten),