Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin. Monique R. Siegel

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Название Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin
Автор произведения Monique R. Siegel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726071283



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dazukam!

      Daß meine Mutter nicht normal sein mußte, konnte man leicht erkennen: Sie besaß einen Wintermantel, sogar einen aus Pelz. Diese Tatsache alleine machte sie in dem ganzen Dorf suspekt, was allerdings auf totaler Gegenseitigkeit beruhte: Meine Mutter starrte die Frauen an, die in eine Wolldecke gehüllt daherkamen, ihre kleinen Kinder auf dem Arm, in dieselbe Decke eingebunden. Es erinnerte an mexikanische oder südamerikanische Urbevölkerungen – und war doch nur einige hundert Kilometer von Berlin entfernt. Bald sollte wenigstens der Pelzmantel kein Stein des Anstoßes mehr sein, denn auch er wurde »verfuttert«. Aber meine Mutter konnte, wie gesagt, wunderbar nähen und sah halt auch zu der Zeit noch gut aus. Die Frauen haßten sie geradezu und ließen sie das spüren, wenn sie über Land ging, wie das damals hieß. Das bedeutete: Meine Mutter zog sich so an, daß sie auf matschigen Landstraßen von Bauernhof zu Bauernhof gehen konnte, um dort mit Tauschgeschäften für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie lernte bald, daß sie gar nicht erst anfangen mußte zu verhandeln, wenn die Bäuerin zuerst auftauchte. »Wir haben nichts!«, wurde ihr dann in breitestem thüringischen Dialekt zugerufen, bevor sie auch nur die Türe erreichte. Waren es hingegen die Bauern, die zuerst auf sie aufmerksam wurden – meistens alte oder invalide Männer, die nicht mehr an die Front geschickt werden konnten –, so hatten wir eine Chance (»wir«, denn manchmal nahm sie mich mit – mit dem Kind an der Hand erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, daß sie nicht mit leeren Händen vom Hof gehen mußte, aber nur, wenn dieses Kind den Mund nicht aufmachte), daß ein paar Grundnahrungsmittel uns für ein paar Tage über die Runden bringen würden.

      Warum mußte ich stumm dabeistehen, wenn meine Mutter verhandelte? Nun, die Dorfbewohner waren von mir genauso angetan wie von meiner Mutter. Im Gegensatz zu Ostpreußen schien es in diesem Dorf fast keine Kinder zu geben, jedenfalls kann ich mich kaum erinnern, daß Kinder mit mir spielten. Und so waren wir beide wieder einmal symbiotisch verbunden. Da ich mein ganzes sprechendes Leben lang dazu angehalten worden war, »anständig« zu reden, bitte und danke zu sagen, zu knicksen, wenn ich jemandem die Hand gab und was dergleichen Dinge mehr sind, waren mein Wortschatz und die Themen, die mich interessierten, weit jenseits des Horizonts der Dorfbewohner; sie verstanden mich nicht, und ich fand sie doof.

      Der Krieg kam ins Endstadium. Die linientreuen Dorfbewohner hatten damit ihre Mühe und hielten tapfer an ihren Illusionen fest. Meine Eltern hatten sich auseinandergelebt. Meine Mutter hatte gelernt, ohne ihren Ehemann auszukommen, und wollte die hart erarbeitete Freiheit nicht mehr aufgeben. Inzwischen war mein Vater in Ostpreußen stationiert, nicht weit von dem Dorf entfernt, in dem wir gelernt hatten, was ländlich-sittlich heißt. Unter den schwierigsten Umständen gelang es meiner Mutter, ihn dort zu besuchen. Es war Januar 1945; die russischen Geschütze waren bereits in Hörweite. Am 19. hatte mein Vater Geburtstag, und sie hatte ein besonderes Geschenk für ihn: Sie war zu ihm gereist, um ihm persönlich mitzuteilen, daß sie sich nach Kriegsende von ihm scheiden lassen würde! Mein Vater honorierte das auf seine Weise, was sie jedoch erst später realisierte. Im März 1945 erkannte sie, daß sie wieder einmal schwanger war. Damit war das Thema Scheidung vorerst vom Tisch – und das war genau, was mein Vater gewollt hatte.

      Ziehen Sie jetzt nicht die Augenbrauen hoch. So, wie ich das hier zu Papier bringe, wirft es ein etwas seltsames Licht auf meine Mutter, da gebe ich Ihnen Recht: Sie fährt unter den schwierigsten Umständen zu ihrem Ehemann, um ihm die geplante Scheidung mitzuteilen, und kommt schwanger zurück! Aber die Situation im Januar 1945 in Ostdeutschland war eine andere, und mein Vater war in bezug auf Charme und Verführung kein Anfänger. Er wußte zudem, was ihm guttat: die beste Zeit seines Lebens war die an der Seite meiner Mutter gewesen, und wohin wollte er denn aus dem Krieg heimkommen, wenn nicht zu einer Familie? Und dann: Können Sie sich eine bessere Zeit für eine Schwangerschaft vorstellen als das Ende des Zweiten Weltkriegs? Eben.

      Am 12. Februar 1945, in einem der kältesten Winter, wurde ich sechs Jahre alt. Jeder Geburtstag vorher war ein erinnerungswürdiger Tag gewesen. Ich glaube, meine Mutter hat jeweils das ganze Jahr über geschaut, was sie mir zu meinem großen Tag schenken könnte, und wenn es nichts Gekauftes war, dann war es etwas Selbstgemachtes – immer aber gab es einen Gabentisch, wenn er auch noch so bescheiden war. Im Februar 1945 war ihr das aber nicht gelungen; anderseits wollte sie ihre Tochter nicht enttäuschen. Und dann erinnerte sie sich an einen ziemlich teuren Schildpattkamm, den sie in ihrer »guten« Handtasche hatte. Ich spielte so gerne mit diesem Ding, das sich eigentlich als Kinderspielzeug nicht so eignete und mir deshalb auch dauernd weggenommen wurde. Als gar kein Geschenk aufzutreiben war, beschloß meine Mutter, sich von diesem Kamm zu trennen, damit ich wenigstens etwas auspacken konnte. Dazu hatte sie einen Kartoffelkuchen gebacken und eine der kostbaren Kerzen als Lebenslicht in die Mitte des Kuchens gestellt. Beim Aufwachen gab es ein besonderes Ritual: Weil es in dem ungeheizten Raum so bitterkalt war, blieb ich im Bett und mußte die Augen ganz fest zudrücken, bis die Kerze angezündet war. Dann kam die erlösende Aufforderung, sie zu öffnen – und da war eben doch ein Päckchen zum Öffnen, ein Kuchen zum Probieren und das Lebenslicht, die eine Kerze, die bei allen Geburtstagen leuchten mußte, egal wie viele andere noch darum herum brannten! Ich liebte meine Mutter heiß und innig.

      Ich habe viele schöne Erinnerungen an wunderbare Geburtstage, aber mein sechster ist als etwas ganz Besonderes in meinem Gedächtnis verankert. Wen wundert’s, daß Geburtstage in unserer Familie einen extrem hohen Stellenwert haben? Wir betrachten diesen Tag als den wichtigsten Tag im Jahr und tun alles, damit das Geburtstagskind das auch 24 Stunden lang – und davor und danach auch noch, wenn möglich – so empfindet.

      Der Frühling 1945 ist eine Zeit voller Falschmeldungen, Ängste, Gerüchte. Und permanent lauert die Gefahr, daß ganz überzeugte Nazis, von denen es immer noch genügend gibt, jemanden wie meine Mutter, die laut über das Kriegsende und eine Zeit danach nachdenkt, erschießen. Endlich: der Mai 1945. Zum Glück sind es die Amerikaner, die uns befreien. Denken Sie an all die Hollywood-Filme, die diesen Teil der Geschichte auf Zelluloid verewigt haben – so ähnlich war das schon, aber erst, nachdem die Befreier wußten, daß sie an einem Ort sicher waren. Bis dahin benahmen sie sich durchaus so, wie man sich eine erobernde Truppe vorstellt.

      Aus der sicheren Distanz von bald sechs Jahrzehnten ist das vielleicht schwer verständlich; wenn ich mir die Situation damals vergegenwärtige, überrascht es mich jedoch gar nicht. Es sind zum Teil blutjunge GIs, auf Eroberung getrimmt. Sie müssen beim Einzug in die Dörfer jedes Haus durchsuchen und jeden Bauernhof bis in die letzte Ecke durchstöbern, auf der Suche nach Waffen oder deren Besitzern. Sie agieren mutig, indem sie die Menschen, denen sie begegnen, anschreien – dabei ist ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben. Danach verteilen sie Schokolade und Zigaretten, reagieren aber äußerst nervös auf unvermutete Bewegungen ihres Gegenübers. Vergewaltigungen waren gewöhnlich nicht ihr Stil – sie waren auch nicht angesagt, denn die meisten Frauen haben sich nur zu gerne hingegeben. Was hat eine Frau damals nicht alles getan für ihr erstes Paar Nylonstrümpfe, für Milchpulver oder Hershey Kisses, diese lustigen kleinen Schokoladestückchen aus den amerikanischen Militärrationen?

      Ich erinnere mich an all das sehr genau, denn an dem Vormittag, als Siersleben »erobert« wurde, stand ich mit meiner Mutter vor dem Dorfladen. Wir standen wieder einmal an. Das ist die Beschäftigung, die in Kriegs- und Krisenzeiten wohl die meisten Stunden beansprucht: Anstehen, in der Hoffnung, daß man rechtzeitig »drankommt«, um noch etwas von dem zu ergattern, was an dem Tag gerade verfügbar war. In vielen Fällen hatten wir überhaupt keine Ahnung, was das Tagesangebot war; man nahm, was man kriegen konnte. Wenn man es selbst nicht brauchen konnte, hatte man wenigstens etwas zum Tauschen. Wir stehen also in einer langen Schlange, und plötzlich kommt der erste Panzer um die Ecke, gefolgt von mehreren anderen, Jeeps und Lastwagen. Ein Offizier springt herunter, rennt mit vorgehaltenem Gewehr auf die völlig verängstigten Frauen zu und schreit in bestem Deutsch: »Na, wo ist er denn, euer Führer? Wo ist er jetzt, wo ihr ihn brauchen könntet?« Die Dorfbewohnerinnen schreien und weinen ihrerseits und wollen nach Hause rennen. Das verhindern jedoch die Amerikaner, von denen jetzt einige um uns herumwuseln. Weiß der Himmel, wofür sie trainiert worden waren; so wie sie da herumstehen, alle mit Gewehren schußbereit in der Hand, scheinen sie auch nicht so recht zu wissen, was sie mit diesen aufgelösten Frauen anfangen sollen.

      Meine Mutter übernimmt die Führung, nicht zuletzt, weil der aufgeregte Offizier