Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin. Monique R. Siegel

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Название Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin
Автор произведения Monique R. Siegel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726071283



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zu sich kam, wurde sie ins Rotkreuzzelt getragen, während mein Vater und ich, die aus voller Kehle heulte, in die Desinfektionszelte begleitet wurden.

      Es war mein erster, aber beileibe nicht letzter Kontakt mit DDT. In Ostpreußen hatte ich ja bereits beim jeweiligen Krätze-Befall Bekanntschaft mit Desinfektionsmitteln gemacht. DDT tat längst nicht so weh, stank aber mindestens genauso schlimm. Zudem war das weiße Pulver danach überall: auf dem Körper, in der Kleidung, in der Luft; man wurde es einfach nicht mehr los.

      Helmstedt war nur ein Auffanglager, und nachdem wir neue Papiere bekommen, desinfiziert, entlaust und mit etwas Warmen gefüttert worden waren, wurden wir auf den Weg zum Bahnhof geschickt. Unsere Destination war schließlich nicht Helmstedt, sondern Duisburg. Meine Mutter hatte sich soweit erholt, daß sie – ohne Gepäck in den Händen, das jetzt von anderen getragen wurde – den Kinderwagen schieben konnte, und irgendwann saßen wir dann mal im Zug Richtung Westen. »Saßen« ist hier das operative Wort, denn die längste Zeit stand dieser Zug auf den Gleisen und tat gar nichts; als wir losfuhren, war es bereits Nacht. Bis dahin hatten wir Haushalt gespielt: Mit Pappe und Papier war es meinem Vater gelungen, die scheibenlosen Fenster zu »schließen«, was die Temperatur von »grausam kalt« in »sehr kalt« verwandelte. Meine Aufgabe bestand darin, mit der großen Puppe zu spielen, denn ein weinendes oder schreiendes Baby war das letzte, was hier noch jemand brauchte – unnötig zu betonen, daß der Wagen immer voller wurde. Vorher jedoch hatte meine Mutter Windeln waschen müssen, natürlich in kaltem Wasser. Es gibt Gerüche, die man nie wieder vergißt: Zwei oder drei Rasierwasser erinnern mich an Männer, die mir gründlich den Kopf verdreht haben, und der Geruch von Salmiakgeist wird für mich auf ewig mit den in kaltem Wasser gewaschenen Windeln, die in einem fensterscheibenlosen, ungeheizten Waggon am 9. Januar 1946 auf einer Wäscheleine aufgehängt waren, verbunden sein. Aber das ist ja nicht so schlimm, denn wie oft habe ich im späteren Leben schon Gelegenheit gehabt, in die Nähe von Salmiakgeist zu kommen? Eben.

       Exkurs: Das starke Geschlecht

      Ich habe Sie von Anfang an gewarnt: Es wird Abschweifungen geben. Erinnerungen aus Kindertagen mischen sich mit Ereignissen, die später stattgefunden haben, und die Kombination gibt hie und da erhellende Erkenntnisse. Salmiakgeist war also verhältnismäßig leicht zu vergessen, Flüchtlingselend jedoch nicht. Drei Jahrzehnte später werde ich in einem ganz anderen Land die Aufmerksamkeit der Medien erregen durch mein Engagement für die Weiterbildung von Frauen. In den vielen Interviews, die diese Tätigkeit begleiten werden, wird es immer wieder die Urfrage geben: »Was hat Sie bewogen, sich so für Frauen einzusetzen?« Die volle Antwort darauf werden Sie dann im entsprechenden Kapitel finden, aber so viel sei vorweg gesagt: Ich habe sehr früh, noch im prägefähigen Alter, viele Beispiele von starken Frauen, allen voran natürlich das meiner Mutter, gesehen, und wenn ich heute am Fernseher die zahllosen Bilder von Kriegen, Stammesfehden, Krisenherden oder der Willkür von autoritären Regimen sehe, dann bestätigen sie das, was ich damals mehr als genug um mich herum wahrnehmen konnte: Wenn die Zeiten schlecht werden, sind sie es für Frauen und Kinder in doppeltem Maße. Wer immer noch Beweise dafür braucht, daß Frauen das starke Geschlecht sind, sollte sich mal damit auseinandersetzen, was sie in Kriegs-, Krisen- und Notzeiten aller Art für das schiere Überleben leisten, und das nicht nur für sie selbst, sondern zusätzlich für ihre Familien, zumindest für ihre Kinder.

      Ich schreibe dieses Kapitel nach dem 11. September 2001; bei CNN kann ich täglich die Entwicklungen in Afghanistan verfolgen. Was haben die Frauen in diesem Land nicht alles erleiden müssen unter den Taliban! Und dennoch haben so viele von ihnen, unter Lebensgefahr, für ihre Töchter privaten Schulunterricht organisiert, eine Untergrundbewegung gegründet, Medizin praktiziert und mit Würde ein menschenverachtendes Terrorsystem überlebt. Ihr Leiden ist jedoch alles andere als vorbei, solange sie noch zu den Flüchtlingen gehören.

      Es kann sich wohl niemand wirklich ein Bild davon machen, was die Bosnierinnen 1992 erlebt haben; die Brutalität der Vergewaltigungen hat mich zum ersten und einzigen Mal auf die Straße getrieben, als ich bei einem Schweigemarsch im Gedenken an ihre Leiden mitgelaufen bin. Ein paar Jahre später waren es die Frauen in Ruanda, und selbst in friedlichen Zeiten können viele Frauen in Afrika ihres Lebens nicht sicher sein. In manchen Dörfern ist die nächste Wasserstelle bis zu zehn Kilometer entfernt. Wasser holen ist Frauensache, und abgesehen von der Strapaze, täglich zweimal zehn Kilometer zu Fuß zu gehen, davon einmal mit einem vollen Behälter auf dem Kopf, sind sie in doppelter Gefahr: Entweder können sie unterwegs von wilden Tieren oder am Wasserloch von den dort wartenden Männern angefallen werden. Oder denken Sie an die Argentinierinnen und Chileninnen: Sie haben unter den brutalen Militärregimen in ihren Ländern zusätzlich zu den üblichen Foltermethoden auch noch die unvorstellbarsten Vergewaltigungen erdulden müssen.

      Die Trümmerfrauen – um wieder in die Zeit des zweiten Kapitels zurückzukehren –, die in ganz Deutschland, besonders aber in Berlin, Aufräumarbeit leisteten, waren genauso abgemagert und unterernährt wie die heimkehrenden Männer. Woher nur nahmen sie die Kraft, diese Schwerstarbeit zu verrichten? Durch das, was sie damit verdienten, wie mit dem, was sie bei den Aufräumarbeiten fanden und wiederverwenden konnten, ist es so vielen von ihnen gelungen, ihre Kinder durch eine der dunkelsten Perioden der deutschen Geschichte zu schleusen.

      Es sind solche Frauenschicksale, die bei mir einen starken Eindruck hinterlassen haben. Die Sichtweise der Männer, Frauen als schwaches Geschlecht zu klassieren, das vom angeblich starken beschützt, belächelt oder bemitleidet wird, war mir immer unverständlich. Ebenso wie die Tatsache, daß durch die Jahrhunderte hindurch so viele Frauen das mit sich haben machen lassen. Für mich waren sie immer die Stärkeren, und als ich Anfang der 70er Jahre etwas zu der aus meiner Sicht überfälligen Korrektur der Betrachtungsweise beitragen konnte, habe ich mich förmlich in diese Aufgabe gestürzt. Es schien mir nur fair, daß Frauen Chancengleichheit in der Bildung hatten und sich ihres hervorragenden Verstandes bedienen konnten. Und Fairneß, Gerechtigkeit, Chancengleichheit haben in meinem Leben immer zu den Konzepten gehört, die mein Handeln bestimmt haben. Aber kehren wir zurück zu dem Kind, das die ersten Stunden einer Freiheit erlebt, die es damals sicher noch nicht zu schätzen wußte ...

      In den frühen Morgenstunden des 10. Januar trafen wir in Duisburg, der Heimatstadt meines Vaters, ein. Zufällig lag der Bunker, in dem wir einquartiert wurden, genau gegenüber der Wohnung seiner Schwester. Leider war das auch gegenüber den Räumlichkeiten, die wir bald schon zugewiesen bekommen würden und die dann für fast ein Jahrzehnt unsere Bleibe wurden. So wurde meine Mutter jeden Tag ihres Duisburger Daseins an unseren Einzug in diese Stadt erinnert. Und das war nicht gerade wünschenswert.

      Desinfektion, Entlausung, Decken fassen für die Holzpritschen, ein Stück Brot und etwas Warmes zu trinken – und schon sah die Welt anders aus. Für mich jedenfalls, die die Kälte der Zugfahrt und den Geruch der Windeln hinter sich gelassen und die Begegnung mit ihrer Patentante unmittelbar vor sich hatte. Diese Patentante, Tante Änne, war eine der beiden Schwestern meines Vaters; daneben gab es noch einen Bruder, der sich jedoch frühzeitig von seiner reizenden Familie losgesagt und nach Amerika ausgewandert war. Ein Foto bezeugt, daß sie bei meiner Taufe dabei gewesen ist, zusammen mit dem Berliner Patenonkel, der traditionsgemäß der noch lebende Bruder meiner Mutter war. Während die nicht gerade schlanke Tante Änne besitzergreifend das Baby zum Fotografieren hinhält, steht Onkel Erwin etwas verlegen daneben. Ich vermute, daß beide offenbar nicht einmal einen Anfängerkurs im Pate-Sein genommen und einfach keine Ahnung von dieser Aufgabe und keinerlei Bezug dazu hatten. Wie sonst hätte die nun folgende Szene stattfinden können?

      Es war kurz nach sieben Uhr früh, als die vierköpfige Familie ihres Bruders vor der Türe ihrer bürgerlich-behaglichen Behausung stand. Ich gebe zu, daß es angenehmere Dinge gibt als solch einen Familienüberfall, aber freiwillig hätte diese Familie das ja nie getan. Tante Änne war gut verheiratet, mit einem höheren Beamten von äußerst schwacher Durchsetzungskraft, der das Familien-Management klaglos an seine tatkräftige Frau abgetreten hatte. Drei Söhne hatte er mit dieser Frau, alles Vorkriegsware, und aus irgendwelchen Gründen war er vom Krieg verschont geblieben. Selbst jetzt, 1946, ging es ihnen verhältnismäßig gut, wozu Luxusfaktoren wie Zentralheizung, Badezimmer und solide Chippendale-Möblierung ihren Teil beitrugen. Den Empfang herzlich zu nennen käme einer unverschämten