Christian Ludwig Attersee. Rainer Metzger

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Название Christian Ludwig Attersee
Автор произведения Rainer Metzger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783710604973



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nie nur zehn Schillinge von jemanden ausgeborgt, dafür war ich viel zu schüchtern. Durchgefüttert hat mich am Anfang lange die Hanni – die an ihn glaubte wie kaum jemand anderer.

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      Puppenkopf von Hanni Rühm. Zweite Hälfte der 1960er Jahre

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      Polster mit Stickereien und Applikationen von Hanni Rühm. Zweite Hälfte der 1960er Jahre

      „Komm mit nach Österreich“ (WV 1994, 41–49): Es ist eine Hommage zum Abschied, was Attersee im Oktober 1965 neunfach, der Zahl der Bundesländer entsprechend, zu Papier bringt. Komm mit, sagt er, doch er selbst ist in diesem Monat zusammen mit Hanni auf dem Weg nach Berlin. Als würde damit eine Fremdheit gebannt, ist die Folge als „Führer durch Österreich für Außerirdische“ gedacht, und damit die Gäste aus dem All es glauben, ist pro Blatt jeweils einer von ihnen abgebildet. Androiden und Aliens, Humanoide, Hybride und sonstwie extraterrestrisch anmutende Wesen zeigen sich, wie sie sich vor den malerischen Kulissen, die man an der Alpenrepublik so liebt, ergehen und wie sie sich mit ausgiebig vorgezeigten Geschlechtswerkzeugen an Schönheiten zu schaffen machen, Pin-ups im Bikini oder gleich nackt, in der Almwiese sich räkelnd oder heftig Widerstand leistend gegen das Ungetüm aus einer anderen Welt. Schloss Persenbeug in Niederösterreich und das Tal der Enns in der Steiermark, ein Heuriger in Wien, das Stift Sankt Florian in Oberösterreich, der Bregenzerwald, Saalbach und das Mölltal, die unendliche Tiefebene des Burgenlandes und die kühnen Mauern des Karwendels werden Zeugen einer unheimlichen Begegnung der dritten Art. Begleitet von Texten Gerhard Rühms ist „Komm mit nach Österreich“ eine Inversion der Collagen, wie sie bisher entstanden: Fotos, Titelseiten von damals gängigen Schundheften entnommen, liefern den Fond, denen der Künstler seine skurrilen Gestalten appliziert hat – Gestalten, die changieren zwischen femininer Appetitlichkeit und insektenhaft Ekeligem; Gestalten, die in Kaseinfarben aufgebracht wurden, deren Bindemittel aus Milcheiweiß hergestellt wird, als würde abermals vom Essen die Rede sein. Für den Künstler selbst steht die neunteilige Folge ganz unter seinem Lebensthema Erotik. In der „Taulocke“, der Anthologie mit Attersee-Texten, die 1992 erschienen ist, sind Überlegungen Zum Bereich Erotik innerhalb meiner künstlerischen Tätigkeit in den 60er, 70er und 80er Jahren nachzulesen. Darin heißt es zu „Komm mit nach Österreich“: Collagen aus Science-fiction-Illustrationen, Abbildungen von nackten Mädchen aus amerikanischen Magazinen und österreichische Landschaftsfotografien aus Bildkalendern, dazu Malerei, sind die Darstellungselemente dieses Reiseführers. Ein wichtiges Teilgebiet der Abbildungen dieses Führers ist die Darstellung der Geschlechtsmerkmale außerirdischer Wesen, immerhin werden sie im Körperkontakt mit Österreicherinnen gezeigt. Auch das am Rande ein Beitrag zum ewigen Thema der Pubertätszeit: Wie schaut eigentlich die Welt der Micky Maus zwischen den Beinen aus (Taulocke 1992, 13f.).

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      Schutzumschlag zu Attersees „Taulocke“. Wien: Christian Brandstätter Verlag 1992

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      „Oberösterreich, Stift St. Florian (Komm mit nach Österreich Nr. 4)“. 1965

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      „Niederösterreich, die Wachau (Komm mit nach Österreich Nr. 1)“. 1965

      „Komm mit nach Österreich“ ist darüber hinaus Attersees vielleicht prägnantester Beitrag zur Frage nach einer etwaigen nationalen Eigenart seiner Kunst. Wird man des Themas einmal gewahr, erkennt man die vielfältigsten Bezüge zur Topik des Österreichischen in seiner Arbeit. Dass die neunteilige Folge sich Vorlagen nimmt, die von der Tourismuswerbung kommen, ist offensichtlich: Österreich ist zuallererst das Image, das man von ihm hat und um das das Land selbst am eifrigsten bemüht ist. Österreich ist die Karte seiner Kulinarik, ist das Klischee vom Phäakischen, das schon in Goethes und Schillers Xenien am Ende des 18. Jahrhunderts besungen wird – „Mich umwohnt mit glänzendem Aug das Volk der Phajaken / Immer ist’s Sonntag, es dreht immer am Herd sich der Spieß“: Am Essen gebricht es in Attersees Motivwelt niemals. Österreich ist bis heute ganz bei sich im Sport und vor allem in seinen sportlichen Erfolgen, und auch hier liefert der Künstler genuine Beiträge zum nationalen Selbstbild. Dass die Zweimann-Schau, die er 1969 mit Walter Pichler in der Galerie nächst St. Stephan inszeniert, „Österreichs Stolz“ betitelt ist und im Jahr darauf ein Wahlplakat entsteht, in dem „ein echter Österreicher“ affichiert und angepriesen wird, versteht sich dann fast von selbst. Am einschlägigsten schließlich der Künstlername, Attersee, der viel mehr ist als ein Attribut, der ein Ort ist, ein Ort, bei dem das Topografische ins Topische übergeht.

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      „Steiermark, die Enns (Komm mit nach Österreich Nr. 2)“. 1965

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      „Kärnten, das Mölltal (Komm mit nach Österreich Nr. 5)“. 1965

      Der spielerische Einsatz von Signets des Nationalen gehört zum internationalen Stil der Sechziger. Ob Jasper Johns das Star-Spangled Banner, die Flagge der USA, zum Ausgangspunkt seiner Gemälde nimmt, um die Frage zu stellen, was ein Objekt ist und was eine Fläche; ob Andy Warhol sich ganz einschwört auf die Darstellung, die Huldigung der amerikanischen Heroen, heißen sie Elvis, Marilyn und Jackie oder Coca-Cola, Campbell’s und Green Back, die Dollarnote; und ob die Who, die britische Rock-Band mit dem aggressivsten Auftritt und dem dezidiertesten Appell zum Aufruhr, in der berühmt gewordenen Fotografie von Colin Jones den Union Jack hinter sich drapieren und auch noch Jacketts aus dem Stoff der königlichen Standarte tragen: Es ist ein Kennzeichen der Pop-Kultur, wie sie die Sechziger insgesamt prägt, locker-affirmativen Umgang zu pflegen mit den Images und Unverwechselbarkeiten, den Identifikationsangeboten und Etiketten der Alltagswelt. Attersee ist immer wieder als Pop-Künstler apostrophiert worden – und er wäre der einzige, den Österreich hervorgebracht hat. Immer wieder auch hat er sich dagegen verwahrt: Die Pop-Künstler finden, ich dagegen erfinde. Und doch sind es die eigene Unverwechselbarkeit und das eigene Image, die in den Arbeiten Mitte der Sechziger ausgebildet werden, und selbstverständlich nährt sich die ureigene künstlerische Sprache, die dabei greifbar wird, von Gesten, die dem Pop zumindest ähneln. Attersees Unverwechselbarkeit besteht in einer durchaus schrillen Sprache, die koketten Umgang pflegt mit dem Trivialen, dem Populären und dem ganz Innerweltlichen eines Lebens im Präsens – gegen den Rigorismus der literarischen Wiener Gruppe, gegen den Ritualismus des Wiener Aktionismus und gegen die pure Ausgedachtheit der Wiener Schule des Phantastischen Realismus.

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      „Salzburg, Saalbach (Komm mit nach Österreich Nr. 6)“. 1965

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      „Burgenland, Neusiedlersee (Komm mit nach Österreich Nr. 7)“. 1965

      Attersee findet zu künstlerischer Reife im Aufgreifen von Dingen, Formen und Vorstellungen, wie sie einer kollektiven Praxis und einem kollektiven Konsum entstammen, die sich in Geschichte und Gegenwart seines Landes entwickelt haben. Er findet zur Typik über die Topik. Dass es ganz generelle Bereiche sind, Pools des Vertrauten und Gebräuchlichen, in denen er sich bedient, gehört zur Logik der Aneignung. Es sind allgemeine, generelle, vernakuläre Erscheinungen, und sie werden gerade in dieser Selbstverständlichkeit engagiert, um sie zu atterseeisieren. Das betrifft auch die Tradition. Fünf Bedeutungsfelder hat Ernst Robert Curtius in seinem Klassiker zur abendländischen Kulturgeschichte – „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“, erstmals 1948 erschienen – abgezirkelt, bei denen man sich im Verlauf der Jahrhunderte besonders gern bedient hätte, um Metaphern zu finden, triftige Begriffe und malerische Bilder. Die fünf Felder