Christian Ludwig Attersee. Rainer Metzger

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Название Christian Ludwig Attersee
Автор произведения Rainer Metzger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783710604973



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angedeutet ist, wird nach und nach mit unappetitlichem Abfall aller Art beworfen, in durchlöcherte Nylonsäcke gehüllt, mit roten Gartenschläuchen verschnürt und zuletzt mit Brettern umgeben“ (zit. n. Loers/Schwarz 1988, 264). So gingen sie zu Werke, die Aktionisten, und was hier reportiert wird, gehört noch zu den harmloseren Manifestationen, zum Frühwerk gewissermaßen. 1958 hatten Rühm und Bayer ein Stück Lyrik erdacht, das mit den Zeilen „scheissen und brunzen / sind kunsten“ einsetzt – was in den Sechzigern bei Muehl und seinen Mitstreitern, zu denen man speziell Günter Brus, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler rechnen kann, zu gewahren ist, wäre die ganz buchstäbliche Umsetzung dieses Diktums in eine künstlerische Darbietung.

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      Das „2. literarische cabaret“ der Wiener Gruppe. In der Nummer „2 welten" zertrümmern Friedrich Achleitner und Gerhard Rühm ein Klavier auf der Bühne im Wiener Porrhaus. 1959. Fotografie von Franz Hubmann

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      Szenenbild aus der „kinderoper“ mit Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und Konrad Bayer. 1964. Fotografie von Franz Hubmann

      Der Wiener Aktionismus ist eine perfekte Demonstration in Selbstüberbietung, bei der sich das vollkommene Unverständnis der Öffentlichkeit und die Permissivität, die in den Sechzigern mit jedem Jahr zunimmt, in einem Mechanismus der Radikalisierung gegenseitig, man könnte sagen, anfeuern. Die seriöserweise ambitionierten Ideen des Aktionismus – die Frage nach dem Dionysischen, nach Exzess und Verausgabung, etwa bei Nitsch, oder die vom Expressionismus eines Oskar Kokoschka abgeleitete Herausstellung von Fleisch und Exkrementen bei Muehl oder Brus – stoßen auf die strikteste Ablehnung bei allen, die nicht selbst zum Zirkel gehören. Die einmal erlebte Ablehnung wird in bester avantgardistischer Manier zur Raison d’Être und zum Motor der folgenden Auftritte, die diese Erfahrung des Scheiterns bereits eingebaut haben und sie als Prämisse nehmen für die Selffulfilling Prophecy des nächsten Skandals. Bis heute ist Attersee mit Nitsch und Brus sehr gut befreundet, er hat diverse Gemeinschaftsarbeiten mit ihnen ins Werk gesetzt, er war und ist Bestandteil dieser aufsehenerregendsten aller künstlerischen Bewegungen nicht nur Wiens, sondern man darf sagen, weltweit. Mit einem eigenen Auftritt beteiligt war Attersee – mit einer Ausnahme, auf die wir selbstverständlich zurückkommen – an den Darbietungen nicht.

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      Katalogumschlag zu Rudolf Schwarzkoglers Ausstellung in der Galerie nächst St. Stephan in Wien. 1970

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      Friedl Muehl, Hermann Nitsch, Otto Muehl, Eva Nitsch, Ingrid und Oswald Wiener (mit dem Kreuz), Kurt Kren, Anni und Günter Brus. 1966

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      Renovierungsarbeiten im ersten Atelier Attersees im 9. Wiener Bezirk. Stehend Horst Ludwig. 1964

      Was das für eine Gesellschaft war, in der und gegen die eine Kunst von solch ausgreifender Fasson entstand, lässt sich an einem Ereignis von März 1963 ersehen. Es hatte ein Mord stattgefunden, eine elfjährige Ballettschülerin, die an der Oper tanzte, war im ehrwürdigen Haus am Ring erstochen worden. Verdächtige wurden verhört, und so kam es zu einer ganz unfreiwilligen Gemeinsamkeit von Wiener Gruppe und Aktionisten, als man zum einen Artmann und Rühm und zum anderen Muehl und Nitsch bei der Polizei vorlud. Sie hatten sich nichts zuschulden kommen lassen, außer, dass sie eine Ästhetik der Grausamkeit, des Exzesses oder der Obsessivität vertraten, als Künstler wohlgemerkt, nicht als Bürger. In einer notorischen Vorstellung einer Einheit von Kunst und Leben, die das Spießertum immer dann pflegt, wenn sie ihm im Zirkelschluss vom einen auf das andere Empörung, Verdacht oder gleich Schuldzuweisung gestattet, waren die vier ins Visier geraten. Es wurden auch andere auf ihr Alibi hin befragt. Was die vielen anderen aber nicht hatten, war eine Schlagzeile wie „Die Blutorgel-Maler brauchen Alibi“. Gerhard Rühm durfte zudem Folgendes von sich in der Zeitung lesen: „Die Kriminalisten hatten einen Hinweis erhalten, daß der Wiener Lyriker (…) in einem Gedicht die Erregung eines Triebmörders nachempfindet. Da auch der Sexualmörder am Abend in die Stadt geht und dort sein Opfer durch Messerstiche tötet, schienen dem Anzeiger gewisse Parallelen zum Opernmord gegeben“ (zit. n. Weibel 1997, 732). Kunst tritt auf den Plan, wenn sie als Anlass zur Denunziation taugt. Kultur und Öffentlichkeit hatten sich in der Tat noch nicht, wie es später der Fall sein wird, miteinander geeinigt.

      Nach geraumer Suche hatte sich für Christian eben in Wien ein Ort zum Arbeiten und zu einem Leben zu zweit mit Hanni aufgetan. Irgendwann zwischen 1963 und 1964 habe ich dieses Loch gefunden, das ich bewohnbar gemacht habe, mit Sand und ein paar Holzbrettern. In der Boltzmanngasse im neunten Bezirk lagen im ersten Stock diese nicht eben heimeligen Räumlichkeiten. Ursprünglich hatte die Lokalität als Atelier für den Hoffotografen von Kaiser Franz Joseph gedient, wobei er seine fahrbaren Apparaturen auf fest im Boden verankerten Schienen bewegen konnte. Nun wurde der Zwischenraum mit Sand aufgefüllt, der die Feuchtigkeit des Bodens regulieren sollte, und das ganze mit Brettern bedeckt. Ein Atelier mit einfachen Fenstern. Es war schwierig, aber für mich halt mein Platz. Es war ein rechtes Provisorium, man hauste, und es war so ungemütlich, dass der junge Künstler immer wieder nach Linz aufbrach, ins Elternhaus, heim, wie man es macht, wenn es einem anderswo unheimelig oder gar unheimlich wird. Ein Gutteil der Wetterbilder aus 1964 ist daher in Oberösterreich entstanden. Mit den Jahren sollte aus der Bude dann doch ein halbwegs gemütliches Wohnatelier werden. Aufnahmen aus der Zeit zeigen ein wohlgeordnetes Kunterbunt an ausgestopften Tieren, kunstvoll bestickten Kissen, diversen Pokalen aus der Seglerzeit, Spielautomaten vom Prater, und selbstverständlich gehörten ein Klavier und Schallplatten samt Anlage schon damals zum Arrangement. Zu einer Existenz als Bohemien trug auch bei, dass sich das Etablissement eher nicht heizen ließ. „Was haben wir geschlottert“, erinnert sich Hanni, „manchmal sind wir bis zwei am Nachmittag im Bett geblieben, weil es so kalt war.“ Hanni erwies sich als geschickt im Nähen und finanzierte die Zweisamkeit vorerst mit dem Verkauf von Selbstgefertigtem wie Kleidung, Puppen oder Kissen, die mit ihren ironischen Motiven heute als genderbewegte Konzeptkunst durchaus erfolgreich wären.

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      Hermann Nitsch und Christian Ludwig Attersee beim „6-Tage-Spiel“ auf Schloss Prinzendorf. 1998. Fotografie von Kurt-Michael Westermann

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      Renovierungsarbeiten im ersten Atelier Attersees im 9. Wiener Bezirk. 1964

      Auch Christian hätte gerne das Seinige zum Haushaltsbudget beigetragen, allerdings war er dabei von Anfang an eher glücklos. 1958, noch als Jugendlicher, hätte er es beinahe zu einem Auftritt als Minnesänger in „Das Wirtshaus im Spessart“ gebracht, der deutschen Filmkomödie, in der Lilo Pulver in einer Hosenrolle brilliert; beinahe, denn der Cameo fiel dem Schnitt zum Opfer. Später musste dann ein Job in Linz als Kameramann für die Sportberichterstattung schnell wieder aufgegeben werden, denn das trinkfreudige Team benötigte nicht nur jemanden hinter der Kamera, sondern auch jemanden, der nüchtern hinter dem Steuer saß. Nüchternheit wäre sich womöglich, wie man in Österreich sagt, ausgegangen, doch hinderte die filmische Karriere das Fehlen eines Führerscheines. Wie so viele seiner Kollegen und Künstlerfreunde, von Walter Pichler über Hermann Nitsch bis Martin Kippenberger, erfreut sich Attersee eines Daseins ohne Fahrerlaubnis – bis heute, und man hat nicht den Eindruck, als wäre ihm das ein Manko. Der nach dem Studium angegangene Versuch, ein Messeplakat zu gestalten, scheiterte an den Auftraggebern, denen das vom Künstler ins Auge gefasste Motiv, eine Affe, deutlich missfiel. Ein medizinischer Versuch, für den er sich hergegeben hatte, missfiel wiederum dem Künstler. Zum Auspumpen des Mageninhaltes sollte der Proband einen Schlauch schlucken, der indes an der Speiseröhre haften blieb. Mit leerem Magen und verletzten Schlund wollte der Patient im Anschluss an das Experiment seinen Hunger stillen –