wird in Frage gestellt durch die ausgangslose Verzweiflung, die das letzte Wort des säkularisierten christlichen Dramas sein zu müssen scheint. Denn niemand wird die stoische Moralität, in welche das Martyrium des Helden mündet, oder die Gerechtigkeit, die das Wüten der Tyrannen auf Wahnsinn hinausführt, für ausreichend erachten, die Spannung einer eigenen Dramenwölbung zu begründen. Eine massive Schicht von ornamentaler, wahrhaft barocker Stukkatur verdeckt ihren Schlüsselstein und einzig die präzise Erforschung ihrer Bogenspannung errechnet ihn. Es ist die Spannung einer heilsgeschichtlichen Frage, wie die Säkularisierung des Mysterienspiels, die nicht unter den Protestanten der schlesischen und nürnberger Schule allein, sondern genau so unter den Jesuiten und Calderon sich vollzog, ins Ungemessene sie sich dehnen ließ. Denn wenn die Verweltlichung der Gegenreformation in beiden Konfessionen sich durchsetzte, so verloren darum nirgends die religiösen Anliegen ihr Gewicht: nur die religiöse Lösung war es, die das Jahrhundert ihnen versagte, um an deren Stelle eine weltliche ihnen abzufordern oder aufzuzwingen. Unter dem Joch dieses Zwanges, dem Stachel jener Forderung durchlitten diese Geschlechter ihre Konflikte. Von allen im tiefsten zerrissenen und zwiespältigen Zeiten der europäischen Geschichte ist das Barock die einzige, die in eine Periode unerschütterter Herrschaft des Christentums fiel. Die mittelalterliche Straße der Empörung, die Häresie, war ihr verstellt; teils eben weil das Christentum mit Nachdruck die Autorität behauptete, vor allem jedoch, weil in den heterodoxen Nuancen der Lehrmeinung und Lebensführung die Inbrunst eines weltlich neuen Willens auch nicht entfernt zum Ausdruck kommen konnte. Da dergestalt nicht Rebellion noch Unterwerfung religiös vollziehbar war, richtete sich die gesammelte Kraft der Epoche auf eine gänzliche Umwälzung des Lebensgehaltes unter orthodoxer Wahrung der kirchlichen Formen. Das mußte dahin führen, den eigentlichen, unmittelbaren Ausdruck den Menschen allerwege zu verlegen. Denn dieser hätte auf die unzweideutige Bekundung des epochalen Willens und auf eben jene Auseinandersetzung mit dem christlichen Leben geführt, der später die Romantik unterlag. Und man umging sie ebenso im positiven wie im negativen Sinne. Denn eine geistige Verfassung herrschte, die, so exzentrisch sie die Akte der Verzückung zu erheben wußte, in ihnen weniger die Welt verklärt, als einen Wolkenhimmel über ihre Fläche streichen ließ. Die Maler der Renaissance wissen den Himmel hoch zu halten, in den Gemälden des Barock bewegt die Wolke sich dunkel oder strahlend auf die Erde zu. Nicht als irreligiöses heidnisches Zeitalter – als eine Spanne laienhafter Freiheit des Glaubenslebens erscheint die Renaissance gegen das Barock, während der hierarchische Zug des Mittelalters mit der Gegenreformation seine Herrschaft in einer Welt antritt, der der unmittelbare Weg ins Jenseits versagt war. Burdachs neue, gegen die Burckhardtschen Vorurteile gerichtete Bestimmung von Renaissance und Reformation rückt per contrarium diese entscheidenden Züge der Gegenreformation erst ins rechte Licht. Nichts war ihr ferner als Erwartung einer Endzeit, ja auch nur eines Zeitenumschwungs, wie sie als Kraft der Renaissancebewegung durch Burdach sichtbar geworden sind. Ihr geschichtsphilosophisches Ideal war die Akme: ein goldenes Zeitalter des Friedens und der Künste, dem alle apokalyptischen Züge fremd sind, verfaßt und in aeternum garantiert durchs Schwert der Kirche. Bis in die überlebende geistliche Dramatik erstreckt sich der Einfluß dieser Gesinnung. So nehmen die Jesuiten »nicht mehr das ganze Heilsdrama zum Vorwurf, immer seltener auch die Passion, sie greifen lieber zu Stoffen des Alten Testamentes und drücken ihre missionarische Absicht besser aus in der Heiligenlegende«.
404 Offenkundiger mußte das profane Drama von der Geschichtsphilosophie der Restauration betroffen werden. Es stand historischen Stoffen gegenüber – die Initiative von Dichtern, die wie Gryphius das aktuale Geschehen, wie Lohenstein und Hallmann Haupt- und Staatsaktionen des Ostens zum Vorwurf nahmen, war gewaltig. Gebannt aber blieben diese Versuche von vornherein in eine strenge Immanenz und ohne Ausblick auf das Jenseits der Mysterien, in der Entfaltung ihres gewiß reichen Apparates auf die Darstellung von Geistererscheinungen und Herrscherapotheosen beschränkt. In dieser Beklemmung erwuchs das deutsche Barockdrama. Was Wunder, daß es in verschrobener, darum jedoch nur intensiverer Form geschah. Vom deutschen Drama der Renaissance lebte fast nichts in ihm weiter; der temperierten Munterkeit, der moralistischen Schlichtheit dieser Stücke hatten schon Opitz’ »Troerinnen« abgesagt. Artistischen Wert und metaphysisches Gewicht hätten Gryphius und Lohenstein von ihren Dramen noch weit nachdrücklicher beansprucht, wenn nicht jedwede Unterstreichung des Metiers, von Widmungen und Lobgedichten abgesehen, verpönt gewesen wäre.
Die werdende Formensprache des Trauerspiels kann durchweg als Entfaltung der kontemplativen Notwendigkeiten gelten, die in der theologischen Situation der Epoche beschlossen liegen. Und deren eine, wie der Ausfall aller Eschatologie sie mit sich bringt, ist der Versuch, Trost im Verzicht auf einen Gnadenstand im Rückfall auf den bloßen Schöpfungsstand zu finden. Hier wie in anderen Lebenssphären des Barock ist die Umsetzung der ursprünglich zeitlichen Daten in eine räumliche Uneigentlichkeit und Simultaneität bestimmend. Sie führt tief ins Gefüge dieser Dramenform hinein. Wo das Mittelalter die Hinfälligkeit des Weltgeschehens und die Vergänglichkeit der Kreatur als Stationen des Heilswegs zur Schau stellt, vergräbt das deutsche Trauerspiel sich ganz in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung. Kennt es eine Erlösung, so liegt sie mehr in der Tiefe dieser Verhängnisse selbst als im Vollzuge eines göttlichen Heilsplans. Die Abkehr von der Eschatologie der geistlichen Spiele kennzeichnet das neue Drama in ganz Europa; nichtsdestoweniger ist die besinnungslose Flucht in eine unbegnadete Natur spezifisch deutsch. Denn Spaniens Drama – das höchste jenes europäischen Theaters – in welchem die barocken Züge so viel glänzender, so viel markanter, so viel glücklicher sich im katholisch kultivierten Land entfalten, löst die Konflikte eines gnadenlosen Schöpfungsstandes gewissermaßen spielerisch verkleinert im höfischen Umkreise eines als säkularisierte Heilsgewalt sich erweisenden Königtums. Die stretta des dritten Aktes mit ihrem indirekten gleichsam spiegel-, kristall- oder marionettenhaften Einschluß der Transzendenz verbürgt dem Calderonschen Drama einen Ausgang, der deutschen Trauerspielen überlegen ist. Es kann den Anspruch, an den Gehalt des Daseins zu rühren, nicht verleugnen. Wenn dennoch das weltliche Drama an der Grenze der Transzendenz innehalten muß, sucht es auf Umwegen, spielhaft, ihrer sich zu vergewissern. Nirgends ist das deutlicher als im »Leben ein Traum«, wo es im Grunde eine dem Mysterium adäquate Ganzheit ist, in der der Traum als Himmel waches Leben überwölbt. Sittlichkeit ist in ihm zuständig: »Doch sey’s Traum, sey’s Wahrheit eben: | Recht thun muß ich; war’ es Wahrheit, | Deßhalb, weil sie’s ist; und wär’ es | Traum, um Freunde zu gewinnen, | Wenn die Zeit uns wird erwecken.«405 Nirgend anders als bei Calderon wäre denn auch die vollendete Kunstform des barocken Trauerspiels zu studieren. Nicht zum wenigsten die Genauigkeit, mit der ›Trauer‹ und ›Spiel‹ aufeinander sich stimmen können, macht seine Geltung – Geltung des Worts wie die des Gegenstandes – aus. – Die Geschichte des Spielbegriffs in der deutschen Ästhetik kennt drei Perioden: Barock, Klassik, Romantik. Ist es dabei dem ersten überwiegend ums Produkt, so ist’s der zweiten um die Produktion zu tun; der dritten um beides. Die Anschauung des Lebens selbst als eines Spiels, die a fortiori so das Kunstwerk nennen muß, ist der Klassik fremd. Schillers Theorie des Spieltriebs hatte es auf die Entstehung und Wirkung der Kunst abgesehen, nicht auf die Struktur ihrer Werke. ›Heiter‹ können sie sein, wo das Leben ›ernst‹ ist, spielerisch aber nur sich darstellen, wo auch das Leben vor einer auf das Unbedingte gerichteten Intensität seinen letzten Ernst verloren hat. Das ist, in wie verschiedener Weise auch immer, für Barock und Romantik der Fall gewesen. Und zwar für beide derart, daß in den Formen und Stoffen weltlicher Kunstübung diese Intensität ihren Ausdruck sich zu schaffen hatte. Ostentativ betonte sie das Spielmoment im Drama und ließ nur weltlich verkleidet als Spiel im Spiel die Transzendenz zu ihrem letzten Worte kommen. Nicht immer ist die Technik offenkundig, indem die Bühne selber auf der Bühne aufgeschlagen oder gar der Zuschauer-Raum in den der Bühne einbezogen wird. Doch stets liegt nur in einer paradoxen Reflexion von Spiel und Schein für das eben damit ›romantische‹ Theater der profanen Gesellschaft die heilende und lösende Instanz. Jene Absichtlichkeit, von der Goethe gesagt hat, daß ihr Schein jedem Kunstwerk eigne, zerstreut im idealen romantischen Trauerspiel des Calderon die Trauer. Denn in der Machination hat die neue Bühne den Gott. Für die barocken Trauerspiele der Deutschen ist es kennzeichnend, daß jenes Spiel in ihnen nicht mit dem Glänze der spanischen noch mit der Durchtriebenheit der späteren romantischen Produktionen sich abrollt. Das Motiv, von dem die stärksten Prägungen die Lyrik des Andreas Gryphius fand, haben sie dennoch. Nachhaltig ist es von Lohenstein in der Widmung zur »Sophonisbe«