Название | Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke |
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Автор произведения | Walter Benjamin |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9789176377444 |
»Die Tragödie ist an der majestet dem Heroischen gedichte genieße / ohne das sie selten leidet/ das man geringen Standes personen und schlechte sachen einführe: weil sie nur von königlichem willen/ todschlägen/ verzweiffelungen/ kinder und vätermörden / brande/ blutschanden/ kriege und auffruhr/ klagen/ heulen/ seuffzten und dergleichen handelt.«357 Diese Definition mag der moderne Ästhetiker zunächst allzu hoch aus dem Grunde nicht schätzen wollen, weil sie nur eine Umschreibung des tragischen Stoffkreises zu sein scheint. Und so ist sie denn nie als bedeutsam gewertet worden. Indessen jener Schein trügt. Opitz spricht es nicht aus – ist es doch seiner Zeit das Selbstverständliche –, daß die genannten Vorfälle nicht so sehr Stoff als Kern der Kunst im Trauerspiele sind. Das geschichtliche Leben wie es jene Epoche sich darstellte ist sein Gehalt, sein wahrer Gegenstand. Es unterscheidet sich darin von der Tragödie. Denn deren Gegenstand ist nicht Geschichte, sondern Mythos, und die tragische Stellung wird den dramatis personae nicht durch den Stand – das absolute Königtum – sondern durch die vorgeschichtliche Epoche ihres Daseins – vergangenes Heroentum – angewiesen. Im Sinn des Opitz ist es nicht die Auseinandersetzung mit Gott und Schicksal, die Vergegenwärtigung einer uralten Vergangenheit, die Schlüssel des lebendigen Volkstums ist, sondern die Bewährung der fürstlichen Tugenden, die Darstellung der fürstlichen Laster, die Einsicht in den diplomatischen Betrieb und die Handhabung aller politischen Machinationen, welche den Monarchen zur Hauptperson des Trauerspiels bestimmt. Der Souverän als erster Exponent der Geschichte ist nahe daran für ihre Verkörperung zu gelten. Auf primitive Weise kommt der Anteil am aktuellen welthistorischen Verlauf in der Poetik allenthalben zu Worte. »Wer Tragödien schreiben wil«, heißt es in Rists »Alleredelster Belustigung«, »muß in Historien oder Geschicht-Büchern so wol der Alten/ als Neuen/ trefflich seyn beschlagen/ er muß die Welt- und Staats-Händel/ als worinn die eigentliche Politica bestehet / gründlich wissen … wissen/ wie einem Könige oder Fürsten zu muthe sey/ so wol zu Krieges- als Friedens-Zeiten/ wie man Land und Leute regieren/ bey dem Regiment sich erhalten / allen schädlichen Rathschlägen steuren/ was man für Griffe müsse gebrauchen/ wann man sich ins Regiment dringen/ andere verjagen/ ja wol gar auß dem Wege räumen wolle. In Summa/ die Regier-Kunst muß er so fertig/ als seine Mutter-Sprache verstehen.«358 Man glaubte, im geschichtlichen Ablauf selbst das Trauerspiel mit Händen zu greifen; es bedürfe nichts weiter als die Worte zu finden. Und selbst in diesem Verfahren wollte man sich nicht frei fühlen. Mag auch Haugwitz der unbegabteste unter den Autoren barocker Trauerspiele, ja schlechtweg und als der einzige wirklich unbegabt gewesen sein, so hieße es doch die Technik des Trauerspiels verkennen, wollte man ein Zeugnis in den Noten zur »Maria Stuarda« einem Mangel an Können zuschreiben. Dort beklagt er, bei Abfassung des Werks nur eine Quelle – des Franziscus Erasmus »Hohen Trauersaal« – zur Hand gehabt zu haben, so daß er sich »an deß Übersetzers deß Francisci Worte allzusehr habe binden müssen«.359 Dieselbe Einstellung führt bei Lohenstein zum Corpus der Anmerkungen, das mit dem der Dramen an Umfang wetteifert, und im Beschlüsse derer zum »Papinian« bei Gryphius, dem auch hier an Geist und Prägung überlegenen, zu den Worten: »Und so viel vor diesesmal. Warum aber so viel? Gelehreten wird dieses umsonst geschrieben, ungelehrten ist es noch zu wenig.«360 – Wie die Benennung ›tragisch‹ heutzutag so und mit mehr Recht – galt das Wort ›Trauerspiel‹ im XVII. Jahrhundert vom Drama und historischen Geschehen gleichermaßen. Sogar der Stil bezeugt, wie nahe sich im zeitgenössischen Bewußtsein beide standen. Was man als Bombast in den Bühnenwerken zu verwerfen pflegt – in vielen Fällen ließe es sich besser nicht als mit den Worten beschreiben, in denen Erdmannsdörffer den Ton der historischen Quellen in jenen Jahrzehnten kennzeichnet: »In allen Schriftstücken, die von Krieg und Kriegsnoth sprechen, gewahrt man eine zur stehenden Manier gewordene Überschwänglichkeit fast winselnder Klagetöne; eine fortwährend, so zu sagen, händeringende Ausdrucksweise ist allgemein gebräuchlich geworden. Während das Elend, so groß es war, doch seine wechselnden Grade hatte, kennt für die Beschreibung desselben das Schriftthum der Zeit fast keine Nüancen.«361 Die radikale Konsequenz der Angleichung der theatralischen an die historische Szenerie wäre gewesen, daß für das Dichten selbst vor allen andern der Mandatar historischen Vollzuges selber wäre aufgerufen worden. So beginnt denn Opitz die Vorrede der »Troerinnen«: »Trawerspiele tichten ist vorzeiten Keyser/ Fürsten/ grosser Helden wnd Weltweiser Leute thun gewesen. Aus dieser zahl haben Julius Cesar in seiner Jugend den Oedipus/ Augustus den Achilles wnd Ajax/ Mecenas den Prometheus/ Cassius Serverus Parmensis, Pomponius Secundus/ Nero wnd andere sonsten was dergleichen vor sich genommen.«362 Klai folgt Opitz und meint »es sei unschwer zu erweisen, wie selbst das Trauerspieldichten nur der Kaiser, Fürsten, großer Helden und Weltweisen, nicht aber schlechter Leute Thun gewesen«.363 Ohne gerade so sich zu versteigen hat auch Harsdörffer, Klais Freund und Lehrer, in einem etwas nebelhaften Schematismus der Entsprechungen von Stand und Form – bei dem man ebensowohl an den Gegenstand wie an den Leser, an den Akteur wie an den Autor denken mag – unter den Ständen dem bäurischen das Schäferspiel, dem bürgerlichen das Lustspiel, dem fürstlichen jedoch nebst dem Roman das Trauerspiel gewidmet. Die umgekehrte Folgerung aus diesen Theorien fiel doch bei weitem noch skurriler aus. Die Staatsintrige spielte in den literarischen Konflikt; Hunold und Wernicke bezichtigen bei den Königen von Spanien beziehungsweise von England sich gegenseitig.
Der Souverän repräsentiert die Geschichte. Er hält das historische Geschehen in der Hand wie ein Szepter. Diese Auffassung ist alles andere als ein Privileg der Theatraliker. Staatsrechtliche Gedanken liegen ihr zugrunde. In einer letzten Auseinandersetzung mit den juristischen Lehren des Mittelalters bildete sich im XVII. Jahrhundert