Die Familie Lüderitz. Paul Enck

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Название Die Familie Lüderitz
Автор произведения Paul Enck
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783873222984



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      Während die Reichsregierung in Berlin wenig Grund zur Beschwerde gegen das französische Vorgehen sah, führten die Casablanca-Deutschen unter der Führung von zwei Kaufleuten, Carl Ficke und Reinhard Mannesmann, lautstark Klage. Zum einen forderten sie eine sofortige Abschlagszahlung auf die zu erwartenden Entschädigungszahlungen für ihre Schäden durch das Reich, zum anderen kämpften sie um die „richtige“ Interpretation der Ereignisse, nämlich dass die Beschießung überflüssig und wohl mehr der Absicht Frankreichs geschuldet gewesen sei, einen weiteren Teil Marokkos zu besetzen.

      Während die Herren nach Berlin reisten, um dem Staatssekretär des Äußeren ihren Standpunkt zu erläutern und um die Marokko-Interessenten zu mobilisieren, gelang es Konsul Lüderitz nicht, die Casablanca-Deutschen zu beruhigen und zur Mäßigung in ihrer Kritik fast mehr an der eigenen Regierung als an Frankreich zu bewegen. Er machte sich in seinen Berichten eher deren Auffassung zu eigen, dass die Casablanca-Deutschen der Hilfe bedürften, da infolge des Bombardements die Geschäfte stagnierten. Die Weiterleitung einer scharfen Eingabe des Kaufmanns Carl Ficke verweigerte er jedoch und gab sie dem Urheber zurück.

      Die Legionärsaffäre

      Auch in der Legionärsaffäre wurde es für Konsul Lüderitz zum Problem, dass seine Regierung in Berlin kein Interesse an einer Eskalation hatte. Nach dem Bombardement von Casablanca hatten die Franzosen größere Truppeneinheiten zur „Pazifizierung“ des Hinterlandes stationiert, darunter zwei Regimenter der Fremdenlegion. Diese sollen zu 45 % aus Elsass-Lothringern und 12 % aus Deutschen bestanden haben, zusammen 500 bis 600 Mann. Könnten diese zur Desertion verleitet werden, würde das die militärische Stärke der Franzosen empfindlich beeinträchtigen und ihrem Image schaden. Nach französischen Angaben wurden von August 1907 bis September 1908 217 Fälle von Desertion gezählt, darunter etwa die Hälfte von Deutschen. Es war eine der größten Massenfluchten in der Geschichte der Legion.

      Erdacht und organisiert wurde das Ganze von dem Journalisten Heinrich Sievers, der Spanien-Korrespondent verschiedener Zeitungen und Nachrichtenagenturen war. Die Legionäre wurden in Bars und Cafés angesprochen, versteckt und in kleinen Gruppen nach Rabat geschleust, von wo sie mit deutschen Dampfern nach Deutschland gebracht wurden.

      Die Deutsche Marokko-Zeitung berichtete fast wöchentlich triumphierend über die Zahl der Heimgeschafften und rief die Deutschen in Marokko auf, Geld und Kleidung zu spenden, was diese aus patriotischer Selbstverpflichtung auch taten. Die Franzosen konnten dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen und versuchten, vorübergehend mit Erfolg, den Weg nach Rabat zu versperren.

      Im September 1908 versuchte Sievers, sechs weitere Deserteure in Casa­blanca unter den Augen der Franzosen auszuschleusen. Obwohl es letztlich seine Privataktion war, brauchte er die Hilfe des Konsulats.

      Am 25. September führte er die Deserteure in Begleitung des Konsulatssekretärs Max Just von ihrem Versteck auf Umwegen zum Hafen. Dort wurden die Deserteure von Soldaten der Hafenwache erkannt und es kam zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, wobei ein Revolver gezogen, der Spazierstock des Konsulatssekretärs zerbrochen und der marokkanische Konsulatssoldat verletzt wurde.

      Kein Krieg wegen Lüderitz

      Die politischen Aufwallungen waren enorm – in Casablanca wie in der Presse im Reich wie in Frankreich. Und Lüderitz saß, wie sich bald zeigen sollte, zwischen den Stühlen. Er hatte die eigenmächtige Privataktion von Sievers nicht nur gedeckt, sondern aktiv daran mitgewirkt. Zum politischen und völkerrechtlichen Problem für Lüderitz wurde, dass er einen Passierschein unterschrieben hatte, der den Franzosen in die Hände gefallen war. Dieser war für sechs Personen ausgestellt, obwohl sich nur drei Deutsche unter den Deserteuren befanden. Wider besseres Wissen ließ sich Lüderitz von dem politischen Anführer der Casablanca-Deutschen, Carl Ficke, der von der Aktion selbst wenig gehalten hatte, zu der Behauptung überreden, es habe sich unter den sechs „nicht ein einziger Nicht-Deutscher“ befunden.

      Lüderitz, der zugeben musste, die Deserteure in ihrem Versteck besucht zu haben, wurde von seinem Konsulatssekretär so weit entlastet, als dieser eingestand, die ursprüngliche Zahl von drei auf sechs eigenmächtig erhöht und die Worte „deutscher Nationalität“ gestrichen zu haben, was Lüderitz bei der Unterschrift übersehen habe. Das mochte dem Eindruck der Briten und Franzosen entsprochen haben, die Lüderitz ein „relativ moderates“ und freundliches Verhalten attestierten, wohingegen sein Sekretär Just ein „sehr aktives Mitglied“ der anti-französischen Gruppierung in Casablanca gewesen sei.

      Die Erregung der jeweiligen nationalen Presse war so enorm, dass in Frankreich wie in Großbritannien die Befürchtung geäußert wurde, es könne zum Krieg kommen. In der Tat hatte sich die Reichsregierung auf den „Ehrenstandpunkt“ gestellt, dass die „Gewalttätigkeit“ gegen einen Konsularbeamten nicht hingenommen werden könne. Die Öffentlichkeit werde diese Verletzung der „nationalen Ehre“ nicht akzeptieren. Diese Haltung änderte sich schlagartig, als der französische Untersuchungsbericht in Berlin vorlag. Der Kaiser hatte ohnehin ein Einlenken verlangt.

      Jetzt verständigten sich beide Regierungen, das Schiedsgericht in Den Haag anzurufen. Das fällte am 22. Mai 1909 sein Urteil: Lüderitz hätte den Passierschein nicht für sechs Deserteure ausstellen dürfen; er habe aber einen „unbeabsichtigten Fehler“ gemacht, als er ihn unterschrieb, „ohne ihn zu lesen“, wie er in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hatte. Im Übrigen lautete das salomonische Urteil, die Deserteure hätten dem Konsulatssekretär nicht gewaltsam entrissen werden dürfen, Frankreich müsse diese aber nicht zurückgeben.

      Der Gesandte von Wangenheim, der während der Legionärsaffäre in Tanger war, sagte in dem Zusammenhang, Hermann sei ein „außerordentlich tüchtiger und zuverlässiger Beamter“, habe aber den Fehler gemacht, den Passierschein zu unterschreiben. Wangenheim war der Überzeugung, „daß aus Marokko schließlich doch der Krieg kommen [müsse]“. Aber der Casa­blanca-Zwischenfall sei dafür nicht geeignet. „Wir haben darin nicht ganz reine Papiere durch die Dummheit des Konsuls, der aus lauter Vorsicht alles verdorben hat“ (10). Also: kein Weltkrieg wegen Lüderitz. Durch seine Dummheit.

      Die Affäre endete, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz genommen hätte. Die „Zweite Marokkokrise“ fand erst einmal nicht statt. Da die Konflikte zwischen den Großmächten jedoch fortbestanden, kam es letztendlich 1911 doch zur Zweiten Marokkokrise (1), allerdings ohne Beteiligung von Konsul Lüderitz.

      Krankheit und Rückkehr nach Deutschland

      Hermann Lüderitz war zur Zeit der Legionärsaffäre bereits schwer krank. Am 11. Dezember 1908 erhielt er auf Antrag acht Tage Urlaub wegen Krankheit. In dieser Zeit wurde er offenbar von Dr. Dobbert in Casablanca untersucht, der bei ihm eine „schwere Gallenblasenentzündung mit wiederholten Anfällen akuter Herzschwäche“ diagnostizierte. Gustav Adolph Dobbert (1853 – 1914) war von 1880 bis 1889 praktizierender Arzt in Casablanca und kehrte nach einem Aufenthalt in Hamburg 1902 nach Marokko zurück. Er war medizinischer Berater für Versicherungen, hatte aber gleichzeitig größeren Grundbesitz in Marokko (1).

      In einem Telegramm an das Auswärtige Amt schlug der Gesandte in Tanger, Friedrich Rosen, am 21. Dezember 1908 vor, Lüderitz durch Dragoman Maenss vertreten zu lassen. Eine Woche später empfahl Rosen in einem weiteren Telegramm, Lüderitz nach Deutschland reisen zu lassen, da er sich vermutlich einer Operation unterziehen müsse (8).

      Am 11. Januar 1909 notierte der Friedenauer Lokal-Anzeiger, dass sich Konsul Lüderitz an Bord eines Schiffes begeben habe. Die Deutsche Marokko-Zeitung Nr. 126 vom 12. Januar berichtete, dass dies am Montag, dem 11. Januar, erfolgt sei und er in Begleitung seiner Frau Victoria reise. Hermann Lüderitz hatte als Heimatadresse Coburg angegeben, den Heimatort seiner Frau. Die war zu diesem Zeitpunkt im siebten Monat schwanger.

      Eine Fahrt von Tanger per Schiff nach Hamburg mit Zugfahrt nach Berlin oder Coburg hätte vermutlich 14 Tage gedauert. Schneller fuhr man zu jener Zeit entweder mit der Eisenbahn