Die Familie Lüderitz. Paul Enck

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Название Die Familie Lüderitz
Автор произведения Paul Enck
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783873222984



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geboren am 27. März 1896, und Georg, geboren am 12. November 1897. Jetzt wiederholte sich, was wir schon bei Lucie Lüderitz und ihren Kindern nach ihrem Hausverkauf 1875 beobachten konnten: Albert zog nach seiner Hochzeit nach Berlin-Friedenau und wohnte bis 1893 in der Sponholzer Straße 42, zog dann in die Hauffstraße 13 (bis 1896), in die Lauterstraße 11 (bis 1899), in die Moselstraße 13 (bis 1902), in die Menzelstraße (bis 1904) und schließlich in die Cranachstraße 51 (ab 1905), wo er im eigenen Haus bis 1918 lebte. Das waren sechs Umzüge in 13 Jahren, eine vergleichbare Umzugsfrequenz wie bei seiner Mutter.

      Dabei kann es im Fall von Albert und Martha nicht unbedingt am Geld gelegen haben. Er hatte mit Sicherheit ein festes Gehalt als Staatsbeamter im mittleren Dienst, und sie kam „aus gutem Hause“, wenngleich aus einer großen Familie (8). Die Kinder waren 1905 beim Umzug in die Cranachstraße noch nicht so alt, als dass eine Ausbildung schon viel gekostet hätte: Charlotte war zwölf, Bernhard neun und Georg erst sieben Jahre alt.

      4-2 TabelleTabelle: Umzüge von Albert und Martha Lüderitz. Carl Lüderitz (CL), Albert Lüderitz (AL), Charlotte Lüderitz (ChL), Bernhard Lüderitz (BL), Georg Lüderitz (GL), Adele Lüderitz (AdL); *Carl verkauft 1906, AL verkauft 1918, **= Eigentum, sonst: Miete

      Es muss andere Gründe für die häufigen Umzüge gegeben haben. Einer könnte sein, dass die Familie mit dem Umzug nach Friedenau bereits früher (nach 1892) versucht hatte, dort dauerhaft Fuß zu fassen. Friedenau war als bürgerliche Villenkolonie großstadtmüder Beamter geplant worden (9), wurde aber bereits kurz nach seiner Gründung 1871 vom Ansturm der vielen Neubürger überrascht.

      Der schnelle Ausbau, den auch andere Randbezirke von Groß-Berlin erlebten, mag die Preise für Wohnungen und Häuser nach oben getrieben haben. Möglicherweise war der 1905 erfolgte Häuserkauf viel früher (vor der Jahrhundertwende) geplant gewesen, musste aber wegen Kostenexplosion einerseits und Finanzierungsproblemen andererseits verschoben werden. Auch in Friedenau war der Wohnungsbau Spekulationsgeschäft (3).

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      Kurz vor der Jahrhundertwende (1895) lebten in Berlin mehr als 40 % der Bevölkerung in gemieteten Wohnungen mit nur einem beheizbaren Zimmer, das in der Regel gleichzeitig als Küche, Wohn- und Schlafstube diente und mit Gemeinschaftstoilette im Treppenhaus oder im Hof. Um die Miete bezahlen zu können, wurden oft noch „Schlafburschen“ aufgenommen, von denen es in Berlin 1905 etwa 100.000 gab. Etwa 65.000 fast ausschließlich weibliche Dienstboten stellten ebenfalls mehr als 3 % der Bevölkerung, ebenso die häufig studentischen, überwiegend männlichen Zimmermieter, die oft bei Beamten- oder Offizierswitwen ein Zimmer gemietet hatten. Das Statistische Amt Berlins berechnete, dass 1905 in Berlin über 550.000 Einwohner mindestens zu viert in einem Zimmer wohnen mussten. (3,4)

      Das Mietverhältnis war zwar rechtlich geregelt (5), erlaubte aber kurzfristige einseitige Kündigungen von Seiten der Vermieter. Mietverträge blieben auch nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) 1900 frei aushandelbar, wurden überwiegend nach den Vorgaben der Hausbesitzerverbände abgeschlossen und liefen meist über ein oder zwei Quartale mit wöchentlicher oder monatlicher Kündigungsfrist. „Vor allem zu den Quartalsterminen 1. April und 1. Oktober kam es jeweils zu Kündigungs- und daher auch zu Umzugswellen ... An diesen Umzügen ... waren in Berlin vor dem Ersten Weltkrieg jährlich über 30 % der Bevölkerung beteiligt und 45,7 % der Wohnungen hatten eine Bezugsdauer von maximal zwei Jahren (1905).“ (3)

      „An den üblichen ,Ziehtagen´, zum 1. April und 1. Oktober, herrscht stets ein reger Umzugsverkehr. Beladen mit ihren wenigen Habseligkeiten, ziehen die Berliner von einer trostlosen Wohnung in eine noch trostlosere – womöglich in einen Keller oder einen soeben fertiggestellten, noch feuchten Neubau. ‚Trockenwohner‘ nennt man jene Mieter die eine frischverputzte Wohnung gerade so lange beziehen, bis sie ausgetrocknet genug ist und zahlungskräftigeren Mietern angeboten werden kann, während die Trockenbewohner oftmals krank werden von der Feuchtigkeit. Viele fallen ganz durch die weiten Maschen des sozialen Netzes. Obdachlosen, die von einem der überfüllten Asyle abgewiesen werden, bleibt nur, bei ‚Mutter Grün‘ zu nächtigen. An einem einzigen Tag, dem 30. Januar 1895, nimmt eine ‚Wärmehalle‘, Tagesasyl für Obdachlose, 4000 Personen auf“ (6).

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      Zu den nach Friedenau ziehenden vielen Auswärtigen zählte auch die Familie Beymel, die um 1905 dort auftauchte (–> Kapitel 16). Die Beymel-Kinder und die Lüderitz-Kinder haben sich daher vermutlich in der Schule kennengelernt – ein Lüderitz wird viele Jahre später eine Beymel heiraten.

      Albert und Martha fanden 1905 in der Cranachstraße eine längerfristige Bleibe, zumindest bis zu Alberts Pensionierung im Jahr 1915. Sie zogen 1918 nach Potsdam in die Augustastraße 39, nachdem sie das Wohnhaus in Friedenau verkauft hatten. Zu diesem Zeitpunkt mag es wiederum Sinn gemacht haben, das Geld aus dem Hausverkauf nicht in eine neue Immobilie zu investieren, sondern es für die Ausbildung der Kinder auf die Seite zu legen. Charlotte war jetzt 14 Jahre, Bernhard elf Jahre und Georg zehn Jahre alt. Wenn dies die Hoffnung der Eltern war, hat sie sich, wie sich herausstellen sollte, jedoch nicht erfüllt. Und auch Albert waren nur noch wenige Jahre beschert: Er starb laut Aufzeichnungen seines Sohnes Georg an Heiligabend des Jahres 1928 im Alter von 78 Jahren im St. Josef Krankenhaus in Potsdam an Darmkrebs. Er wurde am gleichen Tag auf dem französischen Friedhof in der Liesenstraße in Berlin beigesetzt.

      Bild Martha und ALbertBild 4-2: Albert und Martha Lüderitz geb. Lützow (Foto von 1910)

      Zufall oder Ursache und Wirkung?

      Zwei wichtige Ereignisse in der Familie Albert Lüderitz fanden im Jahr 1917 statt.

      Ereignis eins Die Familie verkaufte ihr Haus in Berlin-Friedenau (Cranachstraße 51) und zog 1918 nach Potsdam in eine gemietete Wohnung (Augustastraße 39), nachdem Albert 1915 in Rente gegangen war. Dies hatten wir früh recherchiert und interpretiert als Plan, mit dem Verkaufserlös die Ausbildung der Kinder zu finanzieren.

      Ereignis zwei Der ältere Sohn Bernhard war durch einen Unfall, bei dem er sich die Wirbelsäule gleich mehrfach angebrochen hatte, für den Rest seines Lebens körperlich beeinträchtigt. Auch dies wussten wir bereits, aber wir wussten nicht, wann dieser Unfall geschehen war. Erst ein Nachruf in einer lokalen Zeitung im Jahr seines Todes (1953) gab das Unglücksjahr preis: Es war 1917 und Bernhard war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt.

      Naheliegend also, die beiden Ereignisse in einen Kontext zu stellen. Fand der Umzug statt, weil Bernhard diesen Unfall hatte und weil eine neue Wohnung notwendig war? Die Familie wohnte in der Beletage, musste also Treppen steigen, während die Häuser in der Augustastraße in Potsdam ebenerdige Parterrewohnungen aufwiesen. Oder wurde verkauft, weil das Geld, das in der Friedenauer Immobilie steckte, für Bernhards Behandlung und Rehabilitation notwendig war? Er bekam zwar eine Rente, aber deren Höhe konnten wir nicht ermitteln: Die berufsgenossenschaftliche Versicherung gibt dazu keine Auskünfte, und vermutlich sind die Unterlagen längst vernichtet.

      Oder passierte der Unfall, nachdem Bernhard eine Ausbildung in Potsdam begonnen hatte? In einigen Dokumenten jener Zeit wird er als Landwirt bezeichnet, aber weder Berlin noch Potsdam sind landwirtschaftlich geprägt. Plante die Familie deshalb, dorthin zu ziehen, und wurde die Immobilie erst daraufhin verkauft? Oder plante Albert den Verkauf aus besagten finanziellen Gründen vor dem Unfall, und der Unfall hat dann die finanziellen Pläne über den Haufen geworfen?

      Ein Blick in die Grundbuchakte (nur für die Jahre 1900 bis 1920, damit der Datenschutz für die heutigen Besitzer gewahrt bleibt, genehmigt durch das Amtsgericht des Bezirksamtes Schöneberg) klärte Folgendes: Der Verkauf des Hauses an den Bäckermeister A. Köhler fand am 30. September 1918 statt („Auflassung“ war am 28. September 1918), der Umzug also vermutlich um diese Zeit. Im März 1919 wohnte Albert bereits in Potsdam. Nichts deutet in der Akte darauf hin, dass der Verkauf von langer Hand geplant war. Nach den bekannten biografischen Informationen verbrachte Bernhard nach