Die Familie Lüderitz. Paul Enck

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Название Die Familie Lüderitz
Автор произведения Paul Enck
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783873222984



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Erlös ihren eigenen Unterhalt und den ihrer Kinder bis zu deren Selbstständigkeit zu finanzieren. Für Hermann sollte dieser Weg noch mehr als zehn Jahre dauern.

      Ab 1878 besuchte er das nahegelegene Friedrich-Wilhelms-Gymnasium und machte dort Ostern 1884 Abitur. Danach schrieb er sich zunächst an der Universität Heidelberg, dann in Berlin im Fach „Rechte“ ein und legte 1887 das Jura-Examen ab. Am 19. Oktober 1887 trat er als Referendar in den preußischen Justizdienst ein. Weit gefehlt, wer denkt, das habe die alleinerziehende Mutter endlich entlastet: Mit 23 Jahren erhielt Hermann als Rechtsreferendar kein Gehalt, sondern eine Unterhaltsbeihilfe, und die Familie (üblicherweise der Vater) musste sich schriftlich verpflichten, den Sohn standesgemäß zu versorgen: „Wer nicht aus wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen stammte, konnte daher nicht königlich preußischer Beamter werden“ (2).

      Seine Ausbildungsstationen waren: 1887 Referendar am Amtsgericht Alt-Landsberg, also nicht weit von Berlin entfernt, dann in Berlin am Landgericht I, anschließend bei der Staatsanwaltschaft und schließlich bei Rechtsanwalt und Notar Julius Müseler in der Leipziger Straße 13.

      Ostern 1888 begann er eine Sprachausbildung am Seminar für Orientalische Sprachen (SOS), das im Jahr zuvor an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin gegründet worden war, und bereitete sich auf Marokko vor (3).

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      Das Seminar für Orientalische Sprachen (SOS) war 1887 (3) auf Initiative von Bismarck gegründet worden. Diesem hatte bei der internationalen Berliner Konferenz 1878 kein Dolmetscher für das Türkische zur Verfügung gestanden, wenngleich die gesamte Konferenz um eine neue Friedensordnung für Südosteuropa rang, mit der die Balkankrise (1875–1878) infolge des Aufstrebens des Osmanischen Reiches beendet werden sollte.

      Bei seiner Gründung studierten am Seminar 98 Personen im Sommersemester und 72 Personen im Wintersemester. Zehn Jahre später (1898/1899) waren es 111 bzw. 179 Studenten. Sie wurden unterrichtet von 18 Lehrern und acht Lektoren in 14 Sprachen: Chinesisch, Japanisch, Guzerati, Hindi, Hindustani, Arabisch (Syrisch, Ägyptisch, Marokkanisch), Persisch, Türkisch, Suaheli, Herero, Haussa, Russisch, Neugriechisch, Spanisch (3).

      Heute würde man es vielleicht als „Kaderschmiede“ bezeichnen: Im nach kolonialer Bedeutung strebenden Deutschland zum Ausgang des 19. Jahrhunderts fehlte es an qualifizierten Fachkräften für die verschiedenen Regionen, in denen sich das Deutsche Reich „engagierte“ (China, Japan, Nordafrika, Südwestafrika). Insbesondere mangelte es an Sprachkenntnissen bei Militärs (Schutztruppen), Diplomaten, Kaufleuten und Postbeamten. Das SOS kam dieser Nachfrage nach und bildete diese Experten aus.

      Der Unterricht muss sehr intensiv gewesen sein: Gruppen von vier bis fünf Studenten pro Sprache, muttersprachliche Lehrer und täglich Unterricht von 7 bis 21 Uhr im Sommer, im Winter ab 8 Uhr. Zusätzlich zum Sprachunterricht gab es Lektionen in Sach- und Länderkunde. Diese – Realienfächer genannt – waren: wissenschaftliche Beobachtung auf Reisen, Tropenhygiene, Agrikultur und Landeskunde.

      Stolz verkündete man am Ende eines Jahrgangs die Absolventen, die eine Prüfung vor der königlichen Diplom-Prüfungskommission abgelegt und Positionen in den Ländern, deren Sprache sie gelernt hatten, erreicht hatten (3). In der arabischen und amharischen Klasse hatten in den ersten zwölf Jahren nur 20 Absolventen, vornehmlich Juristen, die Sprachausbildung durchlaufen. Alle gingen in den di­plomatischen Dienst.

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      Der lange Weg bis zum Konsul in Casablanca

      Da wir Hermann in dieser Berliner Zeit (1886 – 1888) nicht im Adressbuch finden konnten, gingen wir davon aus, dass er wieder zu Hause wohnte. Anders hätte er das Pensum am Seminar für Orientalische Sprachen kaum schaffen können.

      Der Schritt der Mutter, das Haus in der Markgrafenstraße im Jahr 1875 zu verkaufen, hatte für einige Familienmitglieder, insbesondere aber für Lucie selbst, weitreichende Folgen. Der Verkauf brachte zwar einen substantiellen Erlös und sicherte die Ausbildung von Carl, Elisabeth und Hermann. Es bedeutete jedoch, dass sie zukünftig darauf angewiesen war, Wohnungen mit günstigen Mietbedingungen zu finden. Im Berlin der folgenden Jahre stiegen die Miet- und Immobilienpreise dramatisch, häufige Wohnungswechsel und Umzüge waren die zwangsläufige Folge. Lucie wohnte bei Hermanns Rückkehr nach Berlin in der Hornstraße 22 in Luisenstadt (Kreuzberg), nicht gerade nahe an Hermanns Seminar, aber Berlin im Jahr 1888 war mit 1,45 Mio. Einwohnern noch überschaubar. Die Hornstraße war auch die Adresse, die Hermann bei seiner Immatrikulation in Berlin angab.

      Wir wissen nicht, was Hermann bewogen hat, sich ausgerechnet für das marokkanische Arabisch zu entscheiden, aber wir denken, dass der Entschluss, nach Marokko zu gehen, bereits bei Aufnahme des Sprachstudiums festgestanden haben muss. Er brauchte schließlich, da er sich in der Referendarzeit befand, eine Befreiung von anderen Dienstpflichten, um überhaupt an diesem Intensiv-Unterricht teilnehmen zu können. Es gibt ein von Elisabeth Lüderitz gemaltes Bild des Familienrates aus dem Jahre 1888, das offenbar diese Entscheidungssituation zeigt und die unterschiedlichen Einschätzungen der Beteiligten wiederzugeben scheint (–> Titelbild)

      Hermann Lüderitz wurde Ende 1889 auf seinen Wunsch hin von der Ministerresidentur in Tanger als Dragomanats-Eleve – als „Dolmetscher-Lehrling“ – übernommen. Mit seiner doppelten Ausbildung war er für diese Aufgabe bestens qualifiziert, da er sich als Dragoman und später als Konsul nicht nur mit den marokkanischen Behörden auseinandersetzen musste, sondern weil er auch den Vorsitz im Konsulargericht hatte, das Zivil- und Strafsachen verhandelte. Das betraf nicht nur Konflikte innerhalb der deutschen Kolonie, sondern die Europäer genossen in Marokko das Privileg, dass auch bei Rechtsstreitigkeiten zwischen einem Deutschen bzw. einem deutschen Schutzgenossen und einem Marokkaner das deutsche Konsulargericht zuständig war.

      Drei Jahre später war Hermann allerdings noch immer nicht in einem festen Amt. Er unterstand weiterhin dem preußischen Justizministerium, das ihn für den Dienst im Auswärtigen Amt stets aufs Neue beurlauben musste.

      Im Februar 1893 wandte er sich in einem Privatbrief an einen nicht näher bekannten Geheimrat im Auswärtigen Amt, um diesem „meine Sorge um meine Zukunft, um meine Karriere“ zu unterbreiten. Da der syrische Dragoman Melhameh die Stelle blockierte, war Lüderitz nur „als diätarisch angestellter Beamter“ außerplanmäßig beschäftigt, „ohne jede Aussicht auf feste Anstellung“ im auswärtigen Dienst. Er habe die „sichere, wenn auch langsame Karriere“ im preußischen Justizdienst aufgegeben und bat den Adressaten des Schreibens, dafür zu sorgen, dass die „quälende Ungewißheit“ und die daraus entstehende Unzufriedenheit zu einem Ende kommen möge. Die Bitte hatte offenbar insofern einen gewissen Erfolg, als ihm nur einen Monat später, am 7. März 1893, der „Titel eines zweiten Dragomans beigelegt“ wurde.

      Dass er das marokkanische Arabisch sehr gut beherrschte, zeigt auch das folgende Beispiel: Im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen, die sich mit Fragen des marokkanischen Rechts befassten und darüber auch promovierten, veröffentlichte er 1899 in den „Mittheilungen des Seminars für Orientalische Sprachen“ einen Beitrag zu „Sprüchwörtern aus Marokko mit Erläuterungen im Dialekt des nördlichen Marokko“ (4), mit dem sich Georg Kampffmeyer, einer der führenden Arabisten seiner Zeit und seit 1906 Dozent am Seminar für Orientalische Sprachen, in der gleichen Zeitschrift recht kritisch auseinandersetzte (5). Im selben Heft aus dem Jahre 1899, in dem der Lüderitz-Artikel erschien, findet sich jedoch ein kritisch-lobender Kommentar eines weiteren Experten (6). Dies spricht für mehr als ein rein technisches Interesse an Sprachkompetenz in einem fremden Land. Hier kam möglicherweise das musisch-künstlerisch-kulturelle Interesse der Familie Lüderitz zum Tragen.

      SpruechBild 3-1: Eine Publikation von Hermann Lüderitz aus dem Jahr 1899 (4)

      Zwischendurch muss Hermann allerdings zuhause gewesen sein: Wir fanden ihn auf der Passagierliste eines Dampfers von Hamburg nach Tanger am 16. Oktober 1891 und spekulierten,