Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Название Das Blöken der Wölfe
Автор произведения Joachim Walther
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954629664



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weniger gekonntes öffentliches Schauspiel (wenigstens einer der Lebenden ist Profi: Ronald Reagan), wie die Beherrscher der Menschen und ihrer eigenen Mienen Mimen sind, jedoch nicht auf harmloser Bühne, sondern realiter mit den sichtbar katastrophalen Folgen (Umwelt, Dritte Welt, Rüstung), wie sie Macht erringen und erhalten, wofür Ressourcen verbraucht, Menschen geopfert werden und gar Kriege stattfinden, wenn ich dies sehe, denk ich, es müssten Verhältnisse her, in denen es niemanden mehr gelüstet, Macht zu haben, weil dies zu gefährlich geworden ist: für den Mächtigen.

       29.5.85

      Heute etwa 50 Wurzeln einer wuchernden Pflanze in einem Umkreis von 500 Metern eingegraben. So mit dem Spaten außerhalb des Gehöfts umherzuschleichen und der Natur in ihrem Überlebenskampf zu helfen, hatte etwas Närrisches und Subversives.

       18.11.85

      Provinz, Provinz! Es scheint, als ob der Rückzug aus der sogenannten Großen in die Kleine Welt in seiner Bescheidung weniger Einschränkung denn Erweiterung bedeutet. Der ruhigere und genauere Blick auf die Natur des Wechsels, auf diesen Mikrokosmos eröffnet tiefere Perspektiven in den Makrokosmos, manchmal, selten. Letztlich hingen nach einem Regen an der oberen Querstange des Zauns Tropfen. Sonne brach durch und ließ die Tropfen diamanten blitzen. Eine kurze Zeit, ermöglicht durch einen bestimmten Einfallswinkel der Sonne, vergänglich wie der Tropfen selbst. Was andres ist menschliches Leben in kosmischen Zeiträumen, zufällig wie Tropfen und Sonnenstrahl, aufleuchtend und vergehend wie das diamantene Gleißen, wertvoll durch Unwiederholbarkeit, von einer Schönheit, deren Glanz nur in der Kunst andeutungsweise widerscheint?

       2.1.86

      Ein Traum. Mein Hinrichtungstermin ist auf 6 Uhr des nächsten Morgens festgelegt, ohne Angabe von Gründen, verhängt von einem anonymen Staat. Ich versuche verzweifelt, die wenigen Stunden sinnvoll zu nutzen, doch fällt mir in der Lage nichts Sinnvolles ein. Beim Erwachen der Schrecken über den Leviathan, des Gottes, der sich selbst inthronisiert hat und nicht sterben will. Wie überirdisch steht das staatliche Prinzip über allen und allem, führt ein abgehobenes, abstraktes Dasein und übt konkret Macht aus, die jedoch von den Vollziehenden des Apparates unabhängig ist. Er verteilt, analog zu Gottes unerforschlichen Ratschlüssen, Lob und Tadel, fasst Beschlüsse, die zu begründen er nicht verpflichtet ist, verhängt Strafen bis hin zur Todesstrafe (dies eine seiner ungeheuerlichsten Monstrositäten), reißt Völker in Abgründe, die seinem Überleben dienen. Und doch ist kein einzelner Vollstrecker des staatlichen Willkürwillens persönlich dafür verantwortlich: Dies zeigen die Schwierigkeiten, führende Staatsverbrecher als Schuldige in den großen Weltprozessen zu verurteilen – immer gibt es den Befehlsnotstand, und selbst bei den Ersten Männern gab es Zwänge, die ihnen keine andere Wahl ließen. Vergeblich, einen Schergen eines beliebigen Systems moralisch zu verurteilen, da sein Tun von ihm unabhängig einem höheren Prinzip, dem staatlichen, untergeordnet ist, das, gleich ob er wollte oder nicht, vollzogen werden muss, wenn nicht von ihm, dann von einem anderen, und einer findet sich immer. Das Verweigern des Einzelnen hält diese selbstlaufende Mechanik nicht an.

       13.8.86

      25 Jahre Mauer. Steinernes Sinnbild einer Herrschaftsform, einer Denkungsart. Leben am anus mundi.

       26.2.87

      Der Gerontologe Gorbatschow versucht den sklerotischen Koloss zu verjüngen. Er als Gejagter, der nicht viel Zeit hat. 70 Jahre Zentraldiktatur hat die Menschen unschöpferisch, lethargisch werden lassen. Nun steht der Käfig halb offen, doch sie wollen nicht fliegen, sie glauben’s nicht, haben Angst, haben das Fliegen verlernt. Wenn der gute Zar Gorbatschow am apathischen Apparat scheitert, ist der Sozialismus fürs erste passé. Ohne Demokratie keine Kreativität. Sklaven verweigern die Leistung, zu Recht. Nun erzwingt die Stagnation Wandel, bei Strafe des Untergangs. Es ist ein Nachholen, noch immer keine Neuerung. Gorbatschow gebraucht dramatische Worte. Nichts davon in den DDR-Medien, diesem täglichen Trauerspiel. Die politbürokratische Überheblichkeit: Wir hätten keinen Nachholbedarf in Sachen Demokratie, bei uns, so Honecker, sei die bereits verwirklicht, so beispielsweise bei der Mitarbeit in Küchenkommissionen, wörtlich, ernsthaft, schamlos. Er brüstet sich mit ökonomischen Erfolgen, der reale Mangel indes bleibt. Das Volk wird nicht befragt, nicht informiert, es darf Ergebenheit ausdrücken. Das Volk als Wink-Element. Wieder das Erstarren, das Sträuben gegen Neues, die Furcht vor Veränderung. Nur gezwungen und gestoßen bewegen sich die neokonservativen Führer einen Trippelschritt vorwärts. Zukunft hat das nicht. Die DDR als faradayscher Käfig: unter ihm geschützt sitzen die Informationsmonopolisten und leiten die Perestroika-Blitze aus dem Osten ab. Ein neuer betonierter Provinzialismus – der real pervertierte Sozialismus.

       17.7.87

      Die DDR schafft die Todesstrafe ab, der Staat verzichtet auf ein Machtmittel: die Anmaßung, rechtmäßig zu töten. Nun müssten weitere Schritte folgen. Verzicht auf das zentralistische Administrieren. Außerdem gibt es eine Amnestie: ein Gnadenakt der alten Art. Nicht Gnade, sondern Rechtsstaatlichkeit ist nötig. Und das Abschaffen der Honecker-Strafrechtsparagrafen Hetze, Verbindungsaufnahme etc., dieser Gummi-Paragrafen, die machtpolitischer Willkür alle Möglichkeiten geben. Aber nichts davon.

       27.12.87

      Der Mensch, Nutznießer und Opfer seiner erhöhten Produktivität, sieht sich immer weniger imstande, den Selbstlauf der Prozesse zu steuern. Sein Tun ist immer weniger freiwillig, freie Entscheidung zum Fortschreiten. Es ist ein zwanghaftes, zwangsläufiges Vorwärtshasten, eine Flucht nach vorn, ein Zug ohne Bremse, ohne Möglichkeit des Aussteigens, das Tempo ist zu hoch. Es sei denn, er verzichtet aus Einsicht, er findet für sich neue Werte. So aber wie bisher isst er den Apfel Erde, auf dessen Schale, von dessen Fruchtfleisch er lebt, selber auf. Die instrumentelle Vernunft hat sich schneller entwickelt als die Moral, die Technologie schneller als die Ethik: Daraus ergibt sich unsere Hilflosigkeit gegenüber der selbstgeschaffenen Bedrohung.

       16.3.88

      Gestern in „Panorama“ ein übergelaufener Stasi-Fotograf. Er zeigt auch ein Foto von mir: bei der Lesung zur 1. Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche. Das Engagement für den Frieden verdächtig: Verdacht wohnt stets im schuldigen Gemüt (Shakespeare, Hamlet).

       2.7.88

      Der DDR-Problemberg wächst ökonomisch, ökologisch, innenpolitisch, die Perestroika-immune Führung verhindert erfolgreich deren öffentliche Diskussion, weshalb die Leute, die systemimmanente Veränderungen anstreben, den Konsens, nicht die Konfrontation, zunehmend unglaubwürdig werden. Ihre Kritik bleibt hinter der Schärfe der Widersprüche zurück, gerät in den Ruch des Konformismus. Beispielsweise sagt die unabhängige Öko-Bewegung das Notwendige, wird aber in die Nähe der Staatsfeindlichkeit manövriert, während wir im Schriftstellerverband unserer Kritik ein Halten-zu-Gnaden anhängen.

       20.11.88

      Der „Sputnik“ wird verboten. Statt Öffnung – Abschotten. Honecker hängt gleichentags Ceausescu, dem Großen Conducator, den Karl-Marx-Orden an. Eine Provokation des Volks. Außerdem werden fünf sowjetische Filme verboten: verzweifelte Defensive der Gerontokraten?

       21.11.88

      Besuch in Leipzig. Kein Zug pünktlich. Zugeschissene, stinkende Toiletten. Fabrikgebäude, die wie Ruinen aussehen. Verfallende Stadtviertel, schrundige Fassaden, löcherige Straßen, keine Taxis, Dreck, Barackenkultur, das allgegenwärtige Grau: die real existierende DDR, demoralisierend. Und das täglich den Bewohnern dieser einst schönen und vitalen und intakten Stadt. Wann endet deren engelhafte Geduld?

       6.6.89

      Nach fünf Monaten Gastprofessur in den USA wieder in der DDR. Erster Eindruck: eklatanter Widerspruch zwischen Ideologie und Realität. Alles klein, abgeschabt, die Gesichter mürrisch, das Land zurückgeblieben provinziell, abgehängt von der Welt. Ein Schock die Berichterstattung des ND über das Massaker der alten Männer an den chinesischen Studenten, Überschrift: Volksbefreiungsarmee Chinas schlug konterrevolutionären Aufruhr nieder. Widerlich. Und gefährlich: