Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

Читать онлайн.
Название Das Blöken der Wölfe
Автор произведения Joachim Walther
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954629664



Скачать книгу

grünen Berge von Vermont bleiben hinter mir: Burlington, Boston und New York.

      Und dort das Chaos: John-F.-Kennedy-Airport. Oder „worldport“, wie er sich selber nennt. Nicht zu Unrecht, denn in das überlaufende Gefäß aus Beton und Glas schüttet es aus der Luft unaufhörlich Menschenmassen aus aller Welt, die sich hektisch schieben, reiben, stoßen, bis sie mit Bussen oder Taxen einen Ausweg aus der Enge finden oder aber wieder in die Luft geschleudert werden unter dem Gebrüll der Düsen. Sie (und ich als Gleicher unter ihnen) kamen mir vor wie Fische, die, aus ihren vertrauten, heimatlichen Revieren gerissen, in ein Glas geschüttet werden und nun verstört, entfremdet durcheinanderstrudeln, nach Luft schnappen und mit großen Augen gegen die Glaswände des JFK-Aquariums prallen. Das Gefühl, verlorenzugehen, namenlos zu sein, nie wieder aufzutauchen, hinausschwimmen zu können aus dem chaotischen Wirbel. Die zu große Nähe, ohne jemandem nah zu sein. Dieses dichte Aufeinanderrücken, das Flucht oder Aggression auslöst. Diese Fremde unter Fremden, die das Bedürfnis weckt, einen Halt zu finden, einen Menschen in der Masse, der zum Vertrauten werden könnte. Bei mir ist es in solcher Bedrängnis immer eine Frau, nach der ich suche: kindhaft, ohne jede männliche Ambition. Es ist ein Regredieren mit dem Wunsch, an der Hand genommen zu werden: ein Riesenbaby auf Reisen.

      Die ganze Stadt: das größere Aquarium. Die Taxifahrt von Penn-Station über die siebte Avenue und die 42. Straße durch den Queens-Midtown-Tunnel hinaus zum Kennedy-Airport wie eine Fahrt quer durch Hölle. Heiß und laut und stickig. WAR ZONE N. Y. C., les ich im Vorüberfahren auf einem T-Shirt einer Schwarzen. Die Ampeln schalten zwar noch rot-gelbgrün, doch hält sich keiner dran, sie fahren alle zugleich auf die Kreuzung und drängen und hupen, bis der andre weicht. Die überlangen, scheibenverspiegelten Chevrolets, in denen vermutlich die Leute mit dem großen Geld sitzen. Im Stau eine bettelnde Gestalt mit nichts auf dem Leib als einem Paar zerfressener Hosen, der Körper über und über von Geschwüren bedeckt. Der Fahrer vor mir gnadenlos, er fährt, sobald ein freies Stück Straße vor ihm ist, herzstockend schnell und wechselt derart riskant die Spuren, dass ich die Augen schließe. Auch eine Form des Vertrauens, die resignative, weil mir sonst ja auch nichts übrigbleibt.

      Zu meinem Halt auf dem Airport wird die Frau am PANAM-Schalter, die wunderbarerweise die Zeit findet, ohne Routine aufzublicken und freundlich zu lächeln, und meinen Namen sogar in ihrem Computer findet, was mich mit dankbarer Rührung erfüllt und wieder hoffen lässt, dass es mich wirklich gibt. Sie nennt mir Zeit und Flugsteig, gibt mir die Bordkarte und nimmt mein Gepäck, doch leider mich nicht bei der Hand.

      Beim Rückflug dann der Blick voraus in Skepsis: das Land im Umbruch, das Neue, bislang Unbekannte zu Hause als das Fremde, das Unvertraute. Wieder wird ein Stück mehr verändert sein, was mir bekannt war, auch vertraut, was mit den Jahren Heimat wurde, an der auch ich beteiligt war, wenn ohne Begeisterung, so doch durch einfache Anwesenheit. Soll man dem Neuen vertrauen? Oder nicht? Oder ist die Frage falsch gestellt? Ist wiederholtes Vertrauenwollen nicht das Fortsetzen alter Verhaltensmuster unter gründlich veränderten Bedingungen? Das blinde Stolpern aus der geschlossenen Anstalt ins Freie, die neuerliche Euphorie, die in Enttäuschung enden wird? Die bequeme Formel: Vorwärts und schnell vergessen, sie wird notwendig ins neue Fiasko führen. Vertrauen wagen, ohne die Augen zu schließen – könnte das die Lösung sein? Sich einlassen, ohne sich selbst aufzugeben, wozu die eigene Geschichte ebenso gehört wie das Träumen nach vorn, über unsere begrenzte Gegenwart hinaus.

      Wir alle inszenieren ein Stück, und dieses Stück ist unser Leben. Das Fatale daran ist, dass wir es ohne Probe, auf offener Bühne tun und uns keine Gelegenheit gegeben wird, es noch einmal, besser, aufzuführen. Ob wir bei der Dramaturgie des einmaligen Stücks das Vertrauen als Leitmotiv verwenden, ist allein unsere Wahl.

      Wie sagte der Doktor zu Woyzeck: Kerl, Er tastet mit seinen Füßen herum wie mit Spinnfüßen.

      

Zuerst veröffentlicht: Neue Deutsche Literatur, 3/1991

       PRESSFREIHEIT

      Es scheint, wir haben sie schon. Auch ohne neues Mediengesetz hat sich die alte Presse flugs zur neuen gewandelt. Oder gewendet. Beziehungsweise gewendelt. Dabei haben wir die alte Presse noch deutlich vor Augen.

      Die tägliche Langeweile. Das Tschingtarassabumblahblah des Jubel-journalismus. Die Protokoll-Protuberanzen im Stil feudalabsolutistischer Titularienbücher. Die klischierte Sprache, die normierte Versatzstücke in Großplattenbauweise montierte. Die Inflation des Superlativs. Das ermüdende Wiederholen der Hohlformeln: ewig, heilig, unverbrüchlich, stabil, dynamisch, grenzenlose Treue, Ergebenheit, ruhmreich, absolutes Vertrauen. Das Verzaubern der Realität bis hin zum Hinwegzaubern, sodass zuletzt selbst zwischen den Zeilen nichts mehr stand. Die entmündigende Monopolisierung der Wahrheit, die zur Lüge verkam, sodass der Volksmund textete: Beim ND stimmt ooch bloß det Datum. Und schließlich der Höhepunkt des Niedergangs: die mit freundlicher Beihilfe der Tschekisten aus Lichtenberg erzählte Menthol-Zigaretten-Mär des nämlichen Zentralorgans. Das alles ist uns Zeitungslesern wohlbekannt. Und es funktionierte lange, viel zu lange. Doch nicht ewig, wie geplant. Es kam, wie Abraham Lincoln sagte: „Man kann manche Leute immer für dumm verkaufen. Man kann alle Leute manchmal für dumm verkaufen. Aber man kann nicht alle Leute immer für dumm verkaufen.“

      Und nun soll es nur einer gewesen sein? Nein, nicht etwa der dafür Verantwortliche, sagt der einst dafür Verantwortliche. Es war der über ihm, der über allem stand. Nicht Hermann war’s, es war Honecker, sagt Hermann. Das nun ist wirklich hübsch. Honecker also ganz allein. Wenn nur er es war, muss dieser Mann gottähnlich gewesen sein, vielarmig wie Schiwa, der mit dem Zensurgriffel gleichzeitig und flächendeckend die Landesmedien beherrschte. Wenn es denn so gewesen sein sollte, müssten wir uns ernstlich fragen, ob wir gut beraten sind, solch einen begnadeten Omnipotenten abzulösen. Wenn aber nicht, was zu vermuten ist, dann müssen ihm ein paar Sterbliche schon dabei geholfen haben.

      Es ist fatal. Das auffällig eilfertige Bemühen, einige wenige Schuldige zu benennen und zu bestrafen, erinnert stark an 1945. Schuld war der Psychopath Hitler, es gab den Nürnberger Prozess, und das sollte es dann schon gewesen sein. Bewältigung? Oder Verdrängung? Verdrängen, um nicht über die eigene Mitschuld nachzudenken, um möglichst schnell und ohne größere innere Umbauten den äußeren Umbruch zu überstehen. Man liest und hört in den Medien die alten Namen (und nicht nur dort) und man staunt, wie enorm wandlungsfähig der Mensch doch ist. Wohin man sieht: ein Volk von Opfern, kaum Täter. Aber ich erinnere mich doch der Lektoren, Redakteure, Dramaturgen, die mir die Texte amputierten oder verboten, ohne dass Genosse Schiwa hinter ihnen stand und ihnen die Hand mit dem Rotstift führte. Wo sind sie hin? Ohne Zweifel: Die Zeiten ändern sich. Bleiben die Schnellwender dennoch dieselben? Oder werden sie, was zu hoffen ist, geändert von den Zeiten?

      Doch auch das ist wahr: Nicht nur der Zeitungsleser litt, es litten auch die Journalisten. Nicht alle, aber viele. Sie hatten es nicht leicht. Zumal jene, die in Leipzig Journalistik studierten (am Roten Kloster, wie es trefflich hieß) und die dort hörten, die Medien, welch elitäre Arroganz! seien der Organisator der Massen. Ausgebildet als Grabenkämpfer in der großen Klassenschlacht, in vorderster Front im Schützengraben, in dem die Befehle des nahen Gegners wegen natürlich nur geflüstert werden durften, diszipliniert, reglementiert, legen sie nun die drückenden Eisenhüte ab, steigen aus dem Graben und sehen ihre Chance: frei zu werden in einer neuen, freien Presse.

      Die neue, freie Presse: Was braucht sie, um sich diesen Namen zu verdienen? Unbestechlichkeit, Wahrhaftigkeit, Genauigkeit, Gerechtigkeit, Neugier, Eigensinn, Spaß am Dekuvrieren des Erhabenen, satirische Schärfe, mitmenschliches Einfühlen, Wortwitz und analytische Tiefe. Einen neuen Geist. Neues Denken.

      Marx schrieb von der Kommune in Paris: „Aber in der Tat, die Kommune machte keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit, wie dies alle die alten Regierungen ohne Ausnahme tun. Sie veröffentlichte alle Reden und Handlungen, sie weihte das Publikum ein in alle ihre Unvollkommenheiten.“

      Ohne in das alte, wohlfeile und missbrauchte Muster zu verfallen, alles und jedes mit einem Marx-Zitat passgerecht zu belegen, noch eins von ihm, das vor 13 Jahren gestrichen und