Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Название Das Blöken der Wölfe
Автор произведения Joachim Walther
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954629664



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      Tausende verlassen über Ungarn die DDR, ein Trabi-Treck gen Westen. Die DDR-Oberen und deren Presse bewältigen das Problem wieder einmal sprachlich, man spricht von Hetzkampagne, Lüge, organisiertem Menschenhandel und von – Verführten. Hier zeigt sich das autoritäre Menschenbild der Partei: Die Bürger als unmündige Kinder, die vom Bösen Mann verführt und missbraucht werden. Die Partei als Erziehungsberechtigter und Vor-Mund. Als hätten die Menschen nicht selbst entschieden. Agonie, Lähmung, wirklichkeitsverleugnendes Wortgerassel. Honecker krank: Der Apparat läuft weiter, ohne die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Zentralistische Verantwortungslosigkeit. Der Unmut wächst. Stimmung wie vor Gewitter.

       14.9.89

      Versammlung des Schriftstellerverbandes Berlin. Die Regie der Funktionäre klappt nicht mehr, sie isolieren sich selbst: Sie erreichen 5 Gegenstimmen bei der äußerst zurückhaltend formulierten Protestresolution. Wären heute Wahlen gewesen, sie wären aus ihren Funktionen. Stolz auf meine Generation: Von da kommt jetzt das Substantielle. Optimismus des Veränderns. Das lustvolle Erlernen demokratischer Umgangsformen. Die verblüffte Lähmung der überstimmten Dauerfunktionäre.

       21.9.89

      Traum. Speisesaal eines Gefängnisses. Ich bin zum Tode verurteilt einer Unterschrift wegen. Ein Mädchen, verurteilt wie ich, lächelt mich an, kommt, liebt mich unterm Tisch, sagt: Es war nie schöner als mit dir, mein Einziger. Geht zum Nächsten, lächelt ihn an, liebt ihn, sagt: Es war nie schöner als mit dir, mein Einziger. Es ist kein Verantwortlicher da, alle zu Hause, alt, krank, ich frage, wann meine Hinrichtung sei. Es antwortet ein Baby, das in einem Körbchen liegt, hinter ihm die Amme mit dicken, bloßen Brüsten. Es sagt, schrill und dünn: So schnell wie möglich, also morgen früh um vier. Ich überlege, ob ich die anderen Verurteilten zum Widerstand gegen die lächerliche Baby-Gewalt auffordern oder das Baby, das sich als Stellvertreter des stellvertretenden Gefängnisdirektors bezeichnet, um eine Schreibmaschine bitten soll. Da sehe ich, das Baby schläft mit geschlossenen Augen und offenem Mund. Es ist die Amme, die spricht: eine Bauchrednerin. Ich weiß, ich habe keine Chance.

       2.10.89

      Die Lage spitzt sich zu, die Massenflucht geht weiter. Krenz umarmt in Peking den fünfundachtzigjährigen Schlächter vom Platz des Himmlischen Friedens, Honecker bereitet den 40-Jahre-Jubel vor, die Stimmung im Volk ist depressiv bis aggressiv. Die Politgerontokraten klammern sich an die Macht, die, so Mao, aus den Gewehrläufen kommt. Dies die Gefahr, die Drohung.

       23.10.89

      Mittwoch, 18.10., endet die Honecker-Ära, glanzlos. Die DDR gärt: Massenflucht und Massendemonstrationen, überall werden Resolutionen verfasst, in denen gefordert wird, nicht mehr gebeten. In dieser Lage reagiert die Partei. Der neue Generalsekretär Krenz, „gewählt“ wie in Rom: Rauch aus dem Kamin des ZK-Gebäudes, der neue Papst. Drei (3) Leute werden ausgewechselt, nicht mehr, alle andern bleiben. Krenz im Fernsehen: ein mieser Mime, schmeichelt sich dem Volk an mit wölfischer Stimme, die Kreide fraß. Die Presse ändert ihren Ton, will, dass die Leute von der Straße kommen, bietet den Dialog an. Die Sprache ist verräterisch: „… die sozialistische Demokratie noch wirksamer entfalten …“ – als hätte es die jemals gegeben, „… die Medien noch lebensnaher gestalten …“ – als wären sie je lebensnah gewesen, noch mehr, stärker als bisher, vor allem mehr arbeiten – als läge es daran, dass die Wirtschaft krankt. Zu hoffen ist, das Volk lässt sich diesmal nicht wieder betrügen und besteht auf strukturellen Änderungen.

       4.11.89

      Die erste freie Großdemonstration auf dem Alex. Transparente mit knallharten Forderungen und kreativem Sprachwitz. Das Volk auf der Straße erzeugt den Veränderungsdruck. Eine Dynamik ist im Gange, an die niemand vor drei Monaten geglaubt hätte.

       5.11.89

      Das Volk erzwingt politischen Wandel. Die letzten Wochen, Tage spannend wie ein ganzes Jahrzehnt. Die Politbürokraten mit dem Rücken zur Wand, sie aber texten: Mit dem Gesicht zum Volke. Wohl wahr. Noch einmal die Lust des Veränderns, noch einmal Aufbruch und Hoffnung. Ein Volk findet seine Würde und Stimme wieder. Der Reform-Zug beschleunigt, die alte Partei rennt ihm außer Atem nach. Wer weiß, auf welchem deutschen Bahnhof die Reise endet.

       29.11.89

      Am Morgen im Roten Rathaus, unabhängiger Untersuchungsausschuss. Die Schuldigen lügen massiv, vertuschen, haben nichts gesehen, gehört, getan, sind vollkommen unschuldig. Wie gehabt. Der andere Teil der Wahrheit: die Post-Stalinisten ducken sich ab und versuchen, sich und die alten Mechanismen über die Runden zu retten.

       10.12.89

      Die kulturellen Deformationen. Der real pervertierte Sozialismus hat gewachsene Kunst vernichtet, doch keinen neuen Stil geschaffen. Die Städte verkommen, zerstört durch einen Krieg des schlechten Geschmacks. Auf dem Land die über Jahrhunderte gewachsene Infrastruktur nach 45 und bei der Zwangskollektivierung vernichtet, ersetzt durch provisorische Barackenarchitektur. Beschädigt auch die Alltagskultur: die Sprache, die Umgangsformen, die Kultur des Streits.

       21.12.89

      Ceausescu nannte gestern sein demonstrierendes Volk Konterrevolutionäre und Faschisten. Unser Sprachsensorium ist geschärft. Vor Wochen noch nannte man bei uns das demonstrierende Volk Staatsfeinde, Mob und Abschaum, die Munition war ausgegeben, Pläne für Internierungslager und schwarze Listen waren fertig. Uns blühte eben jener himmlische Frieden, der jetzt in Rumänien wütet. War der Conducator bislang nur lächerlich, ist er nun blutig, ein anachronistisches Monstrum, behängt auch mit zwei Karl-Marx-Orden dieses Landes. Wir, die wir nur knapp seinen Brüdern im Geiste entgangen sind, fordern von der Regierung, den Mörder öffentlich einen Mörder zu nennen.

       15.1.90

      Besetzung, Begehung des Hauptquartiers der Stasi in der Normannenstraße. Die Tore wurden von innen geöffnet, und die Menschen liefen durch das riesige Objekt, Stolz und Unglauben in den Gesichtern.

       22.2.90

      Der Stoff der nächsten Jahre: die Trauerarbeit, die Frage nach der Mitschuld. Was hätten wir wissen, erkennen können? Warum vermieden wir die konsequente Analyse? Aus Furcht, das Verderbte, aussichtslos Misslungene illusionslos zu konstatieren, weil wir uns dann hätten moralisch entscheiden müssen: zu Widerstand oder Flucht. Der Selbstbetrug, der bequeme, an die Lernfähigkeit des Totalitarismus glauben zu wollen. Die hilfreiche Illusion von der Aufklärung der Macht durch Vernunft. Das kindliche Festhalten an einer Utopie aus dem 19. Jahrhundert, die schon 1930 in der Sowjetunion pervertiert worden war. Das Abstumpfen des Gewissens angesichts deutlichster Zeichen: Wahlbetrug, Totalüberwachung, Machtarroganz. Das Wissen ohne Folgen, das Hinsehen, ohne zu reden, das geflüsterte Murren, kein lauter Protest. Psychologisch ein Verdrängen, ethisch ein Versagen, politisch ein Stabilisieren. Wie uns, wie mir das geschah, diese Geschichte ist schreibend zu erkunden, zu erkennen.

      

Zuerst veröffentlicht: Der Morgen, 1. September 1990

       VOM KULT ZUR KULTUR

       1

      „Berlin ist das Letzte. Der Rest ist Vorgeschichte. Sollte Geschichte stattfinden, wird Berlin der Anfang sein.“ Was wie ein althochdeutscher Zauberspruch klingt, ist von Heiner Müller und vor Jahren erst geschrieben.

      Die Mauer fiel und begrub unter sich den Staat, den sie schützen sollte vor den eigenen Bürgern. Berlin, die Rose aus Zement, hat sich des Keuschheitsgürtels aus Stacheldraht entledigt und ist nun frei zu freien: die andere Hälfte von sich selbst.

      Die Stadt hat eben jetzt die große Chance, zur europäischen Kulturmetropole zu werden. Manch einer spricht gar von der Kulturhauptstadt Europas. Doch sollten wir vermeiden, wieder einmal