Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

Читать онлайн.
Название Das Blöken der Wölfe
Автор произведения Joachim Walther
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954629664



Скачать книгу

Ziel, das Heben des Blicks zum Horizont hin, dem wir uns zu nähern meinten und der doch fern blieb, ja, sich gar entfernte, das Heben des Blicks, um den Schmutz auf dem Weg nicht wahrzunehmen, wobei man, hoppla, schon mal über etwas stolperte, doch mit einem Scherzlied auf der Stelle weiterschritt, eine makabre Melodie mit dem inquisitorischen Refrain, der heilige Endzweck rechtfertige die wenig menschenfreundlichen, doch offenbar unvermeidlichen Mittel. Der freiwillige Verzicht auf den Widerspruch, die Skepsis, die Distanz. So werden Anachronismen über die Zeiten gerettet. Die Bequemlichkeit des Vertrauens als Stütze der Gesellschaft. Der kindhafte Status der lebenslangen Unmündigkeit vom Vormund Staat nicht nur aufgezwungen, auch vom Mündel angenommen und also selbstverschuldet. Der Opportunismus als Produktivkraft. Blindes Vertrauen nicht als Defekt der Augen, sondern als Weigerung zu sehen. Das Delegieren von Verantwortung als ein feinvernetztes System allgemeiner, staatstragender Verantwortungslosigkeit. Die Zurücknahme der Fähigkeit zu zweifeln. Die selbstgerechte Zueignung der Rolle des machtlosen Opfers mit den populären Floskeln: Ich kann da sowieso nichts machen, die da oben machen eh, was sie wollen. Der Rückzug ins gemütliche Private als Mitschuld, ohne Täter zu sein. Vertrauen aus Trägheit. Vertrauen als Selbstschutz, denn wer vertraut, stellt nichts in Frage, und also braucht ihm auch nicht nachgestellt zu werden.

      Weshalb haben Sie noch im Herbst 89 gehofft, es würde sich eine neue, menschliche Form des Sozialismus entwickeln lassen? fragt mich einer der Studenten auf dem Zauberberg. Gute Frage. Und ich antworte: Die enttäuschte Hoffnung irrt quälend umher, ein Gespenst, das den Rückweg zum Friedhof verloren hat. Ein Satz von Bloch. Und eben dieses blochsche Gespenst, nicht das von Marx im Kommunistischen Manifest an die Wand gemalte, geht eben jetzt um in Europa, dem östlichen. Die Hoffnung, die trotz der offenbaren Perversionen darauf vertraute, auf dem rechten, dem gerechten Weg zu sein. Eine Epochenillusion des zwanzigsten Jahrhunderts, die nun vergeht und als Verlust empfunden wird, als Ent-Täuschung, obwohl der Verlust einer Täuschung doch eigentlich Gewinn sein und begrüßt werden sollte.

      Das alles scheint mir in der Rückschau von der Höhe des Zauberbergs und stark verkleinert durch die Europa-Ferne wie eine ungebührlich ausgedehnte Kindheit, eine selbstvollzogene Infantilisierung, die nun erkannt und mit dem Ruf quittiert wird: Wie konnte ich, wie konnten wir? dem Staat, einer Ideologie vertrauen, da dies doch völlig fehl am Platze ist, verschenkte Liebesmüh an taubem Liebesobjekt, da dort ausschließlich Kontrolle nötig ist und die Kultur der Transparenz statt der Unkultur der Transparente, hinter die sich so viel Unrat kehren lässt: Und der untergehende real pervertierte Sozialismus kann tatsächlich behaupten, eine ganze Menschheitsepoche vorausgewesen zu sein, denn wenn es der Zarismus nur zu potjomkinschen Dörfern brachte, so sein Nachfolger zu potjomkinschen Städten, ja Staaten. Und Menschen.

      Genug hiervon und über zwei Episoden hin zu etwas, das mir entschieden näherliegen sollte: ich, mein Selbstvertrauen. Zunächst die Episoden, die eine von Bruce, die andere von Jane.

      Bruce ist hier bei den Anfängern, wiewohl schon achtundzwanzig Jahre alt. Er war Rechtsanwalt in New-York-City, stieg aber aus und wollte etwas Neues, bewarb sich bei einer US-Firma, die im Herbst einen Unternehmensberater in Deutschland suchte, allerdings mit einer Bedingung: perfekte deutsche Sprachkenntnisse. Okay, sagte Bruce, der zu diesem Zeitpunkt kein Wort Deutsch sprach, okay, das lern ich diesen Sommer, no problem. Und er kam nach Middlebury in die deutsche Sommerschule, belegte sieben Wochen Deutsch, ist jetzt in der fünften und spricht bereits, ohne jede Hemmung, zwar nicht perfekt, doch durchaus verständlich, verblüffend gut angesichts der kurzen Zeit.

      Dieses Selbstbewusstsein ist mir ebenso fremd wie ich es bewundere, und ich attestiere mir selbst ein gestörtes Selbstvertrauen. Doch am Abend irritiert mich ebenjener Bruce mit einer scharfen Beobachtung meines Verhaltens. Wir sitzen nach der Premiere des „Woyzeck“ bei „Mister Up’s“, den wir, streng nach dem Sprachgelübde, kein Wort Englisch zu sprechen, „Herr Oben“ nennen, und trinken dünnes amerikanisches Bier. Die Stimmung ist gut, und gegen eins sagt Bruce zu mir: Sie müssen sehr selbstbewusst sein. Wieso? frag ich, irritiert von dem Befund. Nun, sagt Bruce, Sie sind als Einziger den ganzen Abend an einem Platz sitzengeblieben, alle anderen, ohne Ausnahme, haben die Stühle gewechselt. Er hat recht, es war mir nicht bewusst, und er deutet auch das Ganze. Sie, sagt er, erwarten, dass man zu Ihnen kommt, Sie stellen keine Fragen, Sie geben Antworten. Gut gesehen, Bruce, doch auch recht gedeutet? Zeugt nicht in Europa genau das Gegenteil von Selbstbewusstsein, nämlich auf die Menschen zuzugehen, andre ohne Scheu und Versagensängste und Minderwertgefühle anzusprechen? Ich weiß nicht, was ich von mir halten soll, denn hätte Bruce recht, bekäme das konstatierte Selbstbewusstsein einen Beigeschmack von Selbstzufriedenheit. Mir will eher scheinen, die ausgestellte Selbstsicherheit, die so statisch ist, trägt in sich den Zweifel, sie könnte, in Bewegung, sich als labil erweisen.

      Und nun zu Jane. Sie bat mich, einen Brief in deutscher Sprache auf grammatikalische Fehler durchzusehen. Sie schrieb an den Direktor eines deutschen Zoos: Sehr geehrter Herr Professor Soundso, ich bin Jane McKim, graduierte Studentin der Zoologie, und besitze durch mein Studium sowie durch Praktika in verschiedenen, bedeutenden Tierparks der USA große Erfahrungen, speziell bei den Paarhufern. Ich würde meine theoretischen wie praktischen Kenntnisse Ihrem Tierpark für ein Semester gern zur Verfügung stellen … usw. Ich sagte: Liebe Jane, ganz falsch, du musst schreiben: Sehr geehrter Herr Professor, ich habe von Ihnen und Ihrem bedeutenden Zoo schon sehr viel Positives hier in den Vereinigten Staaten gehört, und deshalb wende ich mich an Sie mit der Bitte, in Ihrem Zoo ein Praktikum absolvieren zu dürfen. Mein spezielles Interesse gilt den Paarhufern, und ich bin davon überzeugt, es gibt keinen besseren Mentor und Platz als Sie und Ihren Zoo, um meine bescheidenen Kenntnisse sowohl wissenschaftlich wie praktisch zu erweitern … usw. usf. Jane schüttelte lächelnd den Kopf, unsicher, ob ich sie nicht etwa veralbern wolle, sagte aber schließlich: Okay, ich glaub’s dir, aber komisch seid ihr schon da drüben in Europa, sehr komisch.

      Und Bruce und Jane sind nicht allein, allerorten stößt man hier auf dieses verblüffende Selbstvertrauen. Es scheint ein Stück Amerika, dieses positive Denken, dieses selbstbewusste Vorwärtsgehen, diese Überzeugung, alles zu können, zu erreichen, wenn man nur will.

      Oben auf dem Berg von Middlebury ist alles sanfter, doch unten im Tal, im Ort, wo sich die Autos stauen und der Otter Creek rauschend über das felsige Wehr fällt, da benutzt Texaco das Wort Vertrauen auf seine Weise, und das klingt so: You can trust your car to the man, who wears the star, the big bright Texaco star. Entzaubert das Wort, säkularisiert, abgesunken in die Sprache der Werbung. Monochrom, eindeutig, wie der Spruch bei „Mister Up’s“: Do something – lead, follow, or get out of the way. Da trete ich dann schon lieber beiseite, lasse die Führenden und die Geführten passieren und staune, wie man die Welt immer wieder und wo auch immer in diese handlichen Entweder-oder-Maße presst. Dort das geradlinig Gesunde, hier das Zaudern, angekränkelt von des Gedankens Blässe. Entscheidungsschwäche, mangelndes Selbstvertrauen, endloses Kreisen um das polychrom changierende Sowohl-als-auch. Das klingt, als wäre diese Haltung edler, als läge in ihr ein Heil. Da nun aber liegt es ziemlich sicher nicht.

      Verlässlich ist das Eindeutige. Das festumrissene, konsistente Ich. Das Ich, das sich tautologisch definiert: Ich bin ich. Und: Ich bin so, wie ich bin. Nicht sehr ergiebig, doch äußerst praktikabel. Jemanden du zu nennen, setzt ein Ich im Gegenüber voraus. Wo dies nicht ist, geht das Du ins Leere, daneben, zwischen die Facetten, aus denen dieses Ich besteht, das sich selbst nicht kennt und ständig pendelt zwischen wechselnden Identitäten. Heute so, morgen so, und übermorgen wieder anders. Das macht das Leben schwierig, für diese Menschen und die neben ihnen. Sie mit dem Pluralis majestatis anzusprechen, machte Sinn, nicht: Sag mir, wer du bist, sondern: Sagt, wer Ihr seid. Dabei sind sie ausgesprochen umgänglich, weil anpassungsfähig, wenn nicht anpassungssüchtig. Ich finde, dass besonders – halten zu Gnaden – Frauen dazu neigen. Wobei dies zunächst ein Lob der Frauen ist, die, wenn sie lieben, bedingungsloser lieben als die meisten Männer. Doch dieses hingebungsvolle Sichvergessen ist der Anfang vom Ende eines ebenso häufigen wie tückischen Beziehungsmusters. Sie passt sich an, geht auf in Liebe, dem temporären Irresein, dem lustbetonten Realitätsverlust, und meint, die eigene Identität im anderen zu finden, im Verschmelzen. Hingabe als Aufgeben. Und der Mann wähnt, so, wie sie sich gibt, sei sie wirklich, und er freut sich und hält es für ein Geschenk des Himmels, dass sie so wunderbar zusammenpassen, und beginnt,