Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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ertönen und schrie auf in Noldes Kreuzigungstriptychon. Während Lehmbrucks Knieende wie eine Gerte schwankte, schossen Klees goldener Fisch und die blauen Pferde von Marc aufgeschreckt in den Krieg von Dix hinein. Kokoschkas Windsbraut riss die Türen der Ausstellungshalle auf: Alltäglich nahmen zwanzigtausend Besucher Abschied von den achtbaren Geächteten.

      Einige Tage später: Die Gefolgsleute defilierten ehrfürchtig vor dem Palast, in dem der Retter wohnte. Die ganze Nacht hindurch hatte in seinem Studierzimmer das Licht gebrannt, und heilig-ergriffen gedachten sie des einsamen Regenten, der nur Arbeit kannte und demütig die Last der Erwählung und Verantwortung trug. Ohne Frauen und Vertraute, ohne Freunde und Trauer lebte er droben, einzig um das Wohl der Nation besorgt.

      Als Ahi in der elften Stunde erwachte, sorgte er sich vorzugsweise um sein Aftersausen und das Ekzem am linken Unterschenkel. Nach hypochondrischer Überprüfung der Körperfunktionen döste er eine lange Weile und erinnerte sich an die kurzweilig-exklusive Nacktrevue und den „Fledermaus“-Film von gestern Abend. Ein hübsches, erfrischendes Singspiel, das Appetit auf Esslinger Sekt weckte, zudem lehrreich in der Methode, das Volk zu zerstreuen und zum Einverständnis mit Schicksalsfügungen zu erziehen. ‚Glücklich ist, wer vergisst …‘ Ach, niemals vergaß er das süße Nichtstun in seiner Wiener Zeit! Ausgestattet mit Erbschaftsgeldern und den kleinen Erträgen der Kopisterei hatte er sich unbekümmert dem Theater, der Bohème und der Malkunst widmen können, wobei professorale Dummköpfe freilich seine Begabung nicht erkannten. Heute würden sie staunen, die Trottel, denn Genie war im Grunde Faulheit und kam auch im Müßiggang zu dem Ziel, sich beispielsweise als der größte Deutsche zu offenbaren.

      Durch derartige Gedankenarbeit ermuntert, beschloss Ahi, gemächlich aufzustehen und sich mit Zeitungslesen, Papierbekritzeln und Kuchenessen zu beschäftigen. Befriedigt las er vom 100 000-Kilometer-Marsch mischpokiger Jedermanns in siebzigjähriger Daseinsfrist und der kasernierten Knabenschulung im alten Sparta, ferner von Forschungen zur Gewinnung höchster Spannungen und Energien. Um ein Uhr wandelte er zum Empfangssaal hinüber, wo er vor versammelten Gangstergranden beim frugalen Mahl ausschweifend zu monologisieren begann.

      Nach bescheidener Würdigung seiner eigenen Verdienste um die Überwindung der Arbeitslosigkeit und die militärische Stärkung des Reiches sprach er von der Notwendigkeit, das Errungene zu festigen. Kundig verwies er auf das Beispiel der Spartaner, die bereits in früher Jugend diszipliniert und in Feldlagern zu Kriegstüchtigkeit und Autoritätsgläubigkeit erzogen worden seien, bevor sie vom 20. bis 60. Jahr frohgemut ihrer Wehrpflicht genügt hätten. – Dieses Glück der perfekten staatlichen Lebensregelung wolle er endlich auch dem deutschen Volk bescheren. Darum wünsche er, dass die Menschen keinen Augenblick des Tages allein gelassen würden. Zwar müsse man leider den Schlaf noch als Privatsache betrachten (nicht ohne regierungstreue Träume zu fordern), doch im Übrigen sollten die Leute stets eine rege Schaffenskooperative bilden und sich zu gemeinsamem Urlaub, Gelage und störfreiem Rundfunkempfang zusammenfinden. Jeder möge des anderen Wächter sein. Um die Geburtenfreudigkeit zu heben, verordne die Obrigkeit patriotischen Beischlaf und pro Frau ein Plansoll von vier Kindern. Den Malern, Literaten und Musikern falle die Aufgabe zu, seine Leit-Ideen auszugestalten und Männer und Frauen für das schöne, arbeitsame Schowi-Dasein zu begeistern. Wie jüngste Vorgänge zeigten, gäbe es allerdings noch Künstler und Intelligenzfatzken, die sich einbildeten, sie könnten weiterhin ihre absurden, freiheitstrunkenen Ausgeburten anbieten. Falls die Herren nicht bald begriffen, was man von ihnen erwarte, werde zu überlegen sein, ob man sie nicht, sozusagen, ausrotten solle – oder dergleichen.

      Der Boss redete in charmantem Plauderton, während er vegetarische Kost genoss. Sein Gesicht verriet keinerlei Empfindungen. Bisweilen wischte er mit der Serviette das bärtige Bürstchen über dem schmallippigen Mund ab. Er trank weder Bier noch Wein, sondern dünnen Tee, den er reichlich süßte. Früher als gewohnt, erhob er sich. Sein Wink galt dem Bauinspektor Alverich, den er aufforderte, ihn ins „Empyreum“ zu begleiten.

      Durch den Diplomatengang schritten die beiden Männer zur „Galerie“ hinüber, in der Ahi Scheinwerfer aufflammen ließ: Ein Modell der Hauptstadt des künftigen Germanischen Weltreiches wurde sichtbar. Von der maßstabgerechten Attrappe eines Triumphbogens erstreckte sich die Prachtstraße des Berliner Zentrums, gesäumt von den Gebäudeklötzen der Ministerien, Luxushotels und Vergnügunsstätten. Am Ende der Avenue erhob sich der leuchtende Dom des Volkes, in dem der Imperator einstmals vom goldenen Thronsessel aus eine Versammlung von 150 000 Gefolgsleuten zu überschauen gedachte.

      Zwischen den Spielzeughäusern kauernd, fantasierte Ahi: „Ich werde diese Metropole gigantischer ausgestalten als Mekka, Athen und Rom. Aus allen Ländern der Erde sollen die Menschen hierher pilgern, nachdem ich jedes Konkurrenzkapitol zerstört und alles Großartige von der ägyptischen Sphinx bis zum Eiffelturm am Spreeufer aufgebaut habe. Nicht jeder sieht mich, wenn ich auf der höchsten Tribüne stehe, doch jeder fühlt mich. Und in einem gewachsenen Felsblock hinter der Oper werden Steinmetzen mein ewiges Antlitz meißeln als Monument für Jahrtausende.“

       Mein lieber Jab!

      Es ist ja ’ne Wucht, dass Du mich durch ein Suchbüro aufgestöbert und gefunden hast. Mensch, Junge, nach drei Jahren endlich wieder etwas von Dir zu hören – darüber bin ich ganz jeck vor Freude! Jedenfalls vielen Dank für Deinen Brief vom 10.8.47, der mich beinahe pünktlich an unserem „Gedenktag“ erreichte. Seinerzeit, vor einem Dezennium, wussten wir noch nichts von der großen Pleite, die uns bevorstand: Von überstürzter Pennäler-Pensionierung“, Kommissdienst und Krieg, Niedergang und Heimatlosigkeit. Aber trotz ständiger Gefahr des Ablebens überlebten wir, um schließlich aufzuleben. – Jetzt schmeiße ich hier in Berlin (zusammen mit meiner Mutter) einen Laden. Wir handeln mit Büchern gemäß dem Sprichwort: Während der Klügling noch denkt, handelt der Grünling schon. Ein guter Job, lieber Jab! Und Du bewachst inzwischen Hamburger Nachtlokale? Da Du stets ein unternehmungslustiger Boy warst, wundere ich mich nicht darüber. Erzähle doch bald mal etwas mehr von deinen Abenteuern.

      Nun erinnerst Du an unseren Blutsbrüderschwur vor zehn Jahren. Auch ich entsinne mich genau, wie wir mit dem Fahrrad in den Donnerwald fuhren und schweigend unter ein Mistelkreuzholz traten. Dann desinfizierte ich mit sechzigprozentigem Äthylalkohol eine Nähnadel und unsere Zeigefinger, ritzte die Kuppen und ließ das Blut in eine halbgefüllte Mineralwasserflasche tröpfeln. Nach feierlichem Beistandsgelöbnis tranken wir die sanguinische Limonade und riefen Hugh!

      Merkwürdigerweise fällt mir sonst von Anno dunnemals wenig ein. Vielleicht deshalb, weil wir eine anonyme Gruppe bildeten und uns gewissermaßen zu entpersonalisieren trachteten. Die Psychologen behaupten ja, dass man in diesem Alter gefühlsarm sei, zur Nivellierung neige und keine Besonderheit wünsche außer jener, abgewetzt und schmuddlig herumzulaufen „wie alle“. Dennoch muss es gemeinschaftliche Begeisterungen gegeben haben. Sobald ich nämlich beginne, Geschichtliches exakt zu datieren, tauchen plötzlich die dazugehörigen individuellen Geschichten auf. Ob es Dir ebenso geht? Die Angel der Historie verhilft dazu, Provisorisches und längst Vergessenes aus dem „privaten“ Unterbewusstsein heraufzuziehen, wobei es nicht selten zu Überraschungen kommt. Zum Beispiel glaubte ich immer, ein katastrophales, mich stark beunruhigendes türkisches Erdbeben habe in unserem „Schwurjahr“ stattgefunden, aber eine Zeittafel korrigiert mich und weist das Ereignis zwei Jahre später aus. Unser Schutz- und Trutz-Eid hingegen hing ganz sicher mit einer gerade aktuellen, tragischen Himalaja-Expedition zusammen.

      Weißt Du noch, wie wir uns im Kino den „Nanga Parbat“-Film anschauten? Uns faszinierten sieben deutsche Sahibs oder Höhenforscher, die durch Kaschmirland zur dajarmurischen Schneegrenze ritten. Dann erblickten wir grandiose Bilder und Szenen vom Aufstieg: vermummte Gestalten mit Sonnenbrillen, Stecken und Halteseilen; einen sich windenden, tausendfüßlerähnlichen Trägertross am Steilhang; Zeltlager auf nackten Plateaus; die Artilleriesalven der Gletscher, deren Eisschollen aus den Flanken des lichtumfluteten Gipfels niederkrachten, am Felsgestein zerbarsten und in winzige Kristalle zerstäubten. Ungeheuer erregend war die Belagerung der sturmumtosten, eingenebelten „Gralsburg“ überm Firngrat des Silbersattels; endlich die Vorbereitung des Angriffs auf eine der höchsten Zinnen der Welt, bis