Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf. Uli Wittstock

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Название Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf
Автор произведения Uli Wittstock
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783954627929



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waren: Ein großes Auto für den Haupternährer der Familie, (Akademiker, Mitte vierzig, verheiratet, gehobenes Einkommen als Beamter oder Angestellter in der Stadt) und ein kleineres gebrauchtes Auto für die Ehefrau (Ende dreißig, Akademikerin, seit dem ersten Kind Hausfrau, seit dem zweiten Kind in Teilzeit). Platz für beide Autos, beide Kinder, ein Einfamilienhaus und auch noch einen Hund gab es in Bardorf zu unschlagbar günstigen Preisen, sodass das ehemalige Bauerndorf die Einwohnerzahl in den letzten Jahren vervierfachen konnte. Wachsen gegen den Trend nannte das der Ortsbürgermeister von Bardorf und trieb seinen Gemeinderat an, weiteres Bauland auszuweisen, als wolle er alsbald einer Kleinstadt vorstehen.

      Es hupte. Das bräsige Tröten einer aufstiegsorientierten Mittelstandslimousine. Der Golf vor ihm war zwei Meter vorgerückt, Schneider setzte nach, und er war kaum angefahren, da rollte auch schon sein Nachfolger. Schneider bremste und beobachtete den Mann hinter ihm, der mit überraschter Miene beidhändig in das Lenkrad griff. Am Steuer zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen, pflegte seine Frau Irene festzustellen, und Schneider war durchaus geneigt, ihr in diesem Fall zu zustimmen. Im Übrigen waren die Schneiders untypische Bardorfer, kein Zweitwagen, kein Erst- und auch kein Zweitkind und auch keinen Hund, obwohl Schneider die Anschaffung eines solchen erwog. Was sie aber mit vielen Bardorfern einte, war der Besitz eines Reihenhauses, wobei das Wort Besitz aus Sicht ihrer Bank nicht ganz richtig war, denn erst kurz vor Erreichen der Rente würde das Häuschen abbezahlt sein, auch diesen Umstand teilten die Schneiders mit vielen anderen Bardorfern, oder besser gesagt, sie teilten die Hoffnung, diesen Umstand zu erreichen.

      Die Kolonne rückte ein paar weitere Meter vor, und Schneider konnte nun zumindest das Straßenschild sehen, welches eine Fahrbahneinengung in dreihundert Metern ankündigte. Das Auto hinter ihm war jetzt so dicht aufgefahren, dass Schneider nicht mehr das Nummernschild lesen konnte. Er ließ sich etwas vorrollen, suchte in seiner Jackentasche nach einem Stift und notierte sich das Kennzeichen. In diesem Moment merkte er, wie seine Laune sich besserte. Rechts hinter der Brücke konnte er schon die Windräder von Bardorf sehen, von dort waren es nur wenige Hundert Meter bis zum Elsterweg zwölf, wo seine Frau mit den Abendessen auf ihn wartete. Und wie so oft drehten sich die Räder nicht, was Schneider immer wieder verwunderte. Selbst bei gutem Wind blieben die Flügel starr, als wären sie eingerostet. Schneider hatte sich sogar schon gefragt, wer für das Schmieren der Windräder zuständig sein könnte. Wie auf so vieles konnte er auch die Antwort darauf in Bardorf finden, denn einer der größten Windmüller hatte hier seinen Stammsitz, in einem alten Familiengehöft mitten im historischen Dorfkern. Von dem allerdings trennte ihn noch immer die Brücke. Und über die musste er erst mal kommen, denn in den letzten Minuten hatte sich die Kolonne überhaupt nicht mehr bewegt.

      Missmutig schaltete er das Radio ein. In diesem Moment fiel ihm auf, dass der Sender, den er täglich auf seinem Arbeitsweg hörte, der aktuelle Tatort war.

      „Das Beste aus den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern und aus dem neuen Jahrtausend“, krähte eine aufgekratzte Stimme, die eigentlich zu jung klang für die Menschen, die Schneider am Morgen im Funkhaus gesehen hatte. Aber vielleicht war das Ganze nur die Folge einer akustischen Manipulation. Schneider glaubte grundsätzlich keinem Medienprodukt, eine Haltung, die er mit seinem Erfahrungsschatz begründete und bereit war, auch gegen die eigene Pressestelle zu verteidigen. Die Musik schien der passende Soundtrack zum Stau zu sein, wann immer der Refrain einsetzte, ging es ein paar Meter nach vorn. Nach zwei weiteren Liedern änderte sich das allerdings.

      „Es ist 19 Uhr – die Nachrichten. Der bekannte Entertainer Manfred Wilkhahn ist tot. Er wurde heute leblos in einem Büro unseres Senders aufgefunden. Die Polizei hat die Ermittlungen übernommen. Weitere Hintergründe sind nicht bekannt. Geschäftsführer Malchwitz sprach von einem großen Verlust für den Sender und die Fans des Moderators. Es liege im Interesse des gesamten Funkhaus-Teams, die Hintergründe des Vorfalls aufzuklären.“

      Inzwischen war die Lücke vor Schneider so groß geworden, dass der Fahrer des BMW an ihm vorbeischoss, beinahe eine der Warnbarken streifte und sich im Vorbeifahren zu Schneider hinüberdrehte. Es schien so, als ob er schimpfen würde. Schneider war tatsächlich überrascht. Eigentlich war verabredet worden, die Meldung erst am späten Abend zu bringen, sodass die Zeitungen sie nicht mehr als Aufmacher auf der Seite eins bringen konnten. Jetzt allerdings hatten die Chefredakteure genügend Zeit, die Druckmaschinen anzuhalten. Schneiders Handy klingelte.

      „Die reden von Vorfall. Das ist unglaublich. Woher haben die überhaupt die Information?“

      Polizeipräsident Kleinjung war am Telefon.

      „Ich kenne den Malchwitz sogar persönlich. Ich frage mich aber ernsthaft, wozu ich mit diesem Funkhausmenschen überhaupt in einem Verein bin, wenn der sich nicht an Absprachen hält. Fair ist das doch nicht, oder? Ist ja auch egal. In jedem Fall sehen wir uns morgen um halb acht. Vollständig. Damit das klar ist. Und ich will einen Statusbericht. Der Innenminister hat mich auch schon angerufen. Wir verstehen uns doch, oder?“

      Dann legte der Polizeipräsident auf. Schneider hatte den Hörer noch in der Hand, als er über die Brücke fuhr.

      Mit deutlicher Verspätung und einiger Verstimmung kam Schneider im Elsterweg an, hielt vor der Garage und riss an der Handbremse, als hinge das Auto über einem Abgrund.

      Irene Schneider arbeitete als Musik- und Englischlehrerin, war also wirtschaftlich unabhängig und hatte den Umstand eigentlich nie bereut, vor nunmehr über zwanzig Jahren geheiratet zu haben. Sie waren nur wenig später nach Bardorf gezogen, wo Irene Schneider inzwischen die zweite Generation der Dorfkinder unterrichtete, auch wenn die inzwischen in der Minderheit waren. Die Brücke zur Stadt musste Irene Schneider nur selten passieren, zum Beispiel um Konzerte des städtischen Klangkörpers zu besuchen, insbesondere wenn die von ihr so geliebten Russen notenschwer auf den Pulten lagen.

      „Das ist eine Wanderbaustelle. Heute Mittag fing es an.“

      Irene Schneider bezog ihre Informationen aus dem Lehrerzimmer, ein überaus zuverlässiger Ort, wenn es darum ging, über die aktuellen Entwicklungen in Bardorf auf dem Laufenden zu sein. Seit den letzten Landtagswahlen hatten die Bardorfer keinen Vertreter mehr in der Landesregierung, weder im Kabinett noch auf der Ebene der Staatssekretäre. Das hatte es seit Einführung der Neuen Geschäftsgrundlagen nicht mehr gegeben, und entsprechend misstrauisch verfolgten die Einwohner die politischen Entscheidungen jenseits der Brücke, vor allem seitdem bekannt geworden war, dass der Verkehrsminister auf die andere Seite der Stadt gezogen war, ein Zugewanderter, der dem bislang wenig beachteten Süden den Vorzug gegeben hatte. Es war klar, dass seitdem jedes Bardorfer Schlagloch als politischer Misstrauensantrag derer da im Süden gewertet wurde, und dass die Menschen wohl informiert waren über Wanderbaustellen, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Markierungs- oder Mäharbeiten. Und weil die Bardorfer Schule nicht nur mehrere Generationen verband, sondern auch Eltern aus Politik und Landesverwaltung, war die Schule jener Ort, wo alle Informationen zusammenliefen und erst in der Summe ihre glasklare Faktizität erfuhren.

      „Wanderbaustelle.“

      Frank Schneider wiederholte das Wort wie einen pathologischen Befund. Da saß er bereits am Tisch, den seine Frau liebevoll dekoriert hatte. Mehrere große, grüne Strünke, deren gelbe Dolden irgendwie nach Benzin rochen, versperrten den Blick auf die Schüsseln.

      „Ich dachte, wir feiern heute mal diesen schönen Maitag.“

      Irene Schneider griff nach dem Teller ihres Gatten, bevor der etwas sagen konnte, und schaufelte zwei Kellen einer grünen Menge auf, die Frank Schneider nach grober Begutachtung für eine Form von Spinat hielt. Dazu gab es, wie häufig im Hause Schneider, rohe geviertelte Champignons, von denen seine Frau der festen Überzeugung war, sie würden wertvolle Spurenelemente enthalten.

      Es war aber kein Spinat. Die grünen Blätter schmeckten so chemisch, wie die gelben Blütenstrünke auf dem Tisch chemisch rochen. Da fiel Frank Schneider ein, warum er sich an eine Tankstelle erinnert fühlte. Sie aßen Rapsblätter.

      „Mit Pinienkernen“, setzte seine Frau hinzu und Frank Schneider war froh, dass es sich nicht um frittierte Mehlwürmer handelte.