Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf. Uli Wittstock

Читать онлайн.
Название Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf
Автор произведения Uli Wittstock
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783954627929



Скачать книгу

und innerlich aufgewühlt machten sich dann die Gäste an die Besteigung der Anhöhe. Im Landesentwicklungsplan war eine Höhe von dreiundvierzig Metern ausgewiesen, nicht ausgewiesen war der katastrophale Weg auf den Gipfel hinauf. Fußläufig hatte die Pressestelle des Ministeriums in der Einladung vermerkt, dabei aber übersehen, dass es sich um einen landwirtschaftlichen Nutzweg handelte, der überwiegend von Traktoren befahren wurde. In Ermangelung von Gummistiefeln hatten einige ihre Hosen bis zu einer Handbreit über dem Knöchel hochgeschlagen, was der Delegation einen gewissen interkulturellen Anstrich gab. Die Erde, ob ihrer Fruchtbarkeit seit Jahrhunderten umkämpft, wölbte sich in schwarzen Kämmen, deren Buckel zu einem schmalen Grat sich verjüngten. Wie Wellenreiter arbeiteten sich die Männer nach oben, schlammbespritzt bis zu den Knien und immer größere Lücken lassend, denn Bürgermeister und Honoratioren hatten wohl in den letzten Jahren noch nie so viele Meter zu Fuß zurückgelegt.

      Auf der Höhe lag ein ziemlich großer Feldstein und den erklomm nun der Investor, zeigte mit ausladender Geste auf das Gelände rundum und verkündete den Beginn einer neuen Zeitrechnung für Dunkersleben. Es werde an diesem Ort Technologiegeschichte geschrieben, von der noch nachfolgende Generationen in den Schulbüchern lesen würden, und diese Generationen würden dankbar von mutigen Menschen erfahren, Entscheidern, die das Tor in die Zukunft auch gegen Widerstände aufgestoßen hätten.

      Während der kurzen Rede hatte Dr. Friedbruch den Eindruck, als würden die Dunkerslebener Abgesandten allmählich in der schwarzen Erde versinken, eine optische Täuschung möglicherweise, denn inzwischen waren Feuchtigkeit und Morast bis zu den Oberschenkeln hoch gestiegen. Der Investor sprang vom Stein und schüttelte allen Anwesenden die Hand, indem er sie beidseitig packte und kräftig hin- und herschwenkte, was die armen Dunkerslebener noch mehr verwirrte. Dann stellte er sich zu dem Minister, schlug ihm auf die Schulter und fragte: „Ich war doch gut, oder?“

      Und weil der Minister nicht antwortete, setzt er hinzu: „Ich sehe dich heute Abend beim Training.“

      Der Ortsbürgermeister und Parteifreund, der ohnehin schon den Eindruck hatte, verschaukelt worden zu sein, der leider noch nie zu einem Landesparteitag eingeladen worden war, und somit auch nicht direkt den schwarzhaarigen Zwerg aus der Stadt in den Parteivorstand gewählt hatte, jener Bürgermeister, der nur unter innerem Widerstand überhaupt zwei Plakate des Kandidaten zur letzten Wahl in seiner Amtsstube aufgehängt hatte, und nun von schweren Füßen geplagt war, nicht wegen des fruchtbaren Lehms, sondern wegen des sinnlosen Ausflugs auf jenen Hügel, der zufällig der Gemeinde gehörte und von ihm als Ortsbürgermeister verwaltet wurde, einem Ortsbürgermeister übrigens, der von über siebzig Prozent aller Dunkerslebener Wahlberechtigten gewählt worden war, was ihm mal einer in der Stadt nachmachen sollte, jener Bürgermeister also stand in diesem Augenblick so dicht am Geschehen, dass er hörte, wie der Investor und der Minister sich halb vertraulich verabredeten. Auch ohne jemals von seiner Partei um Rat gefragt worden zu sein, wusste er, was zu tun war.

      Während des Abstiegs hielt er sich dicht hinter dem Minister und in einem günstigen Moment, als sie zwischen zwei mächtigen Erdwulsten verschwunden waren, durch die eine Treckerspur führte, als sie also zwischen grünlichen Pfützen und glitschigen Feldsteinen balancierten, sagte der Ortsbürgermeister: „Wir brauchen eine Umgehungsstraße.“

      In diesem Moment wusste der Minister, dass der Tag verloren war. Das Fahrgeräusch war inzwischen leiser geworden, denn hier im Umkreis der Stadt ließ der Verkehrsminister die Straßen regelmäßig erneuern. Auch hatten sich die Felder geändert, Raps blühte nun auf den großen Schlägen, durch die getönten Scheiben der Limousine in einem schmutzigen Braunton getaucht. Da klingelte das Handy, eine kurze Stafette von Piepstönen.

      „Lief doch gut oder?“

      Es war die Stimme des Investors Jens von Sasse, der zugleich als Linksaußen in der Oldie-Mannschaft jenes Klubs stürmte, in dem Dr. Henning Friedbruch im Mittelfeld spielte und zugleich Präsident war. Er drückte sich noch tiefer in die gepolsterte Rückbank. „Es wird schwierig werden. Die haben den Braten gerochen.“

      „Und was nun? Sollen wir einen neuen Standort suchen?“

      „Wichtig ist jetzt, Ruhe zu bewahren. Nicht dass wir einen weiteren Fehler machen.“

      „Ich verlass mich ganz auf dich. Übrigens hast du gehört? Wilkhahn ist tot.“

      „Der Wilkhahn vom Fernsehen?“

      „Ja, der. Hat der nicht den Wahlkampf für dich organisiert?“

      „Er hat zwei Podien moderiert, sonst nichts. Allerdings so fett, wie der war, das wundert mich nicht.“

      „Unnatürlich.“

      „Nein. So schlimm war es nun auch nicht. Unnatürlich fett sieht schon noch anders aus.“

      „Er ist unnatürlich gestorben. Genauer gesagt – er wurde umgebracht. Mehr weiß ich aber auch nicht.“

      „Danke für den Hinweis. Ich rufe mal den Polizeipräsidenten an. Schließlich bin ich der Innenminister.“

      Dann legte er auf und blickte durch die Scheiben auf die Landschaft, in der sich nun die ersten Vorortsiedlungen mutig gegen all das Ackergrün verteidigten. Das Handy hielt er noch in der Hand, während er überlegte. Dann aber rief er nicht den Polizeipräsidenten, sondern den neuen Rechtsaußen der Profimannschaft jenes Klubs an, für dessen Wohlergehen er als Präsident zu sorgen hatte, immer darauf bedacht, zwischen seinen Aufgaben als Sportminister und den Aufgaben als Vereinschef sorgfältig zu unterscheiden.

      „Kevin Sparenke.“

      Alle Spieler der Profikaders waren angehalten, auch am Telefon bürgerliche Umgangsformen zu waren.

      „Du gehst morgen in jedem Fall zum Lehrgang. Egal was passiert. Sag das auch den anderen. Das ist eine Frage der Ehre.“

      Dann beendete er das Gespräch. Es hatte knapp zwanzig Sekunden gedauert.

      Ein Feuerstoß von etwa zwanzig Millivolt, für den Zeitraum von ein paar tausendstel Sekunden, schoss durch die unzähligen Synapsenspalten im Hirn von Melinda Treu, eine Erregung, ausgelöst irgendwo vor der zentralen Furche zwischen Stirn- und Scheitellappen, dort wo sich etwa zwei Zentimeter breit der primäre Motorcortex erstreckt. Der Reiz setzte sich über die Pyramidenbahn fort, vorbei an der Medellín oblongata in das Rückenmark und von dort weiter über den rechten Arm und die Handwurzel bis zum beringten Zeigefinger von Melinda Treu. Der schwebte nur wenige Zentimeter über dem Druckschalter des Kanals von Mikrofon eins und als das Millivolt-Feuer die Wurmmuskeln des Zeigefingers erreichten, zog der sich zusammen, sodass die Fingerkuppe auf den Druckschalter des Kanals von Mikrofon eins fiel, einen Impuls auslöste, welcher zwölf Volt Wechselstrom auf einen Motor schickte, auf dessen Welle ein Zahnrad surrte, welches einen Schieberegler hochschießen ließ, sodass nach dem Erreichen der Steuerspannung der Senderechner den Mikrofonkanal freigab. Zudem löste jene Spannung ein Signal im Licht-System aus, wodurch über der Studiotür die Lampen von Gelb auf Rot wechselten, und, durch direkte Verschaltung, auch die kleinere Ausführung auf dem Sendepult nun rot aufleuchtete und damit nun einen offenen Mikrofonkanal anzeigte.

      „UKW, KKW alles Schnee. Hier ist Grauzone FM, euer Sender für den Feierabend. Heute wieder mit Melinda, natürlich live und nur im Netz. Weil wir die Guten von Morgen sind.“

      Dann schoss Melinda Treu auf Regler drei den Opener ab, ließ den Mikrofonfader wieder heruntersausen und schaltete auf Sendeautomatik.

      „Du sollst nicht einfach bei Rotlicht hier hereintrampeln.“

      „Die Tür stand auf.“

      „Die Tür steht immer auf, solange wir hier keine Klimaanlage haben.“

      „Außerdem hört das sowieso keiner deiner Nerds, ob hier jemand herumschlurft oder nicht.“

      Rainer Kloppke hatte sich jetzt bis zur Kaffeemaschine vorgearbeitet und ließ einen schwarzen Strahl in die Tasse laufen. Früher, als Melinda Treu noch beim richtigen Radio arbeitete, wäre es undenkbar gewesen, mit Flüssigkeiten