Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf. Uli Wittstock

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Название Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf
Автор произведения Uli Wittstock
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783954627929



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Radio und Rainer Kloppke auch kein normaler Sendeingenieur, denn als solcher hätte er die Kaffeemaschine vor die Studiotür verweisen müssen, dann allerdings hätte er auch nicht mehr Melinda Treu bei der Arbeit in ein lustiges Gespräch verwickeln können. Die rote Lampe leuchtete erneut auf.

      „Da seid ihr wieder, ihr Kinder des verlorenen Tages auf dem Vorhof zur Nacht. Viel ist heute nicht passiert. Die Stadt feiert den Frühling wie ein Kriegsende. Endlich Sonne, endlich Tische vor den Cafés. Hier der passende Sound dazu.“

      Sie ließ die Musik hochlaufen, mit einer weichen Blende, um die sie jeder DJ beneidet hätte.

      „Mann erst Montag und trotzdem schon schlapp.“

      Rainer Kloppke redete für einen Mann überraschend viel. Er war neben Melinda Treu der einzige Mitarbeiter von Grauzone FM. Beide waren fest angestellt und erhielten monatlich ein gutes Gehalt von einer beschränkt haftbaren Gesellschaft, die eigentlich im Reinigungsgewerbe tätig war. Täglich vier Stunden sendete Melinda Treu live, von achtzehn bis zweiundzwanzig Uhr, zu einer Zeit also, in der die Menschen eigentlich vor dem Fernseher den Tag ausklingen ließen. Doch weil Fernsehen mindestens genauso oldschool war wie UKW, hatte Melinda Treu sofort Ja gesagt, als ihr das Angebot zugetragen worden war, zumal sie gerade wieder einmal ihren Job verloren hatte. Seit sie moderierte, waren die Zugriffszahlen im Netz beständig gestiegen, und auch als Bloggerin hatte Melinda Treu inzwischen eine gewisse Prominenz erreicht.

      „Hier ist Grauzone FM – euer Programm für die Stunden im Zwielicht, und natürlich mit eurer zwielichtigen Melinda. Ihr habt es ja sicherlich schon gehört, am Sonnabend steht die Stadt Kopf. Ich meine nicht das blöde Fußballspiel. Das ist was für alte Herren. Nein ich meine den Tourstart von Kilian R. – in seiner Heimatstadt. Album und Tour heißen übrigens Apocalypso. Und ihr könnt dabei sein. Wer mir den besten Reim mit dem Begriff Apocalypso schickt, bekommt zwei Freikarten. Und hier ist Kilian R. – mit dem Monstertrack aus seinem letzten Album.“

      Der Regler drei schoss nach oben, das rote Licht erlosch.

      „Wolltest du nicht mit Kilian ein Interview machen?“

      Rainer Kloppke hatte sich einen weiteren Kaffee geholt und lehnte am Studiofenster. Das öffnete den Blick auf das Gewerbegebiet der Stadt, Flachbauten, in denen Fleisch kühlte, Pakete gepackt oder Altkleider sortiert wurden. Es gab Hallen für Baufahrzeuge, Tiernahrung, Autoteile und Haushaltschemie. Und obwohl die Stadt nicht an einem Fluss lag, gab es sogar ein Hafenbecken. Rainer Kloppkes Kopf ragte genau in jenen vom Studio sichtbaren Teil des Hafenbeckens.

      „Die Anfrage läuft. Ich denke, es wird am Freitag was. Da soll er angeblich eine Ausstellung eröffnen.“

      Mit einem kurzen „Bling“ meldete sich der Studiorechner.

      Melinda Treu blendete den Song mitten im Refrain, ließ dann den Mikrofonregler hochzischen.

      „Jan 23 hat uns eben geschrieben: Tanz ich den Apocalypso in der Nacht, ist Omi um den Schlaf gebracht. Naja Leute, das kann noch besser werden. Strengt euch an. Schließlich geht es um zwei Freikarten, nur hier bei Grauzone FM.“

      Kloppke grinste und stellte seine Kaffeetasse ab. Sein Oberkörper war in ein T-Shirt gezwängt, das inzwischen häufiger in der Stadt zu sehen war.

       Im Radio nur Schnee – Schluss mit UKW. Grauzone FM.

      Der Text wurde eingerahmt von zwei Sendetürmen, denen offensichtlich gerade das Fundament weggesprengt wurde.

      Eine weitere Mail lief ein. Melinda Treu schaltete sich auf Sendung.

      „Die Rothaarhexe schreibt: Zwei rechts zwei links, den Apocalypso tanzt jedes Kind. Naja ihr Lieben, da ist noch Luft nach oben. Nur hier bei Grauzone FM bringt euch eure Melinda in die Nacht.“

      Rainer Kloppke hatte inzwischen das Studio verlassen und war auf seinem ersten von insgesamt drei Kontrollgängen unterwegs, denn er war nicht nur als Netzwerkadministrator, Sendeingenieur und Audiotechniker angestellt, sondern auch als Sicherheitsexperte, und zwar sowohl online, wie auch offline, was zur Folge hatte, dass er das gesamte Gebäude während seines Dienstes mehrfach händisch zu überprüfen hatte, so stand es in seiner Dienstanweisung. Die Flure erstreckten sich über drei Etagen mit jeweils vierzig Büroräumen, die wie ein effizientes Beißwerkzeug paarweise gegenüberlagen. Die Türschilder waren blind und Rainer Kloppke hatte nach zwei Jahren seiner stetigen Kontrollgänge nicht den Eindruck, dass die Räume irgendwie genutzt wurden. Dennoch war es seine Aufgabe, an jeder Tür zu rütteln. Meist startete er mit raschem Schritt an der rechten Flurseite, ließ seine Hand über die Türklinken laufen und schlug sie kurz herunter. Am Ende des Flurs wechselte er auf die linke Seite und wiederholte den Vorgang, wobei er gelegentlich sich selbst ein aufmunterndes „Yeah“ oder „Wow, man“ zurief. An guten Tagen schaffte er alle drei Etagen in weniger als vier Minuten. Heute allerdings ging er es deutlich ruhiger an. Es war Montag.

      Im Flur zwei sah er eine zerknüllte Brötchentüte, die schon seit gestern dort lag, und nur vom Reinigungsdienst zurückgelassen worden sein konnte, denn andere hatten zu diesem Gebäude keinen Zugang.

      Als er zurückkam, lief die Sendung gerade ohne Melinda. Demzufolge war sie draußen und rauchte. Kloppke schüttete sich den letzten Rest Kaffee ein, dann schaltete er die Maschine aus.

      „Du siehst komisch aus. Was ist los?“, fragte er, als Melinda zurückkam.

      „Da gibt es eine seltsame Meldung, schau mal.“

      Melinda tippte auf die Tastatur und der Bildschirm flammte auf. wilkhahn – die sau vom schlammtal ist erstickt, an der eigenen drecks-musik.

      „Ich habe dann mal die Homepage von denen gefilzt. Schau mal was da steht.“

       In tiefer Trauer und Bestürzung geben wir bekannt, dass unser langjähriger Moderator Manfred Wilkhahn plötzlich verstorben ist. Voller Erschütterung können wir das Ausmaß des Verlustes noch nicht erfassen. Wilkhahn war das Gesicht und die Stimme unserer erfolgreichsten Sendeformate. Wir trauern mit seinen Fans. Möglichst zeitnah werden wir in einer Sondersendung das großartige Werk des Schlagerfreundes zu würdigen wissen.

      „Und was nun? Kanntest du den Typen?“

      „Ich war doch bei denen angestellt. Hast du das schon vergessen? Der Typ war eine echte Sau.“

      Der Mail-Computer flammte erneut auf. Melinda blickte kurz auf den Bildschirm, dann schnellte schon der Mikrofonregler hoch.

      „clearwater4 hat uns geschrieben. Wo der Apocalypso swingt, da lass dich locker nieder, denn wo die Seele schwingt, gibt’s keine tauben Glieder. Yeah, ihr Lieben da draußen, das war doch mal eine Ansage oder? Das großartigste Sendeteam vom großartigsten Grauzone FM hat nun also beschlossen – die beiden Freikarten gehen an clearwarter4. Herzlichen Glückwunsch. Und hier noch ein Gruß an alle Lebenden, wo immer ihr uns auch hört. Keep it rock.“

      Der Mail-Computer blinkte erneut auf: AYCB. Nur diese vier Buchstaben.

      Die Straße nach Bardorf war mit der Einführung der Neuen Geschäftsgrundlagen vierspurig ausgebaut worden, führte allerdings über eine viel befahrene Eisenbahnlinie, welche die Stadt weniger mit dem Umland, als vielmehr mit den anderen Metropolen verband. Dort aber, wo der motorisierte Umlandverkehr die Verkehrswege der Fernbahn kreuzte, kam es aus unerfindlichen Gründen mehrmals im Jahr zu erheblichen Störungen, die entweder den Autoverkehr oder aber die Bahn, nicht selten aber beide Verkehrswege betrafen. So war es also eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis nach dem allzu harten Winter die Frostschäden den Feierabendverkehr Richtung Bardorf zusammenbrechen lassen würden. Der Montag war dazu allerdings ein äußerst schlechter Tag, wie Frank Schneider befand, denn zum einen hatte seine Frau ihn gebeten, pünktlich zu sein, zum anderen wollte er wenigstens stichpunktartig die Sitzung für den nächsten Morgen vorbereiten, zu der er wegen der Prominenz des Opfers auch den Polizeidirektor erwartete. Vor ihm ein älterer blauer Golf Diesel mit einer dunkelhaarigen Frau am Steuer, hinter ihm ein BMW der gehobenen Preisklasse, von einem