Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf. Uli Wittstock

Читать онлайн.
Название Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf
Автор произведения Uli Wittstock
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783954627929



Скачать книгу

Schuhe vor dem Studiokomplex, die Ledersneakers von Kilian, die abgelatschten Sharks vom Sounddoc und die lang gezogenen Budapester vom Specialdoc. Die Schuhbesitzer lümmelten vor der großen Aufnahmekonsole. Der Zugriff auf die Regler war aber nur Kilian und dem Sounddoc gestattet. Es tickte ein Metronom und Kilian tippte mit dem Finger mit. Dann sagte er: „Das ist heute Morgen kurz nach zehn. 68 pro Minute.“

      „Es ist mir zu verschleppt.“

      Der Sounddoc tippte jetzt mit, setzte mit dem Fuß ein paar Synkopen.

      „Wir könnten es verdoppeln“, sagte er.

      Kilian schüttelte den Kopf und rief eine neue Datei auf.

      „Hier Messpunkt zwei, kurz nach vierzehn Uhr“

      Der Rhythmus lief nun etwas schneller.

      „Was hast du da gemacht?“, fragte der Sounddoc.

      Kilian blätterte in seiner Stundenkladde.

      „Ich habe einen Beitrag über die armen Bienen gesehen. Ich hatte Mitleid.“

      „Das ist gut, du liegst stabil bei 74.“

      „Also versuchen wir es mit dem.“

      Der Sounddoc nahm zwei Kabel von der Wand und ließ ihre vergoldeten Klinken in vier Buchsen des Steckfeldes einrasten. Dann fuhr er mit der Hand noch einmal über beide Verbindungen, bevor er zwei Regler aufzog.

      „Das ist jetzt die Bassdrum, also völlig roh.“

      Kilian hörte mit geschlossenen Augen zu. Niemand sagte ein Wort. Allmählich übertrug sich der Beat auf Kilians Körper, erst lösten sich die Finger seiner linken Hand, dann setzte der rechte Fuß ein. Noch immer sagte niemand ein Wort, bis schließlich Kilian erst die Augen und dann den Mund öffnete.

      „Das könnte gehen. Und was hast du uns angeschleppt?“

      Die Frage ging an den Specialdoc, der die ganz Zeit schweigend zugehört hatte.

      „Ein saucooles Teil. Rot, analog und sehr selten.“

      Er stand auf und griff hinter seinen Stuhl, um ein langes und offensichtlich nicht ganz leichtes Paket hervorzuziehen. Es war mit alten Decken umwickelt und wurde von einem dünnen Strick zusammengehalten.

      „Ne typische Dachmumie. Ein wenig muffig.“

      Alle drei beugten sich nun über den Tisch und ließen die Luft durch ihre Nasen strömen.

      „Riecht kaum feucht“, sagte Kilian.

      „Lag wohl neben altem Bettzeug“, sagte der Sounddoc.

      „Typisch Nordseite“, sagte der Specialdoc und zog sein Taschenmesser heraus.

      „Halt, noch nicht. Zerstör nicht diesen wunderbaren Augenblick. Was hat der letzte Besitzer gedacht, als er sein Instrument so verpackte?“

      Kilian fuhr mit seiner Hand über die Decken, dann ließ er sie dort liegen, wo wohl der Instrumentenhals war.

      „Wenn man sich konzentriert, kann man vielleicht noch ein Restschwingen spüren. Sollten später mal die Söhne auf dem Instrument spielen? Warum kam es dazu nicht? Das sind Fragen, die wir zum Klingen bringen müssen.“

      Vorsichtig stellte Kilian das Paket auf die schmale Seite und alle drei suchten so lange nach dem Knoten, bis der Sounddoc ihn gefunden hatte.

      „Vorsichtig. Ich will so viel Original wie möglich erhalten. Macht mal ein Foto, damit wir später den Knoten rekonstruieren können.“ Der Specialdoc ließ sein Handy aufblitzen, dann löste er vorsichtig die Verschnürung. Das Seil wickelte sich problemlos ab, dann löste sich an einer Stelle die Decke und der obere Teil eines feuerroten Corpus wurde sichtbar.

      „Unglaublich. Wie bei einer jungen Frau, wenn der Rock hochfliegt.“

      Kilian trat zurück und versuchte sich zu beruhigen, denn seine Hände zitterten bereits leicht. Die anderen beiden übernahmen den Rest, bis schließlich das Instrument vor ihnen lag.

      „Frühe Siebzigerjahre, tschechisches Bass-Modell. Damals unter dem Namen Jolana eingeführt.“

      Der Hals war breiter, als Kilian erwartet hatte. Am Steg und dort wo die Regler für Sound und Lautstärke aus dem Korpus ragten, waren leichte Gebrauchsspuren zu erkennen. So weit war alles in Ordnung, aber es fehlten zwei Saiten. Der Sounddoc sah die Enttäuschung in Kilians Gesicht. Er hatte jetzt nur wenige Sekunden, um den Abend zu retten.

      „Das ist schade, aber wir können das sampeln.“

      Kilian zeigte keine Regung. Mit dem Finger schnipste er an der tieferen der beiden Saiten, die, obwohl sie kaum gespannt war, ein ganz leises Schnarren hören ließ. Kilian lächelte.

      „Wir machen das.“

      Der Sounddoc griff sich den Bass und wechselte in das Studio, wo er das Instrument verkabelte. Dann drehte er einen der Mikrofongalgen näher zu sich heran und gab Kilian mit der Hand ein Aufnahmezeichen.

      „Jolana Bass Rot, Erstkontakt“, sprach er in das Mikrofon, dann ließ er die Saite schwingen und drehte vorsichtig die Lautstärke hoch. Die Saite schlug gegen die Bundstäbe, sodass ein Klirren das Signal begleitete. Die tiefere Seite klang etwas klarer.

      „Wir müssen das Baby aufwecken“, rief der Sounddoc in das Mikrofon und drehte vorsichtig an den Wirbeln. Die anderen beiden schauten ihm durch das Studioglas zu. Das war einer der riskantesten Augenblicke überhaupt, denn es konnte durchaus passieren, dass die alten Saiten beim Stimmen rissen.

      „Die D-Saite habe ich jetzt auf C gebracht. Hier lasse ich sie erst mal.“

      Er riss erneut die Saite an. Ein mulmiger Ton ließ die Boxen mehr brummen als klingen, und dass da eigentlich Metallsaiten schwangen, war kaum zu hören.

      „Großartig“, schrie Kilian hinüber ins Studio.

      „Voll der Siebziger-Sound. Jetzt brauchen wir nur noch ein fettes Originalsample.“

      „Schon in Arbeit“, sagte der Specialdoc.

      „Morgen kann ich liefern.“

      Montag war Zahltag, immer nach zwanzig Uhr, wenn die Einnahmen vom Sonntag längst überwiesen und die Wochenrationen für Bier und billiges Fleisch schon geordert waren und die neue Woche frisches Geld für die schwarzen Kassen erwarten ließ. Der Zahltag hatte eine lange Tradition in dem Viertel hinter den Gleisen, die in der Stadt den Fluss ersetzten. Und dort, im Karree von Bahnhofstraße, Eichweg, Hanseplatz und Scheunenstraße, zahlten die Besitzer von Trinkhallen, Stundenhotels, Wettbüros und Spielsalons ihr Schutzgeld, als wäre das eine Art Brauchtum, denn der Grund für den Schutz war längst in Vergessenheit geraten. Im trüben Licht ihres Feierabends und mit schwerer Zunge erinnerten sich die alten Kellner manchmal noch an jene Zeiten, als zur Abschreckung tote Katzen an die Tür genagelt wurden, widerspenstigen Wirten Flaschen in den Hals und anderswohin geschoben wurden, manchmal auch mit einem Baseballschläger, bis sie wimmernd zur losen Diele zeigten, unter der das Geld versteckt war. Der Legende nach war es ein brauner Transporter, der dieses Unheil brachte, und noch immer gab es Kioskbesitzer oder Hähnchenbrater, die nervös wurden, wenn zufällig ein braunes Fahrzeug hielt, und sei es nur, um eine Cola zu kaufen. Jetzt kurvte stattdessen ein Transporter der Firma Transgenclean durch das Viertel, auf der Rücktour vom Pflegeheim, mit Wäschesäcken auf der Ladefläche und drei Männern im Fahrerhaus, drei Männer, die auf dieser Rücktour ihre weißen Einteiler von Transgenclean abstreiften, um dann in Jeans und T-Shirts zu zweit aus dem laufenden Fahrzeug zu springen. Sie sammelten schmale Briefumschläge ein, deren Inhalt sie nicht nachzählten, denn in dem Viertel galt ein Ehrenwort noch immer mehr als eine Zahlungsaufforderung per E-Mail.

      Für gewöhnlich brauchten die drei Männer etwa eine Stunde, um die Couverts einzusammeln, auf einer Route, die für alle zur Routine geworden war. Torsten Dudeck und Holger Wirtz sprangen aus dem Auto, während der füllige Erik Karipke mit laufendem Motor hinter dem