Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf. Uli Wittstock

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Название Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf
Автор произведения Uli Wittstock
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783954627929



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dass hier schon wieder die echten Zusammenhänge übersehen werden. Wilkhahn war nicht nur für das Wochenend-Programm, sondern für das ganze Haus unser journalistisches Aushängeschild.“

      Schweigert lümmelte über den Tisch, den Kopf auf seine Hand gestützt, sodass sein Mund ganz schief erschien. Durch diese zerknautschten Lippen zischte er nun: „Ich sage nur Fahrzeug-Hitler.“ Der Fahrzeug-Hitler war eigentlich ein Fahrzeug-Halter und der Höhepunkt einer ganzen Serie von Versprechern, mit denen es Wilkhahn gelungen war, sich auf die Satireseiten der Zeitungen zu stammeln. Nach Rücksprache mit der Staatskanzlei hatte Malchwitz den Kollegen Wilkhahn trotz seiner zahlreichen Verdienste um das Brauchtum vom Sender genommen, dann aber nach vierzehn Tagen Leserbriefterror diese Entscheidung wieder rückgängig machen müssen.

      „Schade, dass hier immer nur diese alten Geschichten aufgewärmt werden. Mit Wilkhahn haben wir einen unser fähigsten Mitarbeiter verloren.“

      „Das klingt doch gut. Sie sollten weiter in diesem Stil formulieren. Damit steht nun fest, wer den Nachruf schreiben wird.“

      Malchwitz biss ein weiteres Mahl von der Möhre ab.

      „Das ist aber noch längst nicht alles“, setzte er fort.

      „Am Wochenende kommt es zum Kampf um die Ehre. Das Stadion ist restlos ausverkauft, und wir, das muss ich Ihnen ja nicht zum ersten Mal sagen, wir sind Medienpartner. Das heißt, unser Logo flimmert in Tausende Wohnzimmer. Ich hoffe, bei Ihnen flimmert jetzt auch was.“

      Schweigert stellte sich jetzt deutlich gerader hin, bevor er antwortete.

      „Ü-Wagen sind an allen wichtigen Punkten, vor, während und nach dem Spiel. Im Stadion haben wir drei Kollegen sowie zwei Handyreporter in den jeweiligen Fanblocks. Wir übertragen beide Halbzeiten live.“

      Karin Untersilch-Teetmann hatte während der letzten Minuten mit ihrem Füllhalter Kringel auf ihre Notizen gemalt. Sie drehte jetzt die Kappe über die titangehärtete Feder, durch welche eine handgerührte Tinte floss, um sich in der goldenen Kugel an der Federspitze zu einem perfekten Strich zu vollenden.

      „Wir haben“, sagte Karin Untersilch-Teetmann, „ein umfangreiches Mentoring im Vorfeld erstellt, um die Erwartungshaltung der Zuschauer mit unserem Programmbouquet zu harmonisieren. Dabei ging es um Fragen der Produktevidenz entlang der Wertschöpfungskette, um die Ermittlung von Skaleneffekten und um die Beschreibung und Implementierung von Komplementärstrategien. In mehreren Workshops unter meiner Führung haben wir ein Thesenpapier entwickelt. Ich nenne jetzt nur die wichtigsten Kernziele. Wir wollen die Zuschauer kompetent und umfassend informieren. Wir bieten den Zuschauern emotionale Höhepunkte, um sie an der Faszination Fußball teilhaben lassen und wir präsentieren uns als ein Sendeformat mit regionaler Kompetenz.“

      Schweigert grinste wieder schief und Malchwitz griff zur Fernbedienung. Der seit Minuten eingefrorene Wilkhahn sprach nun wieder: „Hier also sind sie, die Kreibitz-Buam mit ihrem aktuellen Hit – Flunker, Flunker, geh nicht an meine Klunker.“

      Dr. Henning Friedbruch war eigentlich zu jung, zu dunkelhaarig und zu klein für seine Partei. Das fiel jetzt besonders auf, da er im Fonds seines Dienstwagens saß und den Eindruck hatte, nur mit Mühe durch die getönten Scheiben nach draußen blicken zu können. Was da an ihm vorbeiglitt, war eine unendliche Abfolge von Bewuchs, meist auf großen Schlägen, die bis zum Horizont reichten. Wären da nicht regelmäßig die Flügel der Windräder gewesen, die mit ihren kräftigen Schwüngen einen Rhythmus in die Landschaft setzten und das Gefühl vermittelten, wenigstens durch eine halbwegs industrialisierte Region zu fahren, dann wäre ihm die Landschaft wohl so öde wie die eines fernen Planeten erschienen. Er beglückwünschte sich erneut, nicht das Agrarressort übernommen zu haben, zumal ihm dann auch kein Personenschutz zugestanden hätte.

      Die beiden Beamten fuhren in einer zweiten, ebenfalls gegen Sprengfallen, Pistolenbeschuss oder Panzerfäuste gesicherten Limousine, die dem Führungsfahrzeug auffällig folgte. Dies bot allerdings Anlass für politischen Streit im Landtag. Denn Dr. Henning Friedbruch war trotz seiner relativen Jugendlichkeit, seines fast nachtschwarzen Haares und der Körpergröße von einem Meter und achtundsechzig Zentimetern, Inhaber eines Schlüsselressorts, nämlich zuständig für Inneres, aber im Zuge einer Kabinettsreform nun auch noch für Sport und Umweltschutz. Und für Letzteren war er gerade unterwegs.

      Als Innenminister stand ihm zwar nach aktueller Gefährdungslage Personenschutz zu, doch nicht als Sport- oder Umweltminister. Die Opposition kritisierte den aus ihrer Sicht teuren Einsatz von Personenschützern, wenn der Minister Sporthallen oder Biogasanlagen einweihte, was zugegebenermaßen einen großen Teil des dienstlichen Alltags von Dr. Henning Friedbruch ausmachte. Um der Opposition ein wenig entgegenzukommen, verzichtete der Minister inzwischen auf den Einsatz des Blaulichts bei allen Terminen, zu denen er nicht als Innenminister geladen war. Und so rumpelten sie jetzt auf einer Landesstraße, über deren Zustand er mit seinem Kollegen Verkehrsminister ein ernsthaftes Wort zu wechseln beabsichtigte. Sie hatten nun zwei größere Windparks passiert, allerdings drehten sich die Flügel nicht, was den Minister verwunderte, denn in den Ästen der wenigen Bäume am Feldrand zeichnete sich das Wirken eines durchaus günstigen Windes ab. Windräder waren auch der Grund, der Dr. Friedbruch aus der Stadt weit hinaus in das Land getragen hatte. Ein Pilotprojekt, die größten frei stehenden Räder auf dem Festlandsockel, jede Turbine so groß wie ein Zweifamilienhaus. Technologisch anspruchsvoll, politisch umstritten, wirtschaftlich hochinteressant. Vor einer Stunde hatte er mit dem Sprecher des Konsortiums auf jener Anhöhe gestanden, die im neuen Landesentwicklungsplan und auf sein persönliches Betreiben hin als sogenanntes windhöfiges Gebiet ausgewiesen worden war, eine Anhöhe in Sichtweite zu einem Ort namens Dunkersleben. Dort gab es einen Kirchturm, eine Schweinemastanlage und kein Schwimmbad. Der Ortsbürgermeister war ein Parteifreund des Ministers, wie viele Ortsbürgermeister in dieser Region, und weil er sich dennoch nicht sicher war, wiedergewählt zu werden, wollte er nun, wie viele andere in Dunkersleben auch, jenes fehlende Schwimmbad errichten. Als Sportminister war Dr. Friedbruch zwar für Turnhallen, aber nicht für Schwimmbäder zuständig, es sei denn, das Schwimmbad würde zu einem Leistungszentrum für den Spitzensport entwickelt, das internationalen Ansprüchen zu genügen hätte. Da das Land ein solches Leistungszentrum bereits betrieb und in Dunkersleben weniger als fünf Kinder pro Jahr geboren wurden, war es unwahrscheinlich, dass hier der richtige Ort war, um die Schwimmstars der nächsten Olympiaden zu trainieren, zumal man in und um Dunkersleben herum eine ländliche Kost bevorzugte, welche nicht nur die Ortsbürgermeister erschreckend schnell im Amt verfetten ließ, sondern auch beim Nachwuchs nicht ohne Folgen blieb, weswegen der Schulbus eigentlich als Schwerlasttransporter zu gelten habe, wie ein frustrierter Sportlehrer einem Anzeigenblatt der Region mitzuteilen für nötig erachtet hatte. Das aber war glücklicherweise das Problem des Kultusministers.

      Dr. Henning Friedbruchs Problem war dennoch Dunkersleben. Vielleicht hätte er den Bürgermeister nicht den Hügel hinauf bemühen sollen. Am Ortsrand hatte der Investor ein Zelt aufbauen lassen, die Pressestelle des Ministeriums hatte die Lokalredaktionen informiert, die wiederum ihre Praktikanten geschickt hatten. Außerdem reichten vier blonde junge Damen Häppchen, mussten jedoch mehrfach nachlegen, und Dr. Friedbruch hatte nicht den Eindruck, dass der Bürgermeister und die geladenen Honoratioren von Dunkersleben wirklich satt geworden waren. Der Investor hatte zudem einen Saxofonisten aus der Stadt für diesen besonderen Vormittag gebucht, ein hoffnungsvolles Talent, das bereits im überregionalen Feuilleton Erwähnung gefunden habe, so der Investor bei seiner kurzen Ansprache, was den jungen Musiker wohl beflügelte, eine besonders virtuose Probe seines Könnens in Dunkersleben zu präsentieren. Flugwild, so der Titel seiner Improvisation über Wind, Strömung, Strom und Energie. Das waren für die nächsten zwanzig Minuten die letzten menschlichen Worte, die die Dunkerslebener hörten, denn zunächst beschwor der Musiker mit einem lang anhaltenden kreischenden Ton die vier Göttinnen der vier Himmelsrichtungen, und nicht nur Dr. Friedbruch schien in diesem Moment froh zu sein, dass der Erdkreis nur in vier solche Himmelsrichtungen aufgeteilt war. Es folgten die Anrufung der Erde, die Durchschreitung der Aura und, besonders schmerzlich, der Kampf der Titanen. Zwischenzeitlich erwog Dr. Friedbruch, seine Abteilung für Gefahrenabwehr mit einem Gutachten