Swallow, mein wackerer Mustang. Erich Loest

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Название Swallow, mein wackerer Mustang
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954627240



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zu der Furcht in den Augen. Der Katechet sagt: »Sie wissen, worüber Sie sprechen dürfen und worüber nicht. Bitte, machen Sie mir keine Ungelegenheiten.« Er läßt einen Satz folgen, der ihm Unbehagen bereitet, weil er eine Heuchelei enthält, die ihm sein Amt leichter macht: »Sie beide sind doch gebildete Männer.«

      »Ich habe geschrieben, Vater!«

      »Geschrieben?«

      »Eine Erzählung, Vater!«

      Freude zuckt im Weber May auf – Karl durfte schreiben, also hat er sich mit der Obrigkeit gut gestellt? Wird er amnestiert?

      Vorsichtig schaltet sich Kochta ein und dämpft überschwengliche Hoffnung. Vielleicht gelingt es Herrn May, Fäden zu knüpfen? Kochta hat herumgehorcht, der Verleger Münchmeyer in Dresden ist ihm genannt worden, er gibt Journale und Kalender heraus. Der Vater merkt sich den Namen, Flecke treten auf seine Wangen, denn da breiten sich vor dem Sohn gewaltige Möglichkeiten aus, eröffnet sich ein Weg nach oben und für ihn selbst vielleicht auch: er, der Vater eines Schriftstellers, der mit Druckern verhandelt. Da werden die Leute in Ernstthals Wirtshäusern aufhorchen, an seinen Tisch werden sie rücken und ihm Branntwein spendieren, auf daß er wieder und wieder berichte, was ihm in Dresden im Hause eines Verlegers widerfahren sei. Was ist gezahlt worden, drei, zehn, hundert Taler?

      »Nimm alles mit, Vater!«

      Von den Geschwistern reden sie noch, vom Haus daheim, das ein neues Dach braucht, über den Preis für Schiefer. Der Katechet wirft ein, die Besuchszeit sei in fünf Minuten verstrichen. Da will Karl noch rasch erläutern, wie das Schreiben die Dämonen verdrängt, aber er findet die Worte nicht, von denen er sicher ist, daß Vater sie versteht. Beim Händedruck glühen wieder Flecke auf den Wangen des Vaters. »Bleib gesund, Karl! Und mach dem Herrn Katecheten keinen Verdruß!«

      Am Abend sitzt May wieder in der Zelle. Einen Bogen hat er zweimal geschrieben, die Kopie behalten, den ersten Satz liest er abermals: Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren. Das stimmt ihn ein. Helligkeit über der Prärie, ein Punkt taucht am Horizont auf. Das Ich liegt im Gras, Swallow hat den schönen Kopf an seinen Schenkel gedrückt, sanft blähen sich die Nüstern. An den Vater denkt May und versucht, sich den Verleger Münchmeyer vorzustellen als einen Mann, der wie der Direktor gekleidet ist, eine goldene Uhrkette spannt über dem Bauch, die Manschettenknöpfe schimmern, eine Perle ziert die Krawattennadel. Mit sonorer Stimme spricht Münchmeyer. May sinkt ins Halbdämmern, Halbwachen zurück, Münchmeyer verwandelt sich in den Direktor, der Direktor fragt: »Und was dachten Sie, als Sie sich als Doktor ausgaben und sich Anzug und Mantel und Schuhe ergaunerten, in Penig war das wohl?« Da lacht May, Doktor Heilig ist besiegt wie der Polizeileutnant von Wolframsdorf, der Notenstecher Hermin. Denn Swallow, sein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren.

      Zwei Monate später tritt Kochta in die Zelle, ein Kalfaktor hinter ihm trägt einen Topf mit Quark, ein Stück Rauchfleisch und ein Säckchen Zwiebeln. »Herr Münchmeyer hat Ihnen zwei Taler geschickt. Als Vorschuß.«

      May steht starr, er fürchtet, zusammenzubrechen wie damals im Arbeitsraum.

      »Ich habe für Sie eingekauft. Das restliche Geld ist beim Herrn Direktor für Sie deponiert.«

      »Also wird gedruckt?«

      »Eine Option. Sie dürfen Ihre Erzählung niemand anderem anbieten, solange sich Herr Münchmeyer nicht entschieden hat.«

      May hat das Wort Option nie gehört, er wendet es hin und her. »Also ist Hoffnung.«

      »Immer ist Hoffnung.«

      »Und ich soll weiterschreiben!«

      »Nicht zuviel. Regen Sie sich nicht auf dabei. Nicht mehr als fünf Seiten am Abend.«

      An diesem Abend fabuliert May wieder: Das Ich reitet an der Seite des schönen Häuptlingssohns in ein kahles Gebirge hinein, eine Schlucht verengt sich von Süd nach Nord, steil ragen Felswände himmelwärts. Im Bach reiten die beiden weiter, dringen mühselig vor, warmer Wind weht ihnen entgegen. Unversehens breitet sich die Schlucht zu einem Kessel, ein Weiher blinkt in der Mitte, links davon ragt eine Zypresse, Gras wächst in den Spalten. Da reiten die Freunde Hand in Hand, am Weiher steigen sie von den Pferden und lächeln sich an. »Wir sind im Paradies, Bruder«, verkündet das Ich. May sucht einen Namen für den Talkessel und wählt diesen: das Loch Kulbub.

      Neun Seiten schreibt er an diesem Abend, am Ende ist er schweißgebadet. Nachts stellt er sich quälend deutlich den Kessel Kulbub vor, die steilen Wände, die Zypresse. Da springt er auf, steht zitternd neben der Pritsche.

      Einmal in jeder Woche besucht Kochta den Züchtling 402, teilt ihm seine Papierration zu und holt immer enger beschriebene Bogen ab. Manchmal überfliegt er die eine oder andere Passage. Konfus erscheint ihm vieles, weitschweifig, die Schrift ist schwach geneigt und pedantisch wie bei einem Kanzlisten. Nach Monaten trifft ein Brief aus Dresden ein, er ist an May gerichtet; der Direktor entscheidet, ihn nicht auszuhändigen, aber der Katechet darf ihn vorlesen: Der Verlag Heinrich Gotthold Münchmeyer stellt den Abdruck der Geschichte »Rache oder Das erwachte Gewissen« in dem Journal »Das Schwarze Buch« in Aussicht. Natürlich werde ein Redakteur ausbessern, Schwächen eines Anfängers seien nicht zu übersehen, aber May treffe in erfreulichem Maße den Publikumsgeschmack. May saugt die Luft ein, hält sie in der Brust so lange wie möglich, stößt sie stöhnend aus. Kochta registriert: So atmet jemand, der über einen Berg ist. Diesen Gedanken wendet der Katechet: Es sind krude Erfindungen, die May auftischt, doch offensichtlich erleichtern sie ihn. Sind selbst Lügen erlaubt, wenn man sich durch sie befreit und niemandem schadet? Oder bleibt Lüge immer und immer ein Teil des Bösen? Nichts ahnt Kochta von dem Abend, an dem May das Loch Kulbub ersann, und nichts von der Nacht danach.

      Der Brodem der Zigarrenwicklerei drückt auf die Lungen, Tabak weicht auf der Diele, unter dem Tisch, um den Ofen herum, auf den Fensterbrettern. May nimmt Wickel von seinem Nebenmann, rollt sie in den Decker, dreht die Spitze an, klebt mit Kleister zu, der schwarz ist wie Teichschlamm, spuckt darauf und streicht glatt. Die nächste Zigarre, weiter. Wenn sie alle wüßten, wer ich bin, sinnt er, was in mir brennt, was sich Bahn brechen wird! Die Bösen zuckten zurück, Schweiß würde auf ihrer Stirn perlen, das Kinn töricht herunterklappen. Den Guten träte Glanz in die Augen, ein glückseliges Strahlen dränge von Innen heraus: Karl May ist da, der Starke, Gerechte, alles wird gut. Aber Prott schreit: »Nicht so viel Kleister, du Spinnkopp!«

      Von Weibern reden sie wieder und wieder, die Kerle an den braungebeizten Tischen. May kann nicht mithalten, seine Erfahrungen sind beschämend gering. Ein Webermädchen aus Lugau für ein paar Abende, eine Bauerndirne in Böhmen, diese blamable Affäre im Grunde: Er hatte ihr Gedichte vorlesen wollen, sie hatte verdutzt, fahrig zugehört und war davongerannt. Mit ihren Freundinnen hatte sie in der Ferne gekreischt. Er stellt sich vor: Ein Zimmer mit Bordüren und schwellenden Teppichen, eine Frau liegt halb, lehnt halb auf einem Diwan, ihre vollen, weichen, weißen Arme sind bloß bis zur Schulter hinauf. Keineswegs blutjung ist sie, vielmehr reif, erfahren – verheiratet mit einem Rechtsanwalt? Ist Gräfin, die einen jungen Dichter zu sich geladen hat, der ihr seine Verse vorliest? Aber er wagt nicht, zu offenbaren, daß es eigene Gedichte sind, er gibt vor, er habe sie aus dem Orientalischen übersetzt. May nimmt sich vor: Wenn ich rauskomme …

      »He, May, hau ran!«

      Jaja, Prott. In acht Monaten und sieben Tagen. Eines Tages, wenn ich berühmt bin, werden mich elegante, kluge Frauen in ihre Salons laden, ich werde eine Mappe mit meinen Werken unter dem Arm tragen.

      Klappern vieler Holzschuhpaare auf Korridoren und Treppen, Schlösser knallen, Riegel werden zurückgeworfen. Station drei – ablaufen! Station vier – ablaufen! Auf lehnenlosen Bänken drängen sich Züchtlinge in der Kirche, Tabak wird gegen Zucker getauscht, Feuerstein gegen Speck. Sensation auf Station fünf: Drei Häftlinge haben Brot in Wasser aufgesetzt, sie wollten Brotwein gären lassen. Die drei schmoren im Karzer. May hat die Arme an den Körper gepreßt, er tauscht nicht und hält sich heraus aus dem Gerüchtemarkt.

      Ein Pult ist neben den Altar gestellt worden, der Direktor legt Manuskriptseiten darauf. Vor drei Jahren siegten Soldaten aller