Swallow, mein wackerer Mustang. Erich Loest

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Название Swallow, mein wackerer Mustang
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954627240



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402 wieder in den Arbeitsraum bringen, da er hofft, dieser Denkzettel habe genügt. Prott, der Viehdieb, schaut von den Tabakblättern auf. Alle warten, daß May berichtet, wie es im Karzer war, warum er begnadigt worden ist, denn die Kunde war durch den Bau geflogen: May schmort für sieben Tage, warum? May zieht Deckblätter heran, streckt die Finger, die noch steif vor Kälte sind. Noch schweigt er, das ist gegen alle Spielregel, er weiß, daß fünfzehn Hirne sich martern, daß fünfzehn Ohrenpaare warten. »Eine alte Geschichte«, läßt er endlich wie nebenbei fallen. »Hängt mit einer Sache in Böhmen zusammen. Kann darüber nicht reden, versteht ihr?«

      Prott fragt sofort: »Wieder der Ausbruch?«

      May spürt ein Ziehen in der Brust, möchte antworten: ja, der Ausbruch. Aber er weicht aus: »Vielleicht haben sie einen alten Kumpel geschnappt.«

      Prott pfeift durch die Zahnlücken. »Nachschlag?«

      Nachschlag, damit ist zusätzliche Strafe gemeint; das fehlte noch, ihm wird der Direktor sowieso keinen einzigen Tag schenken, dem Wiederholungstäter. Schweißnaß sind Mays Hände auf einmal, er fürchtet, die Besinnung zu verlieren. Prott und zwei andere ziehen ihn hoch, schleppen ihn ans Fenster und drücken sein Gesicht zwischen die Gitter, damit er frische Luft atme. »Kriegst von mir die Hälfte Brot heute abend«, verspricht Prott. »Wirst schon wieder, Karle, wirst wieder!«

      Ein paar Tage braucht May, bis er den Karzer überwunden hat und wieder so viele Zigarren wickelt wie sonst. Ein Thema wird breitgetreten: Gewehre, Pistolen. Einer hat als Waffenmeister bei den sächsischen Dragonern gedient und weiß alles über Perkussionsgewehre, penibel schildert er mancherlei Versuche, Zündhütchen so zu lagern, daß sie dem Schützen rasch zur Verfügung stehen, ja, daß sie sogar automatisch auf die Zündkegel gesteckt werden. Amorcoirs heißen die Magazine, es gibt Kautschukstreifen, in die die Hütchen eingedrückt sind. Der Franzose Bessières präsentierte das erste automatische Zündhütchenmagazin an einem Armeegewehr auf der Pariser Weltausstellung von 1855.

      May fragt nicht dazwischen und kann nichts beisteuern. Die Franzosen – denen wird ja nun erst einmal die Lust vergangen sein, mit Waffen zu experimentieren, die haben zu zahlen, denen ist heimgezahlt worden, das Elsaß und das halbe Lothringen sind sie los! Einer war dabei bei Wörth, ist mit Typhus ins Lazarett gebracht worden, jetzt bietet er zum wiederholten Mal sein Erlebnis. Simple Geister, denkt May, sie haben nichts gesehen als den Helmrand des Vordermanns. Einer zog mit auf Königgrätz und hat an der Elbe Erbsensäcke bewacht, während nahebei die Armeen aufeinanderschlugen. Staub und Dreck und Fraß aus Kartoffeln und Rüben und schreiende Offiziere und Schweißgeruch wie in den Wachstuben in Waldenburg unter dem Schloß, das ist wie Zuchthaus, das ist wie daheim in Ernstthal, wo die Geschwister starben. Neue Geschwister kamen zur Welt, frische Rekruten ziehen in die Kasernen ein, aber nie würde er, May, vor einer Schwadron hersprengen. Kein Musketier rettete dem König das Leben, sondern ein Fähnrich. Nie wurde ein Lehrer General.

      May fächert Tabakballen auf, die Fingerspitzen werden taub. Seine Oberlippe zuckt, die Arme schmerzen. Er braucht Hoffnung, sie erwächst aus dem Traum. Träume waren die Bücher, die er als Schuljunge in einer Schenke verschlang, wo er Kegel aufsetzte, wo ihm der Wirt hin und wieder ein Buch überließ, fleckig, schimmlig, grell die Bilder, schrill die Taten. Zwei Titel sind sofort gegenwärtig: »Botho von Tollenfels, der Retter der Unschuldigen« und »Bellini, der bewunderungswürdige Bandit«. May will vergessen, daß er träumte, ein Räuber zu sein, nie wird er jemandem beichten, daß er eines Morgens in einer Kegelbahn einen Zettel zurückließ: »Heute hab ich hier genächtigt. Karl May, Räuberhauptmann.« Wie ist das: Etwas, worüber niemand spricht – ist das gestorben? Etwas, das vergessen ist – ist das nie gewesen? Dieser Zettel – höchstwahrscheinlich denkt niemand mehr an ihn, nicht in diesem Dorf zwischen Chemnitz und Schwarzenberg, er ist in keiner Akte erwähnt.

      »He, May!« Das ist natürlich Prott, sein böser Geist, der Geschichten aus ihm herauslockt, die vergessen sein sollen, der zu Geschichten ermuntert, die nie geschehen sind. Prott reißt lachend die Lippen auseinander, May starrt auf schwarze Zahnstummel. »He, May, wo warste eben? Erzähl mal, May!« Ein Spinner ist 402, ein Lügner, aber Geschichten kann er sich ausdenken wie kein anderer, und wenn er so dasitzt, als schliefe er in der nächsten Sekunde ein, ist er wohl gar nicht mehr in diesem Arbeitsraum, dann reitet er vielleicht wieder durch böhmische Wälder und raubt eine Kutsche aus und streut Dukaten den Armen in den Bergdörfern hin, und hungernde Kinder schlingen sich satt, und arme Männer kaufen sich und ihren Frauen Röcke und Mäntel und Schuhe. Kein guter Arbeiter, der May, weiß Prott, man muß ihn stoßen, damit man nicht seinetwegen um ein Stück Räucherfleisch kommt. »He, nun erzähl!«

      Aber May redet wenig in diesen Tagen, er hört dem Gespräch zu, das von Waffen weiterfließt zum großen Krieg gegen die Franzosen, den alle deutschen Stämme schlugen. Preußische Ulanen ritten durch die französischen Linien, klärten auf, streiften durchs Hinterland, verfolgt von französischen Reitern, beschossen von Franktireurs, furchtlos, erfinderisch. Ihre Pferde fetzten im Vorbeireiten Laub von den Bäumen und soffen aus französischen Bächen. In der Nacht wurde ein einsames Gehöft umstellt, die Pferde ruhten im Stall, die Männer schlangen Brot und Fleisch und schlürften Wein. Die Bauernfamilie saß verängstigt zusammengedrängt, aber ein blutjunger, schlanker Leutnant versicherte in tadellosem Französisch, niemandem würde ein Haar gekrümmt. Im Morgengrauen sprengte die Patrouille weiter, preußische Taler blieben auf dem Tisch zurück.

      Mays Finger streichen über Tabakblätter, er träumt sich in diese Fabel hinein. In einem lothringischen Schloß lebt ein junger Deutscher als Hauslehrer, ein hochgewachsener, schöner Mann mit blondem Haar und männlichem Blick. Aber ein Buckel entstellt ihn, niemand ahnt, daß er in Wirklichkeit ein preußischer Offizier ist, von uraltem Adel aus Pommern, daß er seit langem die Gespräche des Hausherrn und anderer Offiziere am Kamin belauscht, ihre Ränke durchschaut, geheime Nachrichten über den Rhein schickt. Da streifen Ulanen ums Schloß, der Hauslehrer, der Rittmeister, rettet sie aus tödlicher Umklammerung. Der Buckel? Am Ende wirft er ihn ab, er ist aus eisernen Bändern und Leder. Männlich schön steht der Rittmeister vor der Tochter des Schloßherrn. Das belauschte Gespräch, überlegt May – als er schon einmal gefangen saß, im Schloß Osterstein zu Zwickau, hat er geträumt, er wäre Schriftsteller. Aber in den Monaten der Freiheit danach hat er keine Zeile zu Papier gebracht.

      »Feierabend!« Das ruft ein Wärter herein, Prott befiehlt Antreten, meldet, läßt zum Zellenbau abrücken. Der Züchtling 402 marschiert in einer Reihe mit Dieben, Betrügern, Landstreichern, einem Totschläger, einem Räuber. Aber dieser Räuber raubte für sich und Kumpane und Weiber, er war nicht wie Bellini, der bewunderungswürdige Bandit. Das Gute, sinnt May, während er sich vor seiner Zelle aufstellt, es gibt das Gute und das Böse, man muß es trennen, um es allen Menschen zeigen zu können. Wer, der das Gute endlich begriffen hat, möchte noch böse sein?

      May wird eingeschlossen, wenig später öffnet der Wärter noch einmal die Tür, ein Kalfaktor schiebt die Schüssel mit der Abendsuppe und ein Stück Brot herein und noch einen Kanten Brot von Prott dazu. Schlüssel klappern, Ruhe breitet sich aus, May ißt gemächlich, seine Gedanken schweifen, er findet, daß sie wie in einem stillen See schwimmen, sie vermeiden Untiefen, biegen vor Riffen ab, gleiten ins sanfte Wasser zurück, das blau ist, das in gläsernen Wellen gegen sein Boot schlägt. Lebensboot. Er starrt gegen die Decke. Es ist wahr, in Zwickau hat er sich vorgenommen, Bücher für alle Menschen zu schreiben, die das Gute suchen. Aber er selbst hat nach der Haft nicht so leben können, wie diese Bücher es fordern sollten. Ganze dreizehn Monate war er frei, dann haben sie ihn gefaßt im Böhmischen und nach Mittweida gebracht und zu vier Jahren Kerker verurteilt. Zwei Jahre, sieben Monate und fünf Tage sind vorbei, der Rest wird verstreichen. Ob er bis dahin die Dämonen besiegen kann, die ihn getrieben und gefoltert haben? Er wird schreiben, dichten.

      2

      Noch einmal wird an diesem Abend die Zellentür aufgeschlossen, der Katechet Kochta tritt ein, der katholische Hilfsgeistliche der Anstalt. May springt auf und meldet, die Zelle dreineunzehn sei belegt mit dem Züchtling vierhundertzwei.

      Der Katechet weist auf den Schemel, er selbst setzt sich auf die Pritsche. »Sie waren im Karzer.« Kochta verschweigt,