Swallow, mein wackerer Mustang. Erich Loest

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Название Swallow, mein wackerer Mustang
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954627240



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Rechnen und Erdkunde, Historie und ein bißchen Latein, Stilkunde des Deutschen, Rechtschreibung, Klavier- und Orgelspielen sogar. Lehrer war ich in Chemnitz an einer Fabrikschule, wenn auch nur kurze Zeit. Ich brauche mich meiner Bildung wegen vor niemandem zu verstecken. Wie auf einer Federzeichnung: Zwischen diesen Pflaumenbäumen trug er Ranzen und Bündel, beneidet von allen Mitschülern, die Handwerker wurden oder Knechte oder Arbeiter an den neuen Maschinen. Er wurde Lehrer. Jetzt hat Münchmeyer geschrieben: »Herr May, sprechen Sie bitte baldigst in Dresden vor!«

      Dem Ratswachtmeister Doßt zeigt er diesen Brief, zwei Zigarren ragen ein Endchen aus der Rocktasche. Der Polizist wiegt den Kopf und stöhnt, er sei ja kein Unmensch, habe aber eindeutige Vorschriften. Noch nicht eine Woche aus dem Zuchthaus zurück und schon in die Residenz? Wenn das ein Vorgesetzter erführe – man sei nicht allein auf der Welt. »Meine Existenz«, bittet May.

      »Meldest dich am Dienstag mal nicht.« Doßts Stimme klingt, als murmle er vor sich hin, als sei niemand außer ihm im Raum. »Ich merk das nicht, klar? Aber wenn du was anstellst – erlaubt hab ich’s dir nicht. Und am Mittwoch biste wieder hier!«

      May schiebt beide Zigarren zu Doßt hin. »Ich danke Ihnen verbindlichst. Ihre Güte …«

      »Ach, halt die Gusche, May.« Leise, gefährlich setzt Doßt hinzu: »Das letzte Mal hattste vier Jahre, nächstes Mal kriegste zehn. Und laß die Pfoten von der Politik!«

      Am Dienstagmorgen fährt May nach Chemnitz und steigt um in den Zug nach Dresden. Ein Bein hat er über das andere geschlagen und blickt rauchend aus dem Fenster: Öderan, Freiberg. In diesen Wäldern zum Kamm hinauf lebt sein Förster Brandt, Pascher huschen nach Böhmen hinüber, Klöppelspitzen tragen sie unter der Jacke um den Leib gewickelt. Er kennt diesen Landstrich mit seinen Schlössern und Städtchen: Marienberg, Olbernhau, Schloß Purschenstein. Von dort schleicht Brandt verkleidet nach Dresden.

      Dresden! Auf dem Böhmischen Bahnhof steigt er aus, in die Gassen um Markt und Schloß taucht er ein. Offiziere reiten vorbei, er weicht aus in den Schmutz. Ihn erregt dieser Gedanke: Keiner weiß, daß er vor Tagen noch Zuchthäusler war, daß er Manuskripte bei sich trägt und ein Dichter ist. In Waldheim war während der Freistunde rasches Gehen verboten, die Hände mußten auf dem Rücken gehalten werden. Jetzt läßt er den freien Arm schwingen, er schreitet aus und genießt das Ziehen in den Wadenmuskeln. Könnte es nicht sein, daß Waldheims Direktor beim Justizminister vorzusprechen hätte und ihm entgegenkäme? Respektvoll, aber keineswegs untertänig zöge May den Hut. »Sein« Direktor ist er nicht mehr und wird er nie wieder sein.

      Auf einer Kreuzung haben sich Fuhrwerke verkeilt, Hufeisen klirren auf Kopfsteinen. Hucker turnen Leitern hinauf, Ziegelstapel auf dem Rücken. Gebaut wird, der Direktor hat recht gehabt in seinen Ansprachen, daß es stürmisch aufwärtsgehe im Reich und daß für jeden Platz sei. Mein Platz, denkt May, mein Platz! Er preßt die Tasche an sich.

      Das Haus, in dem Münchmeyers Büro liegt, ist schmuckloser, schmaler, als er es sich ausgemalt hat. Schäbig ist es nicht, versichert er sich, eher unauffällig, bescheiden. Das Treppenhaus ist dunkel, im zweiten Stock entdeckt er ein Türschild und klopft, niemand öffnet. Die Tür läßt sich schieben, ein dämmriger Gang liegt vor ihm. Auf Stimmen geht er zu, klopft wieder und wird hereingebeten. »Mein Name ist May.« Eine Verbeugung dazu, Blicke zwischen zwei Frauen hin und her.

      »Jaaa.« In einer Stunde, hört er, werde der Herr Verleger kommen. Blicke spürt er auf sich, die voller Neugier sind und diese verbergen wollen: Einer, der die Kugel am Bein gehabt hat. Solche Blicke können niederdrücken oder Kraft geben, spürt er, man muß ihre Wirkung in die gewünschte Richtung drängen. Interessant – dieses Wort fällt ihm in der rechten Sekunde ein, er ist für sie interessant.

      Tee wird angeboten, die Damen sind nun geschäftig um ihn herum. Gegenseitig stellen sie sich vor, ein Name klingt an seinem Ohr vorbei, den anderen merkt er sich: Fräulein Ey, denn, so wird hinzugefügt, sie sei Herrn Münchmeyers Schwägerin. Wege zur Druckerei erledigen die Damen, sie haben sämtlichen Schriftverkehr in den Händen und, dabei lacht Fräulein Ey, die Honorarzahlungen an die Herren Dichter.

      Da schiebt sich ein Mann in die Tür, er atmet rasch vom schnellen Gehen. May wischt im Aufstehen die Handflächen an der Hose ab.

      »So, lassen Sie sich anschauen! Bißchen mager noch?« Münchmeyer probiert ein Cheflachen und bittet in sein Zimmer. Die Damen tragen Teetassen nach, Münchmeyer bietet Platz an und schiebt sich hinter seinen Schreibtisch. Augenpaare suchen einander; als sie sich gefunden haben, zwinkert Münchmeyer, das soll heißen: Hast allerhand hinter dir, Junge, Schwamm drüber, was sollen wir viele Worte machen. »Haben Sie etwas mitgebracht?«

      Löffel klirren in den Teetassen, Münchmeyer überfliegt ein paar Zeilen. May schaut sich um: Regale mit Zeitschriftenbündeln, Stehpult, ein Stich der Hofkirche, ein Stich der Festung Königstein.

      »Nicht allzu übel.« Münchmeyer weiß, daß von dieser ersten Begegnung allerlei abhängt. May ist eine Potenz, keine Frage, man muß ihm die Zusammenarbeit schmackhaft machen, aber er darf nicht den Eindruck gewinnen, er sei unersetzlich. Aufhelfen muß man ihm, aber nicht so, daß er übermütig wird. Von einem verschmähten Liebhaber, der seine Braut ermorden will, liest Münchmeyer flüchtig. »Wir werden’s schon irgendwie verwenden. Wieder eingelebt in Ernstthal?«

      Er könne bei den Eltern wohnen, berichtet May, er müsse sogar. Der Ortspolizist mache Sperenzien.

      Polizeiaufsicht? Münchmeyer hebt die Brauen – das höre sich wenig freundlich an. Da sei es gut, wenn man erst einmal nicht auffiele. Immer schön brav, die Obrigkeit einschläfern, nach einem halben Jahr könne er sich schon ein bißchen was leisten. Und was wolle Herr May schreiben?

      »Geschichten aus meiner Gegend. Hab in Waldheim allerlei entworfen. Erzgebirgische Dorfgeschichten.«

      »Und eine hübsche Moral am Schluß, so wollen das die Leute!«

      May hat die Hände zwischen die Knie geklemmt, er sitzt vorgeneigt wie jemand, der nur den Schemel kennt und sich erst wieder an den Stuhl gewöhnen muß. Münchmeyer denkt: Ein Dorfschulmeisterlein, halb verhungert wie seine Kinder. »Bloß nicht zuviel Armut reinpacken.« Münchmeyer erinnert sich, mit seiner Frau auf diesen dürren Hecht eine Flasche Champagner getrunken zu haben. Vielleicht war’s voreilig, und Vorschuß hat er nun erst mal genug gekriegt. »Ranklotzen, hilft alles nichts. Dicke hat’s heute keiner. Die erste Nacht in Dresden werden Sie in ’ner Herberge unterkriechen müssen; wenn Sie öfter kommen, finden wir vielleicht ’ne Schlafstelle.«

      »Verbindlichsten Dank, Herr Münchmeyer.«

      Münchmeyer läßt eine Glocke scheppern, Fräulein Ey steckt den Kopf durch die Tür. »Nimm Herrn May unter deine Fittiche. Daß er was zu essen kriegt!«

      Sie zeigt den Weg zu einer Herberge und verspricht, sich fürs nächste Mal nach einem Zimmer umzusehen, warnt aber gleich: Der Herr möge sich keine übertriebenen Hoffnungen machen, es sei schwierig, etwas zu finden.

      In der Nacht schrickt er auf; Münchmeyers Lachen gellt durch seinen Traum: Ausgebrochen? May, so einer wie du bricht doch nicht aus! Fräulein Ey knickst: Eine Tasse Tee, Herr May? Keine Frau ist so, wie er sie sich in Zuchthausnächten erträumt hat, schon gar nicht Fräulein Ey.

      2

      Einen Monat später fährt er wieder nach Dresden und übernachtet in einem engen, halbdunklen Zimmer, das Minna Ey für ihn gefunden hat, es ist bestückt mit Bett, Tisch und Stuhl. Am nächsten Morgen legt er vor, was er den Beginn einer Novelle nennt: »Wanda, das Polenkind.« Der Verleger überfliegt: In einem Städtchen nahe Chemnitz hat sich eine polnische Adlige mit ihrer schönen Tochter niedergelassen, Wanda von Chlowicki heißt das heißblütige Geschöpf. Verspielt ist sie, von den Männern verwöhnt. »Die Sonne des Lebens hatte ihr stets nur kaltes winterliches Licht gegeben und nur selten einen freundlich erwärmenden Strahl zugesandt. Die Quelle eines tiefen, reinen Gemüts war von einer falschen, auf wankenden Grundsätzen fußenden Erziehung zurückgedrängt und mit steinernem Riegelwerk verschlossen, der Reichtum ihres Geistes brachgelegt