Swallow, mein wackerer Mustang. Erich Loest

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Название Swallow, mein wackerer Mustang
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954627240



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breitet sich in der Zelle aus, die letzten Geräusche im Haus ersterben. An ein Gespräch erinnert er sich, das sie vor Wochen während der Arbeit geführt haben: Kann man sich im Zuchthaus heimisch fühlen? Nach vier Jahren, haben manche gesagt, wenn du vergessen hast, was Frauen und Schnaps und ein durchsonnter Wald und der Geruch eines reifen Roggenfeldes für Glück sind. Zwei Jahre, sieben Monate und siebzehn Tage ist er gefangen. Erst in der Untersuchungshaft in Mittweida bis zum Prozeß, an einen Wärter gefesselt marschierte er über Ringethal und Hermsdorf, sah den Turm der Burg Kriebstein über der Zschopau im Mittagslicht, tauchte ein in die dämmrige Kühle des Zuchthauses Waldheim. Ein Heim im Wald, dieses Wort ist bitterster Hohn. Aber Ruhe findet er allmählich vor den Dämonen, er muß sie besiegen, bis er entlassen wird in einem Jahr, vier Monaten und dreizehn Tagen. Schreiben wollte er – ob er diese Dämonen aus sich herausschreiben kann? Vielleicht, wenn er sich in Waldheim geborgen fühlt. Vielleicht schon nach nicht einmal drei Jahren. Er sehnt sich nicht nach den Tagen, da er durch Sachsen und Böhmen streunte. Er sehnt sich nach Abenden wie diesem, wenn seine Gedanken nahe sind und nicht in lothringischen Wäldern, nicht durch afrikanische Wüsten irren.

      Tags darauf ist das Fieber abgeklungen, May beugt sich blaß und stumm über seine Tabaksblätter. Von Politik ist die Rede, von Nationalliberalen und Konservativen und der Reichspartei und dem einen Mann der Sozialdemokraten im Reichstag. May hört kaum zu. So hat der Vater geredet, wenn er vom Bier nach Hause kam, so klug und so dumm und so aufgeregt und so eitel. Hoffnung braucht May, und Hoffnung kommt für ihn nicht aus der Bibel. Einmal, dessen entsinnt er sich, brach er in eine erträumte Ferne auf. Als die Not zu Hause am größten war, verschwand er eines Morgens und ließ einen Zettel zurück, auf dem stand, er sei unterwegs, um von spanischen Räubern Hilfe zu erbitten. Er kam nicht über Zwickau hinaus.

      Am Abend bringt Kochta die Bibel, bringt auch Papier und Tinte und Feder. »Schreib deine Gedanken auf. Wenn du das vermagst, kannst du dich von bösen Vorstellungen befreien.« Für einen Augenblick wird Kochta von der Idee gestreift, dieses Papier den Flammen zu übergeben und so die Worte auszulöschen. Hexerei wäre das, er schiebt den Gedanken von sich.

      May blättert, als er allein ist, in der Bibel, legt sie beiseite, nimmt einen Bogen und fährt mit der Hand glättend über ihn hin. Über einen Ritt durch die Prärie will er fabeln, in der Wildnis wird sein Bericht beginnen, auf einem Grashügel, mit einem Blick in die Unendlichkeit. Er schreibt diesen Satz: »Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren.« Er liest ihn wieder, richtet den Blick auf die Zellenwand, denkt an den nächsten Satz, schreibt ihn und streicht ihn durch. An diesem Abend füllt er zwei Bögen.

      Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren – diesen Satz sagte er sich am nächsten Morgen immer wieder in Gedanken vor, er findet ihn träumerisch, hoffnungsvoll; Kraft fühlt er in ihm, die auf ihn zurückkommt. Denn er selbst ist es, der über Präriegras sprengt, er tröselt keine Fäden auf, mit denen Tabakblätter gebündelt sind. Swallow, mein wackerer Mustang.

      »Na, May?« Prott hat durch einen Kalfaktor erfahren, daß Kochta mit Tinte und Papier zu 402 unterwegs war. May hat geschrieben – hat er seine Kameraden angeschwärzt, ist er unter die verdammten Spitzel gegangen? »Na, Karle, hast die Bibel abgeschrieben gestern?«

      In dieser Woche bedeckt May zwanzig Bögen mit Wörtern. Aus den Prärien und Wüsten zwingt er seine Gedanken zu dem zurück, das er aus eigener Anschauung kennt, rasch gelingt ihm der Gedankensprung: Das da ist wirklich geschehen, ich habe es selbst erlebt. Eine Landschaft stellt sich vor wie von Ernstthal ins Gebirge hinauf; ein Waldbauer tyrannisiert die Armen des Ortes, den redlichen Grunert vor allem, der ihm einst ein Mädchen weggeschnappt hat, dessen Gehöft abbrannte, dessen Frau nun krank ist und der in einer Hütte haust, die dem Waldbauern gehört. Den Waldbauern läßt May denken: »Fühlen? Was das nur eigentlich für dummes Zeug ist! Wenn ich den Hund prügle, ja, so fühlt er die Schläge; aber etwas anderes? Albernheiten!« Durch seinen Schwager Ebert wird Grunert zum Wildern verleitet, aber der Waldbauer hat an der Eisenhöhle längst eine Falle gestellt. An die Höhle nördlich von Ernstthal denkt May beim Schreiben, in der er sich einst verbarg. Grunert und Ebert werden überwältigt, voller Rachegelüste kehrt Ebert zurück. Aber Grunert ist endgültig geläutert. Da brennt das Gut des Waldbauern ab – Versicherungsschwindel! Die Gendarmen schleppen den Waldbauern ins Gefängnis, aber Grunert hat seinen Schwager in der Nähe der Brandstelle gesehen! Seiner Frau bekennt er, daß er ihren Bruder anzeigen muß, »und wenn er zehntausendmal dein Bruder ist und wenn er uns zehntausendmal so viel Gutes getan hat; denn ich hätt’ den Waldbauern sonst auf dem Gewissen all’ mein Lebtag!« Auch beim Pfarrer hat sich Grunert Rat geholt, nun führt er eine atemberaubende Wende des Prozesses herbei. Kaum ist der Waldbauer entlastet, als auch der Pfarrer und Ebert auftreten, denn der Pfarrer hat indessen Ebert zu tätiger Reue bewogen. Erschüttert von so viel Edelsinn bricht endlich auch im Waldbauern die Kruste, er bekennt aus freien Stücken, daß er vor fünfzehn Jahren aus Rachegelüsten Grunerts Haus angezündet hat, nun soll ihn die gerechte Strafe endlich treffen. Der arme Grunert mit seiner Familie aber möge in dieser Zeit seine Güter verwalten.

      Kochta liest. »Eine Legende aus unseren Tagen. Löblich. Ich werde sie dem Herrn Direktor zeigen. Er dürfte sehen, daß Sie sich auf gutem Weg befinden.«

      »Und wird«, tastet May vor, »der Herr Direktor auch merken, wie ich zu der Strafe stehe, die über mich verhängt worden ist? Daß ich ihre nützliche Wirkung …«

      Anderntags legt Kochta seinem Direktor die Erzählung auf den Tisch. Der Direktor zieht die Brauen hoch: Der schwächliche Schwätzer? Sieh an! Er drückt den Zwicker fest, liest und lacht. Einfältiger Schund ist das, entscheidet er nach zwei Seiten, aber natürlich ist es besser, wenn 402 seine abstruse Phantasie am Papier abreagiert, als daß er die übrigen Sträflinge rebellisch macht. »Und Sie versprechen sich etwas davon?«

      »Beruhigung, Ausgleich, vielleicht Heilung.«

      Das klingt dem Direktor nun ein wenig übertrieben, aber so kennt er seinen Katecheten, gütig bis zur Selbstaufopferung.

      »Vielleicht müßte May sich gedruckt sehen.«

      Der Direktor lacht, daß die Schnurrbartspitzen zittern. Das ist nun wieder sein Katechet, wie er leibt und lebt. Vielleicht wird er noch das Geschreibsel an einen Verleger vermitteln? Dies hier ist ein Zuchthaus, 402 ist ein Hochstapler, seine Arbeitsleistung läßt zu wünschen übrig, die Reden, die er führt, könnten sich ungünstig auf das Anstaltsklima auswirken. »Ein Hochstapler, Herr Kochta!«

      »May schreibt das Schlechte aus sich heraus.«

      Der Direktor entsinnt sich, daß er zu May gesagt hat: Dumm sind Sie nicht, aus Ihnen könnte noch etwas werden, Platz ist für jeden im Reich. An einen, der billige Geschichten schreibt, hat er dabei allerdings nicht gedacht. »Auf Ihre Verantwortung, Kochta! Bekommt er Besuch?«

      »Seinen Vater.«

      »Der Kerl kann ihm meinethalben sein Gestümper mitgeben.«

      Ein Druckmittel gegen 402, sinnt der Direktor. Es ist immer gut, wenn ein Züchtling etwas besitzt, das man ihm wegnehmen kann.

      3

      May schreibt. »Vor allem Güte«, bittet Kochta. »Eine Geschichte muß Hoffnung geben, Trost. Sie muß den Leser fromm machen. Das Gute muß siegen.«

      Das Gute – in den Märchen, die die Großmutter erzählte, wurde das Böse bestraft nach dem Grad seiner Bosheit. Eine Tracht Prügel für den Lügner, ein Monat Karzer für den Dieb, dem Mörder hackten am Galgen die Raben die Augen aus. Aber die schöne Unschuld wurde vom Königssohn auf den Thron gehoben.

      Einmal wird May aus dem Arbeitsraum herausgerufen, ein Wärter ordnet an, daß der Züchtling 402 einen sauberen Kittel anzieht, der ohne Taschen ist. »Sie haben Besuch«, sagte der Wärter, »Sie wissen, daß Sie über nichts reden dürfen, was mit dem Zuchthaus zusammenhängt, nicht, mit wem Sie zusammen sind. Nur Persönliches!«

      Die Haut über der Stirn brennt. Er wird einen Gang entlanggeführt, in einer Zelle sitzen Kochta und ein magerer, ergrauter Mann. May erschrickt, das ist sein Vater, der im