Swallow, mein wackerer Mustang. Erich Loest

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Название Swallow, mein wackerer Mustang
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954627240



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zog? Böse Geister waren über ihm, aber er macht ihre Kraft zunichte, wenn er diese Namen auslöscht. Der Direktor hat die Geister zu neuem Leben erweckt, indem er ihre Namen nannte, Namen aus der schrecklichen Zeit, in der die Dämonen ihn trieben, peitschten. Er selbst war es nicht, der sich als Dr. Heilig in einem Kleidermagazin in Penig ausstaffieren ließ und den Händler prellte, der als Notenstecher Hermin am Thomaskirchhof 12 in Leipzig einen Pelz zur Ansicht übernahm, mit ihm verschwand und der im Rosental überwältigt wurde. Geister hatten ihn in der Gewalt. Er will sagen: Das war ein anderes, mein schlechtes Ich, aber jetzt, hier in Waldheim, verblassen die Geister der Vergangenheit, ich vertreibe sie, ich will anständig, gütig sein. Die Felder und die Lerche, sie standen auf der Lichtseite, ich bin auf sie zugelaufen. Herr Direktor, ich war, ich will – aber seine Lippen öffnen sich nicht.

      »May, wann werden Sie endlich vernünftig?« Der Direktor klappt die Mappe zu, ihn widern diese Betrügereien an. May wird nie eine Gewalttat begehen, wird sich nicht wehren, wenn er geschlagen wird, wird nie ausbrechen, nie einem Wärter widersprechen. Ein armseliger Narr. »Aber ich will nicht, daß in meiner Anstalt von Ausbruch geschwafelt wird, hörst du? Ich will nicht einmal, daß jemand an Ausbruch denkt! Hier herrscht Zucht, hier kommt Überhaupt niemand auf den Gedanken, man könnte einen Wärter fesseln! Schon dafür blüht euch Karzer!« Vor einer Minute hat der Direktor noch nicht einmal erwogen, den Schwätzer 402 abzustrafen, plötzlich weiß er, daß er es tun wird. Auch Narren sind gefährlich. Wie leicht macht Mays Phantasterei die Runde durch die Zellen, vielleicht träumen heute nacht Züchtlinge, wie sie einen Wärter, wie sie den Direktor knebeln und auf ein Pferd binden und durch die schäumende Zschopau sprengen und sich nach dem Gebirge hinauf durchschlagen, nach Böhmen hinüber. »Ich verstehe Sie nicht, May!« Der Direktor neigt sich vor, seine Stimme wird beschwörend. »Eine große Zeit! Unser Volk im Aufbruch, alle Hände und Köpfe werden gebraucht! Sie hätten Soldat sein sollen! Manneszucht, Härte, Mars-la-Tour! Schauen Sie sich um im Deutschen Reich! Springt Ihnen das Herz nicht auf?«

      May sieht das Glitzern in den Zwickergläsern, die Schnurrbartspitzen zittern. Hinter dem Direktor hängt das Bild Seiner Majestät des Königs von Sachsen, Licht fällt auf Orden, bricht sich. Licht – und May fürchtet sich vor der Nacht des Karzers, jeden Augenblick kann die Stimme des Direktors Karzer verkünden, sieben Tage, einundzwanzig. Sedan – zu der Zeit saß May im Gefängnis, da brüllten sich die Wärter die Siegesnachricht zu, von einer Stunde zur anderen brandete das Gerücht von einem gewaltigen Pardon auf, von einer Generalamnestie, denn ungeheurem Sieg mußte unermeßliche Gnade folgen. Sogar Mörder schrien, in vier Wochen wären sie frei.

      »May, denken Sie an die Eisenbahnen! Stählerne Stränge von Nord nach Süd, von Ost nach West durchs Vaterland. Eine gewaltige Zeit!« Die Stimme des Direktors gerät ins Ungenaue, derlei verkündet er jeden Tag; was folgt, ist nicht speziell auf 402 gemünzt. »Dumm sind Sie doch nicht. Kann noch was werden aus Ihnen! In dieser beispiellosen Zeit! Alles im Umbruch, Platz für jeden im Reich.« Der Direktor vermutet Angst in Mays Augen. Wo Angst ist, ist schlechtes Gewissen, Angst fordert Strafe heraus. »Eine Woche Karzer!«

      Eine Stunde später kauert May im Dunkeln, die Kälte der Beinschelle schlägt durch den Drillich, es ist zwecklos zu versuchen, sie einmal an der einen, einmal an der anderen Seite anliegen zu lassen. Er kann den Finger nicht dazwischenschieben. Vielleicht stirbt der Fuß ab, gerät Brand hinein, sie werden im Spital den Fuß abtrennen, an Krücken wird er das Zuchthaus verlassen. Aber ein Mann kann auch reiten mit einem Fuß. Ein Einbeiniger kann auf einem Wall den Abschuß einer Kanone befehligen, wenn die Sonne brennt, wenn die Tuaregs anreiten in schneeweißen Burnussen und ihre Gewehre schwingen, wenn sie bis an den Fuß der Schanze heransprengen, daß der Schweißgeruch der Pferde herauffliegt. Dann kann ein Mann, der sich auf einen Stock stützt, das Feuersignal schreien, und über die Köpfe der Tuaregs hinweg fegt der Kartätschenhagel in die Wüste hinaus, die Ansprengenden reißen ihre Pferde herum und verschwinden im quellenden Staub wie eine Fata Morgana.

      Eine Schüssel mit Brei wird hereingereicht, also ist Mittag. Für eine halbe Minute schlägt Helligkeit in die Zelle, Wüstenhelligkeit unter glitzerndem Himmel, Wüstenwind, der sich voll Hitze gesogen hat weit unten am Äquator. Der Kalfaktor wirft eine Matte hin, das hat der Direktor nachträglich angeordnet, weil ihn seine Entscheidung halb und halb gereut hat: Der May, mein Gott, der Narr! May schiebt die Matte unter die Füße, hört die Stimme des Direktors: eine große Zeit! May war nicht dabei, als Sachsen auf St. Privat vorrückten, er ist nicht einen Hügel emporgesprengt und hat, die Hand grüßend am Helm und keuchend vom atemlosen Ritt, den Befehl zum Angriff überbracht. Nie hat er Soldat werden wollen, weil Soldaten in feuchten Kasernen hausten wie drüben in Glauchau oder in den Wachstuben unter dem Waldenburger Schloß, weil sie in Reih und Glied marschierten unter sengender Sonne, weil niemals er den Befehl zum Angriff überbringen würde, sondern Rittmeister von Schönburg vielleicht, und der Musketier May wäre, andere Musketiere neben sich, vorgestapft auf St. Privat. Er hat als Junge gehorchen müssen, sein Vater spielte Leutnant, Major, General, Karl stellte die sächsische Armee dar und schlug Preußen, Russen, Franzosen auf den Feldern Ernstthals, schwärmte aus und schrie Hurra und stand zitternd unter den Befehlen des Webers May, der Offizier der Bürgerwehr war und quälend gern ein richtiger Offizier hatte sein wollen. Der Vater hatte ihm Kriegssehnsucht ausgetrieben, dieser Mann mit den fiebrigen Träumen, der selig gewesen war, wenn er in der Schenke neben einem Beamten, einem Kaufmann, einem Notar hatte sitzen dürfen, und der am nächsten Morgen mit grauem Gesicht in seiner Werkstatt gehockt hatte, wieder ein hungriger Weber. May reibt die Füße gegeneinander. Was ist schlimmer, an einen Ring an der Wand im Zuchthaus zu Waldheim oder an einen Webstuhl in Ernstthal gekettet zu sein?

      Er krümmt sich auf der Matte zusammen, ein Ellbogen ist auf den Stein gestützt. So löffelt er den Brei, Wärme breitet sich vom Magen her aus, Schläfrigkeit auch, so träumt er sich in die Kindheit zurück, als er, dreijährig, vierjährig, für Monate erblindete, durchs Haus tappte, als er roch: die modrige Steinkühle des Hausflurs, den beißenden Geruch aus der Küche, als er fühlte: kalt die Klinke der Hoftür, die Schwelle unter dem Fuß, die runden, glatten Steine im Hof. Um ihn war die Stimme der Großmutter, sie hüllte ein, bewahrte, schmeichelte Karli, mein Karlchen. Hände hoben ihn auf den Schoß, über sie tastete er hin mit Fingern und Lippen, fühlte weiche, rauhe, harte Haut, fühlte Schenkel, Bauch und Brüste, drängte sich an und sog Duft ein von Haut und Wolle und Atem. Die Großmutter sang Lieder vor, die Großmutter erzählte Märchen, Legenden; wichtiger als der Sinn der Worte war ihr Klang. Karlchen, riechst du was? Das ist der Flieder, der blüht! Wie eine Göttin war sie, allgegenwärtig und von allumfassender Güte, allwissend, allmächtig. Der Duft des Flieders – es ist nicht möglich, daß der Flieder so viele Monate hindurch geblüht hat, wie Karlchen blind war, aber wenn er zurückdenkt an diese Zeit des Tastens und Hörens und Riechens, dann duftet der Flieder, spürt er Sonnenwärme auf seinen Wangen. Sonnenwärme auch auf der Landstraße von Waldenburg, Pflaumenbäume an den Seiten, Sonnenstrahlen sickern durchs Fenster der Schulstube, als Junglehrer May die Uhr zückt, als er ihr Tombak in der Sonne funkeln läßt, als sich Jungen aus den Bänken drücken, um die Uhr des Herrn Lehrers zu bestaunen. Eine Uhr, wer besitzt schon eine Uhr, der Vater nicht, der Großvater nicht, aber Herr Lehrer May.

      Am Abend wird die Fußfessel gelöst, er fühlt von einer Zellenwand zur anderen, spreizt die Finger vor dem Gesicht. Die Schritte passen sich der Zellenlänge an, sieben hin, sieben zurück, federnd berühren die Fingerspitzen die Mauer, kurz vorher signalisiert Mörtelgeruch: noch wenige Zoll. An den Grafen von Monte Christo erinnert er sich, eine bessere Gefangenengeschichte, Verliesgeschichte wird nie jemand erfinden. Sieben Schritt hin, sieben her, den Boden müßte er aufgraben in einer einzigen Nacht, müßte Steine und Mörtel gegen die Tür türmen, mit dem Löffelstiel die Fugen auskratzen, das Gewölbe durchbrechen. Vielleicht liegt darunter die Wachstube – wie ein Gespenst stürzt er von der Decke herab auf den Tisch, schleudert einen Wärter gegen den Spind, seine Faust bohrt sich in einen Magen, ein Mann sinkt röchelnd zusammen. Eine Minute später tritt May, in eine Wachtmeisteruniform gekleidet, die Pistole in der Faust, aus der Wachstube, am Tor will ein Posten nach der Parole fragen, sein Kiefer klappt töricht herab, als er in die Pistolenmündung starrt. Eine Nacht und einen Tag reitet May, oben bei Marienberg liefert er einer Ulanenstreife ein Pistolengefecht, sein Pferd bricht unter ihm zusammen. Zu Fuß schlägt er