Swallow, mein wackerer Mustang. Erich Loest

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Название Swallow, mein wackerer Mustang
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954627240



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und sogar schreiben darf, hat seinen Frieden mit den Bullen gemacht! Es gibt für Prott zwei Möglichkeiten: Wenn May draußen ist, faßt er wirklich und tatsächlich Arbeit an. Oder der dreht ganz allein ein unglaubliches Ding.

      May legt zum letztenmal den Kleisterpinsel aus der Hand, niemanden blickt er an, keinem nickt er zu. Er geht aus dem Dunst der Zigarrenwicklerei hinaus auf den Korridor und die Treppe hinauf zu seiner Zelle und packt zusammen: Decken, Schüsseln, Handtuch, ein klebriges Seifenstück, den Löffel. Zweihundert Bögen Papier, davon achtzig beschrieben. Er trägt sein Bündel ins Erdgeschoß hinab, zu den Abgangszellen, wieder knallen Riegel auf, dann ist er allein in einer Zelle, die unbewohnt riecht, der Strohsack ist feucht. Eine Woche noch. Die Dämonen?

      »Ich habe sie besiegt«, versichert er drei Tage später dem Katecheten. Jetzt sitzen sie nicht nebeneinander wie an manchem Abend in Mays Zelle, dies ist ein offizieller Akt. Der Katechet spricht wie zu jedem, der entlassen wird, von Buße und Reue, diesmal fügt er Worte von innerem Frieden an. »Enttäuschen Sie mich nicht.« Schwach gegenüber dem Bösen sei jeder Mensch, anfällig gegenüber der Versuchung. May war schwach, weil er erzwingen wollte, was seine Kraft überstieg. Doch so ungewiß und trüb es in Mays Seele wölkte, eines blieb ihm fremd: der Haß. Zu allem Wirrwarr noch Haß – der Katechet besäße wenig Hoffnung.

      »Ich danke Ihnen, Herr Katechet. Vor zwei Jahren, als ich zusammenbrach …«

      Kochta nickt. Das war eine lebensgefährliche Krise, May rang sich durch. »Und hassen Sie dieses Haus nicht. Es tut nicht gut, die Hand zu verdammen, die einen gezüchtigt hat. Der Herr straft die, die er liebt. Er hat Sie geprüft. Die Wärter, waren sie nicht für Sie Diener des Herrn?«

      »Eines Tages werde ich über sie schreiben. Gutes.«

      Der Katechet hebt die Hand wie zu einem Segen. May wird zurückgebracht. Am nächsten Tag steht er, die Handflächen an die Drillichhose gepreßt, vor dem Anstaltsleiter und hört: »Sie bleiben unter Polizeiaufsicht. Für zwei Jahre. Ich hoffe, daß diese Zeit ausreichen wird, in Ihnen die Lust am Vagabundieren abzutöten. Zwei Jahre lang Ernstthal; wenn Sie verreisen wollen, bedarf das der Genehmigung. Heilsam für Sie!«

      May preßt die Hände stärker an, damit sie nicht zu flattern beginnen. Die Schande, alle im Städtchen werden es wissen. »Ich möchte nach Dresden fahren zu meinem Verleger.«

      »Warum nicht, wenn Sie sich gut führen, für einen Tag mit Erlaubnis Ihrer Polizeibehörde? Es liegt nur an Ihnen, was aus Ihnen wird!« Jeden, der dieses Haus verläßt, konfrontiert der Direktor mit dem höhnischen Satz: »Es steht nicht bei mir, ob und wann wir uns wiedersehen!« Der Direktor hat in der Akte des 402 geblättert: Ein gestrauchelter Volksschullehrer. Ein vielzitierter Satz klingt im Direktor auf, in der Schlacht von Königgrätz habe der preußische Schulmeister über den österreichischen gesiegt. Also auch über den sächsischen, denn Sachsen stand fatalerweise auf seiten Österreichs, wieder wie fast immer auf der falschen Seite. Wenn alle sächsischen Lehrer so waren wie 402, denkt der Direktor, ist es kein Wunder, daß wir unter die Räder kamen. Jetzt ist die Situation gewandelt, Schulmeister haben Bindeglieder zwischen den Schichten zu sein, sie säen Glauben an Gott und das Herrscherhaus in Dresden, nun auch an das in Berlin, Lehrer bilden einen Damm gegen Gottlosigkeit und Sozialdemokratie; um so stärker ist einer zu verurteilen, der desertiert. Räuspern, ein entschlossener Blick. »Unser Volk geht nach Jahrhunderten der Ohnmacht einer herrlichen Zukunft entgegen. Seien Sie dabei, jeder an seinem Platz! Da Sie keinen Hausstand besitzen, werden Sie bei Ihren Eltern eine Bleibe finden müssen. Die Aufsicht obliegt Ratspolizeiwachtmeister Doßt.«

      Mays Handrücken beginnen zu brennen. Den Doßt kennt er. Ein Name, der die Dämonen heraufbeschwören könnte.

      In seiner letzten Zuchthausnacht schläft May keine Minute, Namen probiert er, die zu den Dämonen gehörten. Albin Wadenbach, Notenstecher Hermin, Doktor Heilig, Polizeileutnant von Wolframsdorf. Einmal wollte er Räuberhauptmann werden, Unrecht sühnen, die Armen beschenken, die Unschuld schützen und rächen. Er mühte sich, diese Zeit aus seinem Gedächtnis zu drängen, jetzt möchte er prüfen, ob er sich stark genug fühlt, Beweggründen von damals nachzuspüren. Ich bin durch ein Tal geschritten, formuliert er, jetzt habe ich den jenseitigen Hügel erklommen. Ich kann die Dämonen folgen lassen und ihnen die Hand reichen; ich werde sie weiterleben lassen in meinen Werken. Ihre Taten und die Gründe dazu werde ich allen Menschen zeigen. Er weiß, daß er dazu stärker sein muß als die Beklemmung, die von dem Namen Doßt ausgeht.

      Riegel knallen, Licht schlägt durch die Tür: »Komm’ Se, May!« Morgensuppe aus Roggenmehl. Zum letzten Mal Waldheim.

      2. Kapitel: Visitenkarte Dr. Karl May

      1

      »Hat dich ein Bekannter gesehen gestern?«

      »Nein, Vater. Bestimmt nicht.« Durch Gärten und Schluppen ist er vom Bahnhof gehetzt, die Mütze auf die Augen gedrückt, das Siebensachenbündel unter dem Arm. In vier Jahren sind Hose und Jacke in der Effektenkammer nicht ansehnlicher geworden, das Hemd war noch immer schmutzfleckig wie während der Untersuchungshaft. May rasiert sich mit dem Messer des Vaters; bleich ist er, als ob er aus dem Spital käme. Oder eben aus dem Zuchthaus. Jetzt, Anfang Mai, laufen die Kinder schon barfuß.

      »Ziehst meinen Anzug an.«

      »Den kennt der Doßt.«

      »Wenn Herr Münchmeyer Vorschuß schickt …«

      »Muß nach Dresden.«

      »Aber Doßt?«

      »Er muß mich fahren lassen. Notfalls …« Diesen Satz setzt er nicht fort.

      »Vieles ist anders geworden bei uns.« In einer neuen Fabrik werde stündlich zentnerweise Garn gesponnen, zwei Verleger hätten Kapital zusammengeschossen und Aktien ausgegeben, kunstvoll bedruckte Papiere für 500 Mark, sagt man. Wie könne ein Handwerker sich da noch behaupten? Aus den Dörfern wanderten des Morgens Scharen von Mädchen herein, dreistöckige Mietshäuser würden aufgeschachtelt. Es sei in den Kneipen lauter geworden, die Beschaulichkeit der Stuben- und Brunnenkränzchen sterbe aus. Mehr Geld komme unter die Leute, dieser landweite Hunger wie vor dreißig Jahren, der Kinder und Alte umbrachte, sei vorbei. Dampfmaschinen stampften überall. »Nach Chemnitz müßtest du kommen! Nicht Weber sollte ich sein, sondern Maschinist, Mechaniker. Lokomobilist!« Der Vater spricht nicht aus, was er fürchtet: Und wenn Karl sagte: Morgen mache ich mich auf nach Hamburg, in ein paar Wochen bin ich in Amerika?

      May fährt nun doch in den Anzug des Vaters. Die Mutter hat das Hemd noch am Vorabend gewaschen, es ist trocken geworden über dem Herd. Eine Krawatte, den Hut gebürstet, die Schuhe gewichst. Wieder steht er vor dem Spiegel. Wenn nur diese Blässe nicht wäre. Jetzt schlägt es neun, Prott und seine Hilfsteufel halten gerade ihre Kaffeeschüsseln dem Kalfaktor hin. May dreht eine Zigarre zwischen den Fingern. Soll er sie anzünden, bevor er aus dem Haus geht? Rauchend durch die Straßen? Oder in Brand stecken vor dem Rathaus, damit wenigstens eine Hand Halt findet, solange er mit Doßt spricht? Er steckt die Zigarre in die obere Tasche des Jacketts; zu einem Drittel ragt sie heraus.

      Seine Knie sind ungelenk während des Gangs zum Rathaus. Eine Krämersfrau hinter einem Sauerkrautfaß, starrer Blick, weiter. Ein Schulkamerad – May tippt mit steifem Finger an den Hutrand. Schweiß auf der Stirn, er nimmt den Hut ab, Hut in der Hand – mit dem Hute in der Hand kommst du durch das. Den Hut wieder auf. In einer Gastwirtschaft hat er früher Kegel aufgesetzt: Halloh in der Küche, die Wirtin schüttelt ihm die Hand – wieder da, Karle? Dein Vater hat immerzu von dir erzählt – was willste nun anfangen? May nimmt einen Span, bückt sich zum Herdloch und zündet seine Zigarre an. Nach Lugau in die Kohle? Nein, er werde sich nach Dresden davonmachen. Nach Dresden? Das Staunen in den Augen der Frau läßt eine lockere Abschiedsgeste gelingen.

      Er schreitet rasch, will Schwung nutzen. Ein Nicken in das Gesicht eines Alten hinein, der kam manchmal zum Vater. Stufen hinauf, an eine Tür geklopft, eingetreten, die Linke mit der Zigarre am Rockaufschlag. Eine Frau und Ratswachtmeister Doßt lehnen auf der hölzernen Balustrade, die Besucher und Amtsperson trennt. Also eine Anzeige, nuschelt Doßt, aber