Das Honecker-Attentat und andere Storys. Dieter Bub

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Название Das Honecker-Attentat und andere Storys
Автор произведения Dieter Bub
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954622115



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erheben Anspruch auf deutsche Geschichte, erklären Martin Luther, gestern noch verhasst, zum progressiven Reformator und widmen ihm einen monumentalen Spielfilm. Erich Honecker gelüstet es nach alter Pracht. Ließ der Prolet und Stalinist Walter noch Kirchen sprengen, so ordnet sein Nachfolger den Wiederaufbau der Semperoper und des Konzerthauses an, schafft Luxusherbergen und einen „Palast der Republik“. Der gelernte Dachdecker aus Saarbrücken wünscht Glanz für seine Hauptstadt.

      Allein im Betongeisterhaus, gemeinsam mit den Überwachungsleuten. Selbstgespräch. Trunkene Selbstbefragung: In der Isolation. Für monatlich 800 D-Mark Miete. Ausnahmesituation. Kein Leben draußen. Der Boulevard leer.

      Stadtflucht und Idylle

      Brigitte B. hatte eine gute Chance, in der Hierarchie der Privilegierten aufzusteigen. Zum Abschluss ihres Studiums der Malerei und der Restaurierung war sie Meisterschülerin des Staatskünstlers Walter Womacka geworden. Sie hatte die Gelegenheit nicht genutzt. Stattdessen mit einem Stipendium Rückzug ins Private. Kein Widerspruch, keine Opposition, nur eine angenehme Lebensmöglichkeit. Landflucht. Landluft. Sommerfrische. Das Bauernhaus, die Datsche.

      Nach den Erfahrungen mit ihrer vierjährigen Tochter in den staatlichen Kinderkrippen, mit genauer Regulierung, gemeinsamem Topfzwang und Mittagsschlaf, und der drohenden Schule mit den Indoktrinierungen der Staatsführung, die sozialistische Persönlichkeiten forderte, nur heraus aus der Stadt aufs Land. Hunderte waren vor ihnen nach draußen gegangen. Die Suche. Die besten Adressen auf den Dörfern waren die Landwirtschaftlichen Genossenschaften, industrielle volkseigene Großbetriebe für Pflanzen- oder Tierproduktion. Diese LPGs waren, unabhängig vom Wetter, zur Planerfüllung und Übererfüllung verpflichtet, nutzten Herrenhäuser als Lager, errichteten für Melker und Traktoristen Plattenbauten und ließen alte Bauernhäuser verkommen.

      Brigitte B. und ihr Mann zogen zu Erkundungen in Richtung Norden, trafen Künstler, die dort bereits ihr Domizil gefunden hatten, erhielten den Hinweis auf die Kleveschen Häuser und fanden ein leeres Bauernhaus aus den zwanziger Jahren. Dem LPG-Vorsitzenden waren die Städter willkommen, würden sie doch das Gebäude nutzen und vor dem Verfall bewahren. Sie erhielten kostenfreies Wohnrecht unter der Bedingung, das Haus zu erhalten und Reparaturen vorzunehmen.

       Brigitte B. als Titel auf der „Neuen Berliner Illustrierten“

      Die Entscheidung für die Kleveschen Häuser hatte sie getroffen – es war nicht das Neubauernhaus, das erst wieder benutzbar gemacht werden musste, es war der Garten. Während ihr Mann überlegte, was zu reparieren und zu renovieren war, noch abwägte, überschlägig Kosten errechnete, war es der Blick, ihr Blick über wucherndes Unkraut, Obstbäume, Wiese, Feld bis zum Wald, ein paar hundert Meter entfernt. Sie wusste, hier wollte sie leben, nein, hier würden sie leben, aber zuallererst würde sie hier leben, mit ihrer Tochter. Alles andere würde sich finden, war nebensächlich, Improvisation.

      Wilhelms Doppelleben – der Genosse im Rang eines Offiziers des Staatssicherheitsdienstes im Außenministerium der DDR – und der Kleinbürger, der zweite Wilhelm, der einfache Wilhelm, die Verwandlung nach Feierabend wenn er nach Klein-Venedig kommt. Er zieht sich um, tauscht den grauen Dienstanzug gegen Trainingshose und Trainingsjacke, rot-braun, Erinnerung an die NVA. Selbstverständlich hat er seinen Dienst an der Waffe absolviert, an der Waffe ein paar Wochen nur, die übrige Zeit in der Presse- und Propaganda-Abteilung der Armee. Der nun aus der Datsche in den Garten tritt, ist ein anderer; nicht, dass er sich entpuppt hätte, von der Raupe zum Schmetterling geworden wäre, aber verwandelt, ein netter Privatmann, so wie alle hier zu liebenswerten Privatpersonen werden. Lässige Biertrinker und Würstchengriller. Ihre überwiegend molligen Frauen, die für die Woche hochtoupierten Haare nun aufgelöst, mit bunten Blusen über ihren fülligen Brüsten, die strammen Beine bis zu den Knien in eng anliegenden Hosen. Verkleidete Rubens-Figuren. Sie sind locker, die Genossen von Klein-Venedig, ohne ihre Abzeichen, nicht zu erkennen, stünden da nicht Wernesgrüner Pils und Becherovka auf den Tischen, lägen da nicht köstliche Steaks auf dem Grill, die sonst zum größten Teil ins kapitalistische Westberlin und in die BRD geliefert werden, unter dem Ladentisch, Bückware, Beziehungen, Tauchhandel, gegenseitige Vorteilsnahme: Kinderschuhe, erzgebirgisches Spielzeug, Rinderfilet, Auspuffrohre, immer gibt es irgendwo irgendetwas.

      Alltag eines Korrespondenten in Ostberlin

      Müller versorgt sich in der Kaufhalle – das Brot für 51 Pfennige, zwei Sorten Joghurt, drei Sorten Käse, Butter, Milch, alles einfach und schmackhaft, subventioniert. Auch wenn er sich unauffällig kleidet, die Verkäuferinnen erkennen in ihm einen von drüben, Misstrauen gegenüber diesem Mann, der sich Besseres leisten könnte und der, offenbar auch noch schwul, einen goldenen Ring im linken Ohr trägt.

      „Ist was?“, fragt er die Neugierige hinter der Kasse, die aufdringlich das Schmuckstück betrachtet.

      „Nö, nö“, sagt sie. „Is nischt.“

      „Is wirklich nischt?“, fragt er.

      „Nö, nö“, sagt sie.

      „Sie meinen den Ring im Ohr. Trag’ ich, seit ich Baby bin. Immer dringeblieben.“

      „Ach so“, sagt sie.

      „Quatsch“, sagt er. „Gefällt mir nur. Bin aber nicht schwul. Ich liebe Frauen.“

      „Ist schon in Ordnung“, sagt sie.

      „Na ja, dann. Was macht das hier?“

      „Drei zweiundachtzig“, sagt sie.

      ‚Ich sollte was über Schwule in der DDR schreiben‘, denkt er, ‚und über die Ostfrauen, die alle irgendwie Yvonne oder Marlene heißen. Sie haben irgendetwas.‘

      „Du solltest dich vor ihnen hüten“, antwortet er sich.

      „Warum sollte ich mich vor ihnen hüten?“

      „Frauen, die sich für dich interessieren, wollen entweder mit dir in den Westen oder sie sind vom Staatssicherheitsdienst.“ „Ich weiß. Es sind die wahren Kämpferinnen des Sozialismus.“

      Er hat sie erlebt, die Karl-Marx-Liebesdienerinnen mit dem MfS-Ausweis. In den Hotels und Bars der Messestadt Leipzig, die eleganten Westfrauen aus dem Osten, perfekt gekleidet, ihr Englisch im leicht warmem mitteldeutschen Klang, sächsisch oder thüringisch. Er wusste um die Sozialismus-Mätressen aus der Kaderschmiede der Partei, die nicht nur darin geschult waren, ihren Kurzzeit-Liebhabern nach dem Orgasmus zu schmeicheln und ihnen nebenbei weiter verwertbare betriebliche und familiäre Geheimnisse zu entlocken, sondern die vor ihren Einsätzen noch in einer Schönheitsklinik der Staatssicherheit bei Halle an der Saale körperlich aufgemotzt worden waren. Zwar ideologisch perfekt, galt es, kleine körperliche Mängel zu kaschieren: Beseitigung von Krähenfüßen, Brustvergrößerungen, Nasenoperationen. So waren die Ost-Mata-Haris auf dem Leipziger Messe-Parkett, verlockende Sehenswürdigkeiten und die Westmänner, wenn auch gewarnt, leichte Beute. Ihre Zielpersonen waren die Bosse aus Führungsetagen, mittelständische Unternehmer und Politiker, die sich alle umgarnen ließen, eingesponnen im Netz der Firma, die von Dienstreisen immer wieder zurückkehrten und, um Enthüllungen zu Hause zu entgehen, Informationen preisgaben, freiwillig oder erzwungen. Sie hatten sich eingelassen.

      Er ernährt sich aus der Kaufhalle. Will kosten, auskosten. Er leistet es sich, für Pfennigbeträge. Hausmannskost als exotische Speise. Schmackhaft. Ein Experiment für einen, dem jederzeit, ein paar hundert Meter entfernt, alles serviert wird, chinesisch, kroatisch, türkisch, spanisch, japanisch und italienisch, an jeder Ecke. Die Stadt, die Weststadt als eine große Fressmeile von der Albertstraße bis zum Savignyplatz. Gleich neben dem Westberliner stern-Büro sein Italiener – das Il Sorriso: Pasta, Scampi vom Grill, Mozzarella, Vino Nobile aus Montepulciano, Vitello, Sabaglione, Tiramisu, Grappa, Vernacchia, Chianti Classico, Gran Sasso Primitivo Puglia aus Vendemmia.

      Hier, im Osten, ein einziger Italiener mit sächsischem Koch