Das Honecker-Attentat und andere Storys. Dieter Bub

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Название Das Honecker-Attentat und andere Storys
Автор произведения Dieter Bub
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954622115



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zuordnen, abwägen, kommentieren. Er verdankte viele Kenntnisse dem WDR-Publizisten Peter Bender.

      Müller berichtete wie alle anderen über Ansätze zu einer vermeintlichen Liberalisierung, über Verbesserungen von Warenangebot und Gastronomie, kommentierte mit Wohlwollen Tendenzen, die der Öffentlichkeit nur vorgegaukelt wurden. Zur Strategie der Staats- und Parteiführung gehörte es, ihre Schändlichkeiten vergessen zu machen, den 17. Juni, den Bau von Mauer und Grenzanlagen die Bereitschaft zum Einmarsch nach Prag, die Verfolgung, Bestrafung und Einkerkerung Andersdenkender, die Tötung von Flüchtlingen mit Waffen und Minen. Erst jetzt, nachdem er wirklich hier angekommen ist, wird ihm das Ausmaß von Unrecht und Menschenverachtung bewusst.

      Die Bestimmungen

      Einweisung des Neuen durch die drei vom Außenministerium, der eine, der kleine Wilhelm von beinahe weltmännischer Freundlichkeit, der andere: Dr. Otto in Mausgrau, mit durchbrochenen braunen Schuhen, Abneigung im Gesicht, die dritte, Frau Ernst, kühl distanziert.

      „Willkommen in der DDR!“

      Sie erklären die Vorschriften, die von akkreditierten Journalisten zu beachten und strikt zu befolgen sind. Danach sind für alle Themen rechtzeitig Anträge auf Genehmigung einzureichen, die erst nach positivem Bescheid realisiert werden dürfen.

      „Aber …“

      Private Kontakte zu Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik zum Zwecke der Recherche sind untersagt.

      „Aber …“

      Die Mitnahme von Anhaltern ist verboten.

      „Aber …“

      Das beabsichtigte Verlassen der Hauptstadt der DDR in das übrige Territorium der DDR ist, auch für private Fahrten, Besichtigungen, Ausflüge etc. mindestens 24 Stunden zuvor schriftlich anzumelden.

      „Aber …“

      Die Einfuhr und die Ausfuhr von Gütern unterliegen den allgemeinen Vorschriften. Der Umtausch von D-Mark in Mark der DDR erfolgt über ein Konto bei der Staatsbank.

      Müller hört zu. Müller macht den Eindruck eines aufmerksamen Zuhörers. Müller schweigt, beredt. Was Wilhelm routiniert vorträgt, ist für Müller neu. Ihm ist, als werde ihm gerade eine Zwangsjacke angelegt.

      Wo befindet er sich?

      Im Außenministerium eines deutschen Staates, gegenüber dem Berliner Dom, einem Zeichen preußischen Revanchismus’, das wie das Schloss verschwinden sollte, aber nicht gesprengt werden konnte. Die Berliner nennen das hässlich plattengeschuppte Gebäude „Winzerstube“, nach dem Mann, der das Land auf dem begrenzten Parkett der Bruderstaaten vertreten darf. Hier sitzt Müller, in einer Hauptstadt, die Teilstadt ist, nicht Hauptstadt ist, mit ihm am Tisch das Trio seiner Staatsaufseher.

      Sie werden keine Freude an ihm haben.

      „Ihr habt sie nicht alle“, schaut er sie belanglos an. „Das ist euer Ernst? Ihr wollt mich kastrieren und ihr erwartet meine Zustimmung zu dieser Operation?“

      Müller weiß, sie drohen mit Sanktionen und haben Erfolg.

      Viele bleiben in der Stadt, nehmen offizielle Termine wahr, erfüllen ihre Funktion als politische Korrespondenten, fahren abends vom Arbeitsplatz DDR in den Westen zurück, Privilegierte. Dazu ist er nicht gekommen.

      Das Trio am Tisch hat sich gut etabliert, Karriere im System, Parteihochschule mit klaren Richtlinien, Wohlverhalten, Auszeichnungen, Privilegien. Wilhelm mit Kenntnissen über den Westen – Begleiter bei den Verhandlungen zum Helsinki-Abkommen, Monate in der finnischen Hauptstadt, auf internationalem Parkett. Frau Ernst hat Moskau erlebt, zwei Semester Lomonossow. Und der Dritte, Dr. Otto, der Älteste, der Blasse in Grau, der Apparatschik, voller Galle: hier geblieben, Klassenkämpfer, Westhasser, Verbitterter.

      Die neue Adresse im Osten

      Die Grauen an der Grenze können ihn nicht leiden, so wenig wie alle anderen, die hier nur nach Vorlage ihrer Dokumente, ohne Kontrolle ihrer Autos, ungehindert passieren dürfen, so oft sie wollen, auch mehrmals am Tag oder in der Nacht. Es sind die Männer und Frauen mit blauen Nummernschildern an ihren Dienstwagen aus dem Westen, teure Schlitten, die sich die Grauen in ihren Uniformen niemals würden kaufen können. Sie ahnen ebenso wenig wie er, dass sie diese hässlichen Verkleidungen in zehn Jahren ausziehen und wegwerfen werden, dass sie sich dann ungehindert auf die andere Seite begeben können – ohne von ihren Kameraden erschossen zu werden; dass sie dann jeden Wagen dieser Welt erwerben werden, wenn es ihnen gelingt, einen ordentlichen Job zu bekommen.

      Was die Grauen auch nicht wissen: Er kommt gerne. Manchmal redet er mit ihnen, ohne sie anzusprechen. Sie spüren seine Gedanken, erspüren sie an seiner Freundlichkeit, seinem Lächeln, mit dem er ihnen begegnet, während sie die angeordnete Miene aufsetzen und anschließend Auffälligkeiten melden müssen.

      Der Unbekannte vor ihm. Zurückhaltung, ein Gefühl von Beklemmung. Mitleid mit dem Kontrolleur, eingezwängt in einer Holzschachtel, zwei Quadratmeter Lebensfläche, acht Stunden am Tag, 160 Stunden im Monat, 1.760 Stunden im Jahr – vier Wochen Ferien bereits abgerechnet. Tage und Nächte auf zwei Quadratmetern zwischen dünnen Pressspanwänden. Vor ihm Gesichter, vertraut, Gesichter aus aller Welt, Spiegel von Normalisierung und internationaler Anerkennung, wie ein paar hundert Meter entfernt, Übergang Friedrichstraße, den die Amerikaner Checkpoint Charly nennen. Dort passieren sie alle: Japaner, Franzosen, Südafrikaner, Argentinier, Chinesen – die ganze Welt. Hier, Übergang Heinrich-Heine-Straße, erscheinen die Westdeutschen.

      Die Wohnung ein Gefängnis im Gefängnis, in das er sich freiwillig begeben hat. Während Hunderte ihr Leben, ihre Freiheit riskierten, um herauszukommen, wollte er herein. Er sitzt im Betonkäfig, elfter Stock, vor dem Haus ein Uniformierter, hier oben Wände und Telefon verwanzt.

      Ausblicke: vom Balkon nach drüben, in den Westen, zweihundert Meter entfernt die Mauer, der antifaschistische Schutzwall, hinter dem sich die imperialistischen Feinde des Springerkonzerns in ihrem Ullstein-Hochhaus Lügen über das sozialistische Vaterland ausdenken. Auf dem Dach das Emblem des Verlags als ständiges optisches Ärgernis. Nicht weit davon entfernt der Moritzplatz mit den Ateliers der neuen Wilden, die Kreuzberger Kneipen, eine Saufrepublik fröhlicher Zecher mit immer neuen Lebensformen, Experimenten, Diskussionen, Kreativität: Dichter, Maler, ein „König von Kreuzberg“, ein Gassenhauer: „Kreuzberger Nächte sind lang …“

      Und hier, fünfhundert, tausend, zweitausend Meter entfernt, im Osten. Hier sitzt er fest. Die Abende sind trostlos. Fernsehen und Gin Tonic, zwei, drei, fünf. Bevor er ins Bett geht, um in diesem überheizten Zimmer, kopfschwer und unruhig, schlafen zu können, im Bewusstsein, sie sind bei dir, belauschen dich, kennen dich, erklärt er ihnen, sie müssten sich nicht weiter um ihn sorgen, er werde sich jetzt zur Ruhe begeben und wünsche ihnen eine angenehme, von Provokationen störungsfreie Nacht. Er gibt sich heiter, locker, aufgeräumt. Dabei fühlt er sich in Wahrheit miserabel. Er bedauert sich.

      Eine auffällig stille Wohnung, in die trotz der dünnen Betonfertigteilwände selten Geräusche aus der Nachbarschaft dringen. Er hat andere Erfahrungen gemacht. Bei Leipziger Messen war er mehrmals in Neubausiedlungen einquartiert worden. Untergebracht im schmalen Zimmer der Kinder, die für diese Tage der Nebeneinkünfte bei Mutti und Vati schlafen mussten. Im Sanitärteil leere Waschmittel-Pappschachteln aus dem Westen aufgestellt, erreichten ihn von dort bereits früh um sechs die ersten akustischen Morgensignale der Körperhygiene, und nicht nur von dort, sondern aus vielen anderen Reinigungskabinen des Wohnblocks. Alles gleich nebenan. Erst danach kehrte Ruhe ein. Die Mieter verlassen ihre Dienstwohnungen, um den Abend drüben, auf der anderen Seite zu genießen, im Le Boubou, bei der Dicken Wirtin am Savignyplatz, bei Lutter und Wegener, in der Parisbar, im Florian oder bei irgendeinem Italiener, egal, jede Straße bietet mehr Abwechslung als hier die gesamte „Hauptstadt der DDR“.

      Auf der anderen Seite der freie Blick auf den Gendarmenmarkt, noch immer Ruinen, trostlos, das Konzerthaus und der Französische Dom. Beginn erster