Das Honecker-Attentat und andere Storys. Dieter Bub

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Название Das Honecker-Attentat und andere Storys
Автор произведения Dieter Bub
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954622115



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ein Kulturereignis – Paris, Wien, London, Salzburg, New York – ein Studiogespräch. Er entscheidet sich, den Chefredakteur des stern, Peter Koch, einzuladen, der in dieser Woche eine große Dokumentation über die Annäherung zwischen Ost und West im Heft publizieren wird.

      Zehn Uhr: Müller passiert die Gänge und Treppen aus seinem Büro im ersten in den zweiten Stock, erläutert sein Programm in der Vormittagskonferenz, Zustimmung, ohne Widerspruch, danach die Vorbereitungen, Absprachen mit dem Producer – Geruch von Morgen-Cognac, der Sekretärinnen-Duft von Chanel. Das Band zu einem Beitrag aus dem Iran wird abgehört und freigegeben. Flirt mit der Cutterin. Nichts Besonderes. Routine mit Kaffee, Zigaretten, Telefongesprächen.

      Bernhard Wilhelm wusste seine Möglichkeiten zu nutzen. Eigentlich nur passabel begabt, war er fleißig, schlau, pfiffig, heiter, anpassungsfähig, beredt. Mit diesen Eigenschaften, geschickt eingesetzt, ließ sich viel erreichen, bei Lehrern, in den Jugendorganisationen, an der Universität, in der Partei.

      Wilhelm schätzte seine Chancen ab, entwickelte eine Strategie, verfolgte sein Ziel. Eine Karriere in der SED schied aus, weil sie ihm mit ihrem Schulungs- und Versammlungs-Ritualen zuwider gewesen wäre. Sie entsprach nicht seinem Naturell, seiner Neigung zu eher lockerer Konversation und seiner Fähigkeit zur Formulierung. Er entschied sich für den Journalismus, der selbst unter dem klaren Parteiauftrag vielerlei Möglichkeiten bot. Bereits mit vierzehn gestaltete er Wandzeitungen, wurde Chefredakteur der Schülerzeitung, schrieb erste kleine Beiträge für die Junge Welt. Seine Aufnahme ins „Rote Kloster“, den Studiengang für Schriftsteller und Journalisten in Leipzig, war der erste Schritt.

       Brigitte B. mit ihrer Tochter auf dem Land

      Dieter Müller und Bernhard Wilhelm hätten sich begegnen können – wenn Müller geblieben wäre, geblieben im Arbeiter- und Bauernstaat, wenn er nicht, aus bourgeoisen Haus, vom als erstrebenswert propagierten Sozialismus abgewichen wäre, wenn sich jemand seiner angenommen hätte. Einige Parallelen hatte es in beiden Biografien gegeben. Müller verfasste als Vierzehnjähriger Gedichte und zwei Artikel über den Besuch einer sowjetischen Jugendgruppe in einem Heim in der Nähe des Schrebergartens am Krokusweg, die er an die Redaktion der Freiheit in Halle schickte. Sie wurden veröffentlicht, der Autor erhielt neben einem Honorar die Aufforderung, als „werter Volkskorrespondent“ Neues einzusenden. Daraus wurde nichts, der 17. Juni veränderte die Ansichten des jungen Autors, der ohne diesen Volksaufstand vielleicht nach dem Abitur ebenfalls im „Roten Kloster“ eingezogen wäre.

      Brigitte B. und ihr Mann entschieden sich für das Land als Ort der Möglichkeiten in der Enge; fort aus der Bevormundung, die ihnen ihre Freiheit ließ, die Halbemigration, das Arrangement, wie es viele gewählt haben.

      Draußen, vor den Toren der Stadt, nördlich von Löwenberg, links und rechts der F7 bilden sie die Gemeinschaft der Aussteiger oder Halbaussteiger – der Grafiker, der Kinderbuchautor, der Jazzposaunist, der Dokumentarfilmer, der Theaterregisseur, der Maler, der Dramaturg, ein Schauspieler und sie, die Restauratorin. Sie sind unauffällig, genügsam und fügsam, keine Aufbegehrer, sondern nur die üblichen Systemmeckerer, die auf Genehmigungen für Auftritte, auf Papier, auf Filmmaterial, die immer auf etwas warten.

      Die Akkreditierung

      Als die Hamburger Chefredaktion ihn in Ostberlin als Korrespondenten anmeldet und das Gremium im Außenministerium über den Antrag berät, gibt es keine Bedenken. In den Unterlagen der Staatssicherheit finden sich die Abschriften von Berichten und Kommentaren für den NDR. Beiträge über die Weltjugendfestspiele vermitteln den Eindruck von einem Fest globaler Völkerfreundschaft, von der Solidarität mit Unterdrückten, vom Kampf gegen Ausbeutung und Diktaturen. Eindeutig Müllers Sympathien für die Verfolgten aus Chile, für die Demonstranten in Westberlin. Sein Dossier weist ihn als Linken aus, der aus Protest nach dem NATO-Doppelbeschluss aus der SPD ausgetreten ist, als Kritiker Amerikas und Gegner des Vietnamkrieges, als einen Spätachtundsechziger.

      In den Unterlagen befinden sich Manuskripte über die Weltjugendfestspiele, von Besuchen der Ostseewochen in Rostock, Leipziger Messen, von Festivals des politischen Liedes – mit einem süffisant ironischen Ton. Sie werden erst viel später seine Identität als Republikflüchtling erkennen, der unbemerkt wenige Jahre vor der Akkreditierung die Gelegenheit zu einem heimlichen Klassentreffen genutzt hatte. Sie bescheinigen dem Neuen nach Durchsicht der Unterlagen durchaus Sympathien für die DDR und eine kritische Haltung gegenüber den Konservativen in der Bundesrepublik.

      Ausführlich die Dokumentation einer Reportage auf der Insel Rügen und in Stralsund.

       Zu MÜLLER wurde bekannt, dass er keiner Partei angehört. Nach seinen Angaben steht er der SPD nahe und befürwortet deren Programm. Er erkennt den Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR an und sieht deren positive Seiten für die Entwicklung zwischen beiden deutschen Staaten. Des Weiteren erkennt er die daraus sich ergebenden Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten der BRD in der DDR an.

      In Binz waren die Genossen der Staatssicherheit nach der Teilnahme an den Diskussionen der Hamburger Studenten mit einer ausgewählten FDJ-Delegation wieder in ihre Zentrale nach Stralsund zurückgekehrt. Sie hatten versäumt, die Stunden nach den Gesprächen und dem Abendessen zu überwachen. Die Westdeutschen trafen sich in der Kneipe gegenüber der Jugendherberge mit einheimischen Jugendlichen, seltener Westbesuch, Reden bis in die Morgenstunden über die Veränderungen in Westdeutschland durch die Bewegung der Achtundsechziger-Generation, die sich aufgemacht hatte verkrustete Strukturen aufzubrechen und die Gesellschaft zu verändern. War die DDR nicht auch, auf andere Weise, erstarrt? Diese Nächte, nach denen niemand, auch der Wirt nicht, anschließend ein Protokoll verfasste, diese Nächte einer unkontrollierten Begegnung waren die Ausnahme.

      „Dass wir hier nicht raus können, das isses“, schimpft Jochen. „Wir wollen doch gar nicht abhauen, wir würden ja wiederkommen“, meint Peter.

      „Stell’ dir vor, Dänemark ist ganz nah, selbst mit der Luftmatratze haben es ein paar geschafft.“

      „Ein zwei Stunden mit der Fähre. Einen Tag und dann wieder zurück. Mehr nicht“, ergänzt Jochen.

      „Was willst du da? Die warten gerade auf uns. Mit unserer Mark, die nichts wert ist“, mischt sich Angelika ein. „Selbst in Bulgarien sind wir doch nur Deutsche zweiter Klasse, wenn wir da überhaupt hindürfen.“

      „Sie lassen euch nicht reisen, weil sie euch nicht trauen. Sie fürchten, ihr würdet abhauen.“ Hatte Müller damals erklärt.

      „Stimmt wahrscheinlich.“

      „Na klar.“

      „Wir sind eben noch keine gefestigten sozialistischen Persönlichkeiten.“

      So ging es nächtelang. Runde um Runde.

      Danach bekam er Post. Gesine wünschte sich ein Autogramm von Roland Kaiser. Müller war kein Roland Kaiser-Fan und vergaß die Bitte. Gesine wartete, ahnte nicht, dass sie eines fernen Tages Roland Kaiser erleben sollte, live.

      Wann immer es ging, war er zurückgekehrt, in dieses Land, das zu Deutschland gehörte und doch so weit entfernt war. Er hatte, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Minderung der Gefahr gegenseitiger Vernichtung jede Gelegenheit zu Reisen in die DDR genutzt, war so zu einem Spezialisten für deutsch–deutsche Fragen geworden, hatte von Hamburg und Westberlin aus die Beziehungen zwischen beiden Staaten kommentiert.

      Müller machte sich keine Illusionen über seine Arbeit. Er hatte im Sender als Experte für deutsche Fragen gegolten, weil er sich die erforderlichen Grundkenntnisse über die Geschichte und die Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten erworben hatte, weil er sich über Viermächteabkommen, Besucherregelungen, Transitvereinbarungen, Helsinki, Grundlagenvertrag und deren Akteure, soweit sie bekannt waren, informiert hatte, weil er einen Teil dieser Geschichte selbst erlebt und immer wieder beobachtet und kommentiert hatte. Im Gegensatz zum Großteil seiner Kollegen wusste er, wer zur Gruppe Ulbricht gehört hatte, kannte er die