Das Honecker-Attentat und andere Storys. Dieter Bub

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Название Das Honecker-Attentat und andere Storys
Автор произведения Dieter Bub
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954622115



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Wolf Biermann, der Gerechte, Selbstgerechte, ein Schmählied schrieb, das ein Leben zerstörte.

      „Und wann hast du deinen Irrtum begriffen?“, fragt Müller.

      „Eine Vision ist kein Irrtum. Die Vision von einer sozialistischen Gesellschaft ist kein Irrtum. Es war die Erkenntnis, dass Diktatur nicht zum Ziel führt. Jeder Versuch, eine Vision mit den Mitteln der Diktatur zu verwirklichen, muss scheitern.“

      Und hier treffen sich die Erlebnisse des Fünfzehnjährigen aus Halle mit der Analyse des Wissenschaftlers aus Berlin. Das trennt die beiden: Der eine floh und kehrt nun doch zurück, der andere blieb, weil er bleiben musste.

      Im Außenministerium der DDR beobachtet man seit einiger Zeit ein wachsendes Interesse der Westmedien. Die Berichterstattung beschränkt sich nicht auf die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Es erscheinen immer häufiger Beiträge über renitente Künstler wie Biermann und „Bürger mit antisozialistischer Gesinnung“.

      Wilhelm hat geahnt, dass der stern nach den ruhigen Zeiten mit Nick Barkow sich intensiver mit der DDR beschäftigen würde. Er hatte freilich nicht geahnt, welche Schwierigkeiten der Neue bereiten würde. Müller wird zur Belastung. Ihn zu betreuen, ist eine undankbare Aufgabe. Alle Informationen, alle Berichte, alle Aussagen über Müller erreichen Wilhelm, sie beanspruchen ihn. Müller bedeutet Arbeit, Überraschungen, aber auch Überraschendes. Der Genosse im Außenministerium erhält Material, aus dem sich ein Psychogramm entwerfen lässt: Ess-, Trink-, Schlaf-Gewohnheiten, Bewegungen, Müllers Verhalten beim Geschlechtsakt, seine Sorglosigkeit im Umgang mit Schriftstücken und Notizen, wobei es auch möglich wäre, dass der Beobachtete seine Beobachter auf falsche Fährten lockt. Oder sollten drei, vier Briefe von einer Bekannten aus Westberlin unbeabsichtigt im Abfall gelandet sein?

      Müller ahnt nicht, wie genau Wilhelm sich mit ihm beschäftigt, ihn kennt, immer näher kennenlernt, hört nicht die feine Ironie in der Stimme seines Wächters, spürt nicht das Erstaunen über seine unerwarteten Reaktionen – zwei Schachspieler, bei denen jedes Spiel im Remis enden muss. Wilhelm versucht aus dem Verhalten Müllers Erkenntnisse zu gewinnen, um so dessen Schritte bewerten, voraussehen zu können.

      Meyer erwartet regelmäßig Berichte über die Korrespondenten aus der BRD, die mit wenigen Ausnahmen Ruhe bewahren, sich an die Vorschriften halten, über die politischen Ereignisse berichten, über die Vorbereitungen zu einem Treffen des Staatsratsvorsitzenden mit dem Bundeskanzler, Artikel zu Messen, offizielle Erklärungen. Probleme bereiten vor allem die Korrespondenten des Spiegel, dessen Büro bereits zweimal geschlossen werden musste, und die Fernsehkorrespondenten, die sich intensiv mit den subversiven Kräften beschäftigen und ihren so zu unangemessener Aufmerksamkeit verhelfen.

      Müller verstärkt die Gruppe der Schwierigen. „Der Mann ist unberechenbar“, erklärt Wilhelm, nachdem das Dossier über den ersten Besuch in Grünheide vorlag. Seit der renitente Philosoph unter Hausarrest stand, hat ihn keiner der Journalisten besucht, haben alle auf einen Kontakt verzichtet.

      „Wir müssen ihn aufhalten, zurückweisen“, fordert der graue Doktor Otto.

      „Wir können ihn nicht zurückweisen“, wendet Genosse Meyer ein. „Die Korrespondenten genießen einen diplomatischen Status.“

      „Außerdem“, so Wilhelm, „auch das wäre für ihn sofort wieder eine Geschichte.“

      1945, das Ende des Krieges, die Befreiung für die Überlebenden in den Ruinen, in den Konzentrationslagern, in den Gefängnissen. Für die Emigranten war Hoffnung, auch für Robert Havemann und Erich Honecker, war die Chance zu einem Neubeginn; und viele sahen die bessere Zukunft im Osten, die Möglichkeit zur Neugestaltung eines Landes, unabhängig von Industrie und Kapital, scheinbar frei von alten Nationalsozialisten, von denen es doch auch viele gab, die auch für den Aufbau des Sozialismus genutzt wurden. Aber: sie waren nicht Teil der Machtelite wie in der Bundesrepublik, in der Hitlers Getreue neue Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Geheimdiensten schamlos übernommen hatten.

      Hier in der DDR dagegen schien ein neuer Geist Großes zu schaffen: Arbeiterenthusiasmus, Fortschrittsglauben, Aufbau, Hymnen, denen da drüben beweisen, was möglich ist: Auferstanden aus Ruinen … Die Versprechungen erfüllten sich nicht. Schuften für die Industrie („Max braucht Wasser!“) ohne gerechten Lohn bei Mangel an Lebensmitteln und Konsumgütern. Dazu die fortschreitende Etablierung der Diktatur – die „Gruppe Ulbricht“ erfüllte den Moskauer Auftrag nach sowjetischem Vorbild, unter der Kontrolle der Besatzungsmacht: Zwangsvereinigung von KPD und SED, Verfolgung, Verurteilung, Hinrichtung vermeintlicher Kollaborateure und Staatsfeinde, Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, Terrorjustiz, Ausschaltung Andersdenkender, Unterdrückung aller Reformansätze, Denunziation und Isolation von Journalisten, Schriftstellern, Künstlern, tausende politische Gefangene. Die Diktatur mit dem Beginn ihrer Selbstzerstörung, der Anfang eines jahrzehntelangen Siechtums.

      Grünheide: Frühjahr. Bäume und Büsche im frischen Grün. Ein milder Abend. Ein ungerufener Bekannter erscheint, mit einem übertrieben herzlichen „Hallo, wie geht’s, mein Lieber!“ Robert zu Schmitt und Müller nebenbei mit einer Handbewegung über den Mund. Schweigen. Freddy aus Ostberlin, modisch gekleidet, flott mit einem Mallorca-Gürtel, packt eine Flasche Sekt und Stuyvesant-Zigaretten aus.

      „Donnerstag“, sagt er, „Zeit für eine Schachpartie, lieber Robert.“

      „Das ist Freddy“, stellt Robert den Besucher vor „Und das sind Dieter und Harald!“ Mehr nicht. Bevor Freddy es vergisst: „Ich könnte dir helfen und dich vor den neugierigen Blicken der Bewacher schützen!“

      „So! Interessant! Und wie?“, fragt Robert höflich den ungebetenen Gast, der einmal in der Woche erscheint. Donnerstags. „Ich habe gute Verbindungen nach Ungarn. Die liefern mir auf Wunsch einen drei Meter hohen Zaun aus Reet. Wir können ihn rund um euer Grundstück aufstellen. Als Sichtschutz.“

      „Besser nicht, was meinst du, Robert?“, fragt Katja, die zugehört und belegte Brötchen auf den Tisch gestellt hat.

      „Damit versperren wir uns ja jeden Spaß und jede Abwechslung, und unseren Betreuern auch!“

      So würde die Staatssicherheit Robert Havemann zum Schutz vor der Staatssicherheit einen Reetzaun liefern. Der Einschmeichler. Und so leben Robert und Katja mit der Firma im eigenen Haus. Robert gewinnt die Partie.

      Der 30. Geburtstag

      Harald Schmitt fragt Müller, ob er am Wochenende mitkommen wolle aufs Land, im Norden, anderthalb Stunden außerhalb der Stadt, ein Dorf nördlich von Oranienburg und Löwenberg, Namen, die ihm unbekannt sind. Brigitte B. feiert ihren 30. Geburtstag. Sie hätte sicher nichts einzuwenden, wenn er sie begleiten würde.

      Er sitzt in dem kleinen roten japanischen Wagen, einem sportlichen Toyota, dem einzigen in der DDR, schnittig. Vorn Harald, neben ihm die Restauratorin Annette, eine Kollegin von Brigitte B. Müller, auf der schmalen Rückbank, gut und warm verpackt in neuer Garderobe, die er erst gestern gekauft hat, eine weinrote gefütterte Hose, braune Lederstiefel und einen hellblauen Anorak, darunter ein dunkelblauer Pullover. Er hasst es, zu frieren. Der Winter hat unerwartet früh eingesetzt. Es schneit bereits seit Stunden. So kommen nur langsam voran. Die Flocken blenden, der Wagen findet mit Sommerreifen nur schwer Halt auf dem rutschigen Untergrund im Brandenburger Winterweiß. Räumfahrzeuge sind nicht in Sicht, vermutlich gibt es nur wenige, die eingesetzt werden können. Vielleicht bleiben sie auch in den Garagen, und die Einsatzleiter warten erst einmal bis morgen früh ab. Auch dann wäre noch genügend Zeit. Nur wenige Autos unterwegs. Fremde Welt, ferne Welt, verlassene Gegend. Auf sechzig Kilometern zählt Müller fünfzehn Autos. Sie fahren auf der Fernstraße, der F 97, über Oranienburg und Löwenberg, biegen nach fünf Kilometern rechts auf eine schmale Straße ab, deren Fahrbahn unter einer dicken Schneedecke kaum zu erkennen ist. Märchenland? Oder: Der Hund verfroren? Eine Brücke über die Eisenbahnstrecke an die Küste, frischer Schnee spurenlos. Es schneit weiter.

      Auf der Suche. Ein Dorf wird passiert. Dann ein Weiler, eine Ansiedlung von zehn, zwölf Häusern. Vor einem unscheinbaren Gebäude am Ende