Mord bei den Festspielen. Sibylle Luise Binder

Читать онлайн.
Название Mord bei den Festspielen
Автор произведения Sibylle Luise Binder
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839262887



Скачать книгу

unser Vater hatte vor drei oder vier Jahren einen Herzinfarkt. Er wollte aber nicht, dass jemand davon erfährt. Du weißt doch: Krank zu werden ist ganz mies für die Karriere.«

      Und für die Eitelkeit, setzte ich im Geiste dazu. Miercoledi hatte doch immer versucht, sich ungeachtet seines Alters als Sportler und wahrer Supermann zu präsentieren. Ich erinnerte mich an die Fotos, die er in den sozialen Medien veröffentlicht hatte: Miercoledi ganz in Weiß mit Schweißband um die Stirn auf dem Tennisplatz; Miercoledi in Badehose und Schutzweste auf dem Jetski; Miercoledi mit Töchtern beim Skifahren; Miercoledi im Dress des AC Florenz bei einem Fußball-Charity-Match.

      Je länger der Arzt am Formular schrieb, desto neugieriger wurde ich. Schließlich konnte ich nicht mehr widerstehen. Ich ging zum Tisch, schenkte mir auch einen Kaffee ein und schielte über die Schulter des Doktors auf das Papier. Es erinnerte mich mit seinen grau-weiß unterlegten Kästen an eine Steuererklärung, nur dass in dem obersten Kästchen »Totenschein« stand. Darunter kamen die persönlichen Angaben für Miercoledi, Guido Mario Michelangelo. Mein Blick fiel auf »Geburtsdatum«. Wie Lucas gesagt hatte: Miercoledi hatte in den letzten Jahren bezüglich seines Geburtsdatums geschummelt. Er hatte vor ein paar Tagen angekündigt, dass er in Kürze eine große Party zu seinem 75. Geburtstag schmeißen werde. Doch nun hatte der Arzt das Geburtsdatum aus dem Pass eingetragen: 24. August 1935. Also war Miercoledi 83 gewesen.

      Bei »Identifikation« hatte der Doktor zwei Kästchen angekreuzt: »Nach Pass« und »Nach Angaben von Angehörigen/Dritten«. Darunter kam unter »Todesort« Name und Anschrift unseres Hotels und unter »Totenzeitpunkt« stand »circa vier Uhr«.

      Zwei Zeilen tiefer wurde nach der »Todesart« gefragt. Da hatte der Arzt »Natürlicher Tod« angekreuzt.

      Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich beim Lesen die Luft angehalten hatte. Es fiel mir erst auf, als ich mich bei einem erleichterten Ausatmen erwischte. Ich stellte die halbvolle Tasse ab – der Kaffee war inzwischen lauwarm und schmeckte abgestanden – und ging zu Lucas, der sich in einem Sessel niedergelassen hatte. Ich klemmte mich auf die Lehne und legte meinen Arm um seine Schulter, wofür ich ein kleines Lächeln bekam.

      Seine Nähe beruhigte mich und plötzlich überlegte ich mir, warum ich ob des natürlichen Todes so erleichtert gewesen war. Es war doch wohl außer Zweifel gestanden, dass bei Miercoledi niemand nachgeholfen hatte! Verrückte Idee – wahrscheinlich meinem Schock beim Anblick der Leiche entsprungen.

      Ich lehnte mich ein wenig mehr an Lucas. Er lächelte mir kurz zu, aber seine Augen blieben ernst und er wandte seine Aufmerksamkeit sofort wieder dem Arzt zu, der gerade sein Formular stempelte.

      Lucas räusperte sich. »Wie geht es jetzt weiter?«

      Der Arzt zuckte mit den Schultern und räumte Mappe, Stift und Stempel wieder in seine Tasche. »Das ist nicht mehr mein Problem. Von mir bekommen Sie jetzt den Totenschein und die Rechnung. Dann bin ich weg.«

      Dem Hotelmanager, der die ganze Zeit schweigend an der Wand gelehnt hatte, war es offenkundig peinlich, dass der von ihm eingeführte Arzt so unfreundlich war. Er schaute ihn strafend an. »Ich denke, hier muss der Bestatter übernehmen. Wenn es Ihnen recht ist, begleite ich den Herrn Doktor Hartmann nach unten, regle die Sache mit der Rechnung und rufe den Bestatter an.«

      Ich konnte mich nicht einmischen, aber Lucas hatte damit kein Problem. »Brauchen wir nicht noch die Polizei?«, erkundigte er sich.

      Der Arzt, der gerade seinen Rucksack schloss, schüttelte den Kopf. Ohne Lucas anzuschauen, antwortete er: »Polizei brauchen Sie nicht. Ich habe ›Natürlicher Tod‹ angekreuzt, außerdem hatte er keine ansteckende Krankheit Also besteht keine Seuchengefahr. Unter diesen Umständen interessieren sich weder die Polizei noch das Gesundheitsamt für den Mann, also können Sie ihn normal bestatten lassen.« Er warf sich seinen Rucksack über die Schulter. »Tja, das war’s für mich. Schönen Sonntag kann ich hier wohl nicht wünschen. Also alles Gute!«

      *

      Nachdem der Arzt verschwunden war, erwachte Marietta aus ihrer Erstarrung und wurde aktiv, indem sie erst einmal Antonio Merlato, den langjährigen Agenten ihres Vaters, anrief und nach Lindau beorderte. Lucas und ich schauten uns unterdessen an, er nickte kurz und wir standen im gleichen Moment auf. Er rieb sich über die unrasierte Wange. »Ihr entschuldigt uns? Ich muss mich rasieren, Victoria will sich sicher anziehen. Aber wenn ihr uns braucht, meldet ihr euch, ja? Wir sind nur einen Anruf entfernt!«

      Ich war erleichtert, als wir in unserer Suite angekommen waren. Obwohl wir beide Mario Miercoledi nicht sehr gemocht hatten – diesen Tod hätten wir ihm nicht gewünscht und so waren wir sehr erschüttert. Dementsprechend waren wir dann eine ganze Weile schweigend am Fenster gestanden, bevor ich mich ins Bad verzog. Als ich endlich geduscht und angekleidet war, orderte ich erst einmal Frühstück – noch mehr Kaffee und Spiegeleier mit Speck für Lucas, Tee und Obstsalat für mich.

      Ich saß schon am Tisch, als Lucas frisch rasiert aus dem Bad kam. Er hatte das blaue T-Shirt, in dem er geschlafen hatte, gegen ein graues Polohemd getauscht, statt den Jeans trug er nun eine anthrazitfarbene Bundfaltenhose.

      »Sein Tod geht dir ziemlich an die Nieren«, sprach ich ihn an.

      Er nickte, ließ sich neben mir nieder und schenkte sich Kaffee ein. »Ich habe Giulia und die Mädchen gut 25 Jahre lang gekannt und er hat mich sogar ›Freund‹ genannt.« Er verstummte, rührte einen Würfel Zucker in seinen Kaffee und sagte langsam: »Die Mädchen tun mir leid. Es ist seltsam …« Er trank einen Schluck. »Ich habe Mafalda und Marietta immer gewünscht, dass sie sich von ihm freimachen und endlich ein eigenständiges Leben führen können.«

      Ich wusste, dass er jetzt an seine eigene, sehr selbständige Tochter dachte, die Agrarbiologie studiert hatte und nun als Dozentin in Weihenstephan ist. Lucas hing sehr an ihr, telefonierte einmal in der Woche mit ihr, freute sich über jede Mail, vermisste sie und war sehr stolz darauf, dass sie ihr Leben so gut im Griff hatte.

      Die Miercoledi-Töchter hatten nie eine Chance dazu bekommen. Beide Eltern hatten sie festgehalten und immer wieder den Familienzusammenhalt beschworen. Und in der Branche redete man darüber, dass Miercoledi ihnen gerne auch Männer ausgesucht hätte – wobei mir erzählt worden war, Lucas und Cayetano seien da Kandidaten gewesen. Ansonsten hatte der eifersüchtige Patriarch seine Töchter wie weiland Rigoletto beschützt – und der wollte den Herzog, der sich seinem Blondchen genähert hatte, bekanntlich umbringen lassen.

      Lucas setzte sich, nahm die Silberhaube von seinem Rührei und begann zu essen. Nach einem Moment schluckte er. »Jetzt sind Marietta und Mafalda frei – aber ich hätte ihnen gerne den Schock erspart, ihren Vater in so einem Zustand sehen zu müssen.« Er fasste nach meiner Hand. »Dir und Giulia natürlich auch.«

      »Für mich war es nicht so schlimm. Mir stand er ja nicht nahe.« Ich hatte mir Tee eingeschenkt, rührte zwei Kandisbrocken ein und lauschte auf das Knistern, mit dem sie sich im heißen Wasser auflösten. »Ich überlege mir nur, woran Miercoledi gestorben ist. Der Arzt vermutet, dass es das Herz war, aber wie passt das zu seinen Magen-Darm-Beschwerden?«

      »Hinterwandinfarkt«, sagte Lucas. »Mein Vater ist an einem Hinterwandinfarkt gestorben. Die ersten Symptome sahen aus, als ob er sich einen Magen-Darm-Virus eingehandelt hätte.« Er war damals noch mit Ruth, seiner ersten Liebe, verheiratet gewesen. Sie war Ärztin und er hatte einiges bei ihr mitbekommen. »Ruth hat mir damals erklärt, das sei normal. Bei einem so schweren Infarkt schaffe es das Herz nicht mehr, alle Organe mit Blut zu versorgen, also schalte es erst mal die ab, die nicht unbedingt zum Überlegen gebraucht werden. Dazu gehört das Verdauungssystem.«

      »Ruth wird darüber Bescheid gewusst haben«, sagte ich. Mich fröstelte beim Gedanken, wie einsam und elend Miercoledi gestorben sein musste. Andererseits: Er war 83 Jahre alt gewesen, er hatte Probleme mit dem Herzen gehabt, war aber dennoch wie ein Junger ständig um die ganze Welt gejettet und hatte überall den starken Mann gegeben. Ich kannte Leute, die ihn dafür bewunderten und seine Jugendlichkeit priesen.

      Ich allerdings hatte mich schon länger gefragt, was ihn antrieb. Geld konnte es eigentlich nicht mehr sein. Er war als durchaus merkantil bekannt, man wusste, dass er in seinen