Taiga. Sergej Maximow

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Название Taiga
Автор произведения Sergej Maximow
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114489



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      »Aufwärmen wollt ihr euch?«, redete er, während er mit der Schaufel hantierte. »Aufwärmen? An die Schubkarre mit euch, da wird euch schon warm werden!«

      »Aber Bürger Erzieher! Wir haben uns doch gerade erst kurz hingesetzt!«, kam es erregt von Nikolai Iwanowitsch Suschkow, einem Professor der Archäologie, der seinerzeit in Moskau mit äußerst interessanten Veröffentlichungen über Ausgrabungen in Buchara viel Aufsehen erregt hatte. Schwach, sehr krank, schob er gefügig drei Jahre lang die Schubkarre. Verurteilt hatten sie ihn aufgrund von »Nichtanzeige« – er hatte seinen Bruder nicht denunziert, einen der Sabotage angeklagten Ingenieur.

      Grischka Filon warf das letzte brennende Scheit weit weg, stützte sich dann auf die Schaufel, ließ die fahlen Augen über uns schweifen und ergriff das Wort, bemüht, seiner Stimme einen belehrenden Ton zu verleihen:

      »Ihr, Bürger, befindet euch sozusagen in einem Arbeitsbesserungslager des NKWD … äh … Das ist sozusagen keine zaristische Zwangsarbeit, sondern – äh – erzieherische. Die Sowjetregierung mit dem Genossen Stalin an der Spitze – äh – bestraft Verbrecher nicht, sondern erzieht sie um … Ihr seid sozusagen Volksfeinde, man vertraut euch nicht … und deshalb muss man euch umerziehen. Umschmieden, sozusagen …«

      »Ich bin kein Volksfeind, ich bin Dieb«, rief Som dazwischen: »Schmeiß mich nicht in einen Topf mit den anderen, Filon!«

      »Ich halte die Rede ja nicht dir, sondern den Politischen … Denkt dran, Bürger Häftlinge, nur durch Arbeit und Umerziehung könnt ihr in die Reihen der vollberechtigten Sowjetbürger zurückkehren … Und deshalb karrt so viel Erde wie möglich … Die Karr-Norm müsst ihr nicht nur erfüllen, ihr müsst sie übererfüllen!«

      So bedrückend es auch war, der Rede des Erziehers zuzuhören – viele von uns fingen doch an zu grinsen.

      »Was feixt ihr so?«, brüllte Filon. »Hier wird gearbeitet und nicht gelacht! Ich war selbst ein großer Ganove und Bandit, aber hier bin ich zum Menschen geworden … Die Norm müsst ihr erfüllen, die Norm!«

      »Eure Normen, Bürger Erzieher, sind nicht zu schaffen.« Der Professor wiegte den Kopf.

      »Was heißt – nicht zu schaffen? Natürlich, wenn du unserm Land nicht helfen willst, schaffst du auch die Norm nicht … Ich warne dich, Alter: Erfüllst du die Norm nicht, kommst du ins, sozusagen, Strafteillager. Kubik, Kubik, Kubik ist angesagt!«

      Die Rede des Erziehers zog sich hin, und mit ihr auch die Ruhe­pause. Wir begannen sinnlose Fragen zu stellen, um den erneuten Kontakt mit unserer gemeinsamen Freundin, der Schubkarre, hinauszuzögern. Filon aber besann sich bald und schrie drohend:

      »Jetzt reicht’s aber: Wie lange wollt ihr euch noch drücken? He, Alter, hoch mit dir! An die Arbeit!«

      Ohne Eile begaben sich die Häftlinge an die Abbaustellen.

      Som erhob sich und fing an zu singen:

      »Karre, ach Karre, hab keine Angst …

      bleib du nur ruhig, ich rühr dich nicht an …«

      Er stieß die Schaufel mit Wucht in die blaue Tonerde.

      »Knallt es im Sprengloch, knallt’s Ammonal,

      zum Teufel, was will ich am Weißmeerkanal?«

      Die täglichen zwölf Stunden harter körperlicher Arbeit zehrten an unseren Kräften, Rücken und Arme schmerzten unerträglich, die schwieligen Hände bluteten, die Schubkarren kippten immer wieder um, Hunger quälte uns.

      Am Rand der Grube stand, als scharf konturierte Silhouette vor den zerrissenen Wolken, der kleine Mann mit den hässlichen Reithosen, die Hände in den Taschen der Lederjacke, sabberte an einer billigen Papirossa, und kraft eines paradoxen Gesetzes verkörperte dieses winzige Stück Niedertracht, das aus allen der Menschheit eigenen Schändlichkeiten zusammengeknetet war, jene Kraft, die Hunderttausende Menschen zwang, einen zusätzlichen Kubik­meter Erde zu erbeuten in der nebulösen Hoffnung auf »vorzeitige Entlassung« und baldige Rückkehr zu den Lieben, die irgendwo geduldig auf ihren Märtyrer warteten, und die sie zwang, ihre letzten Kräfte zu verausgaben, Blut zu spucken und die schwere Karre weiter, weiter, weiter zu schieben.

      Am nächsten Tag weckte uns die eiserne Pufferplatte, die vor der Wache hing, früher als sonst. Es war noch ganz dunkel. Der monotone, kalte Klang erinnerte an Totenglocken.

      Die gesamte Insassenschaft des Außenlagers, tausendzweihundert Mann, hatte brigadeweise vor den Zelten und Baracken anzutreten. Etwas lag in der Luft. Vor der Wache drängte sich die Lagerleitung.

      Der Leiter des Außenlagers Gorjew konnte sich, sturzbesoffen, kaum auf den Beinen halten; nach dem Gelage vom Vortag war er offenbar noch nicht ausgenüchtert. Zwei kräftige Kerle mit blutig roten Kragenspiegeln an den Uniformmänteln stützten ihn behutsam.

      »Ruhe!«, brüllte einer von ihnen. »Der Leiter des Außenlagers will ein paar Worte sagen!«

      Gorjew machte eine schlappe Handbewegung, grinste dümmlich und gab mühsam ein »Bürg… brk… bürg… brk« von sich.

      Da schnellte der flinke Grischka Filon aus dem Gefolge, sprang auf einen Baumstumpf und brüllte aus vollem Hals:

      »Bürger Häftlinge! Heute ham wir einen Sondereinsatz … Is das klar? Heute müssen wir sozusagen, koste es, was es wolle, im Abschnitt fünfundachtzig den Zugang zur Brücke aufschütten und … sozusagen … den Zuch durchlassen. Dieser Auftrag für den heutigen Tach kommt von unserm Leiter aller Arbeits- und Erziehungslager des Ucht-Petschora-Bereiches, dem Genossen Jakow Moros. Ich meine, Genossen … äh … Bürger Häftlinge … die Partei, der Genosse Stalin und der Genosse Moros rufen uns auf, eine große Tat zu vollbringen! Das is was andres, als ein Schloss zu knacken oder einem Madamchen die Tasche zu klaun, sondern wir lassen sozusagen durch Arbeit und Umerziehung einen Zuch durch. Hurrah!«

      »Hurrah!«, riefen die Männer mit den himbeerfarbenen Kragenspiegeln.

      »Hurra!«, klang scheppernd eine einzelne Stimme aus der Menge der Häftlinge. Ein gebeugter Alter rief das, wankend vor Schwäche. Er wusste offensichtlich nicht mehr, was er tat.

      Die in aller Eile errichtete Brücke über den Fluss Lun-Wosch war fertig. Rechts und links von ihr erhoben sich zwei lange, noch nicht vollständig aufgeschüttete Erdkegel.

      Über die gesamte Länge der Brücke prangte ein grelles Spruchband: »Arbeit ist in der UdSSR eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhms, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums! (Stalin).«

      Geschäftig teilten die Gruppenführer die Brigaden der Erdarbeiter ein; die Arbeit begann. Der Aushubbereich unserer Brigade befand sich an einem Hang, etwa hundert Meter vom linken Erdkegel entfernt. Ein Teil der Brigade arbeitete in einer großen Höhle am Rand der Abbaustelle.

      Grischka Filon rannte umher, trieb uns mit schäumendem Mund an:

      »Legt einen Zahn zu, Bürger! Der Genosse Moros kommt persönlich zur Brückeneinweihung … Es heißt, sie verkürzen allen die Haftstrafen … entlassen uns vorzeitig … Ein Orchester kommt auch noch.«

      »Kukuschka«, die kleine Werksbahn, durchdrang die Taiga mit schrillen Pfiffen und brachte Schwellen und Gleise heran. Meter um Meter wurde die Strecke verlegt.

      Verbissen schaufelte Professor Suschkow Sand auf die Karre, hob sie mit seinen schwachen Armen an, schob sie, hin und her schwankend, den glitschigen Pfad hinauf zur Aufschüttung. Ich sah, dass er am Ende seiner Kraft war.

      »Lassen Sie das, arbeiten Sie langsam«, riet ich ihm.

      »Aber wer weiß, vielleicht lassen sie uns ja wirklich früher raus«, entgegnete er, stoßweise atmend.

      Bald darauf kam eine Blaskapelle. Die Musiker nahmen eilig auf einer Grasfläche unter Kiefern Platz und spielten einen schnellen Foxtrott:

      »Mein süßes Mägdelein,

      das ist so hübsch und fein …«

      Ein Häftling rollte mitsamt