Taiga. Sergej Maximow

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Название Taiga
Автор произведения Sergej Maximow
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114489



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      »Die haben keinen Transport erwischt. Die hat es anders erwischt«, entgegnete Sacharow finster. »Man hat sie erschossen.«

      Vater Sergij bekreuzigte sich. Der Kerzenstummel zischte kurz und erlosch. Es wurde völlig dunkel. Die Kriminellen hörten auf zu tuscheln und stimmten leise ein Gaunerlied an:

      »Von weit her, aus Kolyma, Kolyma,

      geht an dich, meine Liebste, ein Gruß …«

      Das Wasser schlägt gegen die Bordwand, als wolle es uns in den Schlaf wiegen. Es ist feucht und finster, und es stinkt. Schweres, vielstimmiges Schnarchen … Im Herzen aber Trauer und Kälte.

       EINE NACHT

      Ich stehe vor einer kleinen Blockbaracke – dem Leichenhaus.

      Es ist Herbst. Über mir hetzen zerzauste Wolken trübsinnig entlang und mir wird ganz beklommen zumute. Wie weiße Kerzen stehen kleine Birken da und lauschen der traurigen Totenmesse – dem leisen Rauschen der Taiga. In der Dämmerung schweben die letzten vereinzelten Blätter herab; trocken, gelb, fallen sie ohne Eile auf die feuchte Erde.

      Das Leichenhaus befindet sich ganz am Ende des riesigen Außen­lagers, direkt neben dem Stacheldrahtzaun. Jeden Tag werden mehrere Leichen gebracht. Das aus dem Erdreich ausgehobene Leichenhaus erinnert an ein riesiges Massengrab. Die Leichen liegen Seite an Seite auf langen Holzrosten und warten teilnahmslos auf den Tag, an dem man sie auf ein klappriges Fuhrwerk wirft und das magere Pferdchen Sinotschka mit ihnen den Taigaweg entlang zum Fluss zuckelt, zur Sosnowaja Gorka, dem Kiefernhügel.

      In eine zerschlissene Jacke gehüllt, werfe ich hin und wieder ­einen Blick auf die niedrige Tür des Leichenhauses und rauche Machorka. Hinter jener morschen Tür liegen Menschen, die ich noch vor ein paar Tagen lebend gesehen habe, wir haben miteinander geredet und von der Zukunft geträumt …

      Rechts, vom Eingang aus gesehen als Dritter, liegt, völlig entkleidet, Maxim Sorokin, Student, mein alter Gefängniskumpel, ein flinker, lebenslustiger, kluger Bursche. Er ist am Skorbut verreckt. Direkt unter ihm, zusammengekrümmt, der alte Potapytsch, dessen Platz als Wächter des Leichenhauses ich heute eingenommen habe. Der Alte ist letzte Nacht auf den lehmigen Stufen vor der Tür zum Leichenhaus gestorben. Schwach war er, hat sich schon das neunte Jahr durch Gefängnisse und Lager geschleppt, jetzt hat sein Herz nicht mehr mitgemacht.

      Es ist kalt. Fröstelnd setzte ich mich schlurfend in meinen alten Cordschuhen in Bewegung. Hunger quält mich. Ach, was gäbe ich für ein ordentliches Stück Brot! Schön mit Salz bestreut!

      »Bald, schon bald sagt die hölzerne Uhr mir

      knarrend mein zwölftes Stündlein an …«

      Auch ich bin an der Grenze zur völligen Erschöpfung. Meine Augen sind eingefallen, die Arme hängen kraftlos herab. Schon seit Tagen war ich nicht mehr imstande, die Karre zu schieben, und sosehr die Zehnerführer und Vorarbeiter auch auf mich einschrien – ich konnte nur noch auf der Erde liegen, in den kalten Himmel starren und vom baldigen Ende träumen, mich innerlich von meinen Lieben verabschiedend, die ich fern von hier zurücklassen musste.

      Aber, wie das Leben manchmal so spielt – in letzter Minute kam die Rettung. Unverhofft starb der alte Potapytsch, und sein Posten, von dem so einige Hundert Häftlinge träumen, wurde frei. Gottes Finger wies auf mich, und ein mitfühlender Vorarbeiter sorgte dafür, dass ich den Posten des Wächters bekam. Eine bessere Arbeit gibt es für einen Häftling nicht. Ich erhielt achthundert Gramm Brot täglich und wurde vor dem Schlimmsten bewahrt: der zermürbenden Arbeit mit der Schubkarre. Auch wenn für einen völlig ausgezehrten »Dochodjaga« wie mich achthundert Gramm Brot weiß Gott nicht viel sind. So eine Portion vertilgt man auf einen Schlag.

      Die Taiga singt ihr seltsames Totenlied, die Nacht umgibt sie mit einem schwarzen Leichentuch, und eine nach der anderen erlöschen in der Dämmerung die weißen Birkenkerzen.

      »Bald, schon bald sagt die hölzerne Uhr mir

      knarrend mein zwölftes Stündlein an …«,

      wiederhole ich für mich die immer selben Zeilen, während ich mich enger in meine löchrige Jacke wickle. Vor mir liegt eine lange Herbstnacht in Nachbarschaft zu den erstarrten Toten.

      Ich höre im Lager, in einer der Baracken, die Gauner im Chor singen:

      »Ach, einsam sitz ich in der Ze-elle,

      schau aus dem Fenster meines Kna-asts …«

      Ich kenne das Lied gut und fand es schon immer erschütternd, wie wenig Text und Melodie miteinander harmonieren. Der Text ist traurig, bedrückend, voller Hoffnungslosigkeit und Sehnsucht, die Melodie aber fröhlich.

      »Und heimlich fließen mir die Trä-änen

      über die Wangen dü-ürr und bla-ass …«,

      fliegt das Lied herüber, von fröhlichen Pfiffen begleitet.

      Ich bleibe stehen und lausche. In das Lied stimmen hell klingende Frauenstimmen ein, offenbar hat die benachbarte Frauenbaracke es aufgegriffen.

      »Die Wächter rufen mich noch a-an,

      sie rufen einmal und noch ma-al,

      dann drücken langsam sie den Abzu-ug,

      und dann bin tot ich immerda-ar …«

      Ein interessantes Volk, diese Gauner. Sie sind die Einzigen unter den Häftlingen, die im Lager ungefähr dieselbe Lebensweise beibehalten wie in der Freiheit. Sie versuchen sich möglichst gut zu kleiden, spielen Karten, klauen, trinken Kölnischwasser und denaturierten Sprit, lieben, sind eifersüchtig, streiten sich um die Frauen … Sie wissen genau, dass sie für Liebschaften in den Karzer kommen, und in was für einen! Einen Karzer, aus dem man kaum lebend herauskommt. Aber das hält sie nicht auf. Ich kann nicht recht begreifen, wie das zu werten ist: gut oder schlecht? Ist es »Liebe stärker als der Tod« oder ist es die Verzweiflung der Todgeweihten?

      Das Lied verstummte, und es wurde völlig still – Friedhofsruhe. Hinter dem Stacheldraht ging trägen Schritts ein Wachposten vorbei und hustete leise. Ich hob ein paar trockene Zweige auf, packte sie auf den Erdboden und legte mich hin, um ein Nickerchen zu machen.

      »Bald, schon bald sagt die hölzerne Uhr mir

      knarrend mein zwölftes Stündlein an …«

      Ich richtete mich auf und blieb sitzen. Tatsächlich, wer sagte denn, dass ich morgen nicht denselben Weg gehen würde, den Maxim Sorokin und Potapytsch gegangen waren? Man würde mich nackt ausziehen, meine Kleidung einem noch lebenden Häftling geben und mich neben die anderen Toten auf eines der glitschigen Gestelle legen.

      Irgendwo in der Taiga rief eine Eule. Ich begann mir eine Zigarette zu drehen, doch ehe ich fertig war, vernahm ich an der Wand des Leichenhauses vorsichtige Schritte.

      Ich hielt den Atem an und lauschte angespannt.

      Ein paar Sekunden lang war es still, dann knackten wieder Zweige unter jemandes Schritten. Instinktiv ergriff ich meinen dicken Knüppel. Aus der Finsternis tauchten zwei diffuse Gestalten auf.

      »Potapytsch!«, rief eine Männerstimme leise.

      Ich erhob mich zu voller Größe.

      Die Gestalten kamen schnell auf mich zu. Es waren ein Mann und eine Frau.

      »Hier ist kein Potapytsch …«, erwiderte ich.

      »Pst, leise!«, bat der Mann. »Wo ist er denn?«

      »Gestorben, gestern.«

      »Gestorben?«, fragte er verwundert. »Hörst du, Marussjka?«

      »Schade um ihn … war ein guter Mensch, der Alte«, sagte die Frau gähnend.

      Jetzt konnte ich sie genau sehen. Er – ein junger Bursche in weiter Hose, die er, wie bei den Dieben üblich, in die kurzen Stiefel gesteckt hatte. Sie – ein spitznasiges Mädchen in einer lagereigenen gesteppten Wattejacke. Unterm Arm trug sie