Taiga. Sergej Maximow

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Название Taiga
Автор произведения Sergej Maximow
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114489



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versenkte ihre Finger in meinem Bart und lächelte einfach, sanft, so wie Genesende lächeln.

      »Was für ein lustiger lockiger Bart. Wie alt ist er?«

      »Ein Jahr.«

      »Und Sie?«, fragte sie, ließ die Hand sinken und knöpfte ohne Eile einen Knopf an meiner Feldbluse zu.

      »Dreißig.«

      »Haben Sie eine Frau?«

      »Nein. Ich habe ein Mädchen geliebt, wir waren verlobt, aber dann … hat sie meinen Freund geheiratet.«

      »Wie dumm von ihr!«, lachte sie. »Dabei sind Sie doch im Prinzip ein netter Kerl …«

      Ich verspürte eine leichte Kälte in der Herzgegend und rückte unwillkürlich näher an sie heran, doch sie wehrte ab.

      »Sagen Sie«, meinte sie irgendwie nachdenklich, »Sie haben doch bestimmt schon mal darüber nachgedacht, was den Menschen wirklich froh macht im Leben? Was meinen Sie«?

      »Ich weiß nicht«, druckste ich. »Wahrscheinlich trägt vieles dazu bei: Wenn man die Arbeit mag, die Familie, Liebe …«

      »O nein«, unterbrach sie mich seufzend. »Das ist es alles nicht. Wissen Sie, was das Wichtigste ist?«

      »Nun?«

      Sie stützte ihren Krauskopf auf die Faust, kniff die Augen leicht zusammen und sagte kurz und knapp:

      »Die Freiheit.«

      Wieder erklang in der Taiga das traurige Bellen des Fuchses. Die Birkenrinde war fast verbrannt, im Zelt wurde es dunkler und wellenförmig erleuchtete ein seltsamer rötlicher Widerschein die Zeltwände.

      »Oh, wie sehr sie die braucht, Ihre … zufällige Passantin«, sagte Irina leise, mit gerunzelter Stirn, und plötzlich knirschte sie mit den Zähnen und umfasste ungestüm meine Schultern. Ich beugte mich zu ihr, küsste ihre warmen Lippen und spürte, wie mein Herz immer schneller schlug.

      3. Februar

      Ich weiß nicht, ob ich je wieder zu meinem Tagebuch zurückkehren werde. Wahrscheinlich nicht. Es hat keinen Sinn zu schreiben, es ist vergebens, warum soll ich noch etwas aufschreiben … ich habe den ganzen Albtraum durchlebt, der uns umgibt wie die Toten das Leichentuch. Ich habe den Preis der Freiheit erfahren.

      Meinen gestrigen Eintrag ins Tagebuch habe ich um vier Uhr nachts geschrieben, nachdem ich Irina erregt, verstört, mit Freude, aber auch Unruhe im Herzen zurückgelassen hatte und wieder in mein Zelt gegangen war. Ich ahnte nicht, welch schreckliche Wahrheit sich mir zwei, drei Stunden später eröffnen würde.

      Dies hier also ist mein letzter Eintrag, ohne langes Nachdenken und ohne jeden Kommentar:

      Ich weiß noch, dass ich einschlief, eng an Irinas warmen Körper geschmiegt. Ich fühlte mich wohlig, kindlich-froh und einfach nur gut. Ich träumte von etwas Hellem, Gutem.

      Als ich hingegen aufwachte, spürte ich vor allem Leere. Es war dunkel. Ich tastete mit der Hand und begriff: Da war niemand bei mir. Ich zuckte zusammen: Wo war sie denn?

      Und am Fluss bellte, weinte die ganze Zeit der Fuchs.

      Wie widerwärtig sein Geheul war!

      Beim ersten Klang der geliebten Stimme war ich bei ihr.

      »Warum schläfst du nicht?«

      Sie saß in der Ecke am Ofen, in ihrer Lieblingshaltung: Ihre Hände umfassten die Knie, auf die sie den Kopf stützte. Ich legte ihr die Jacke um, küsste ihr Haar, ihre Stirn, die Augen …

      »Hast du geweint?«

      Sie presste sich mit der Wange an mich und sagte leise:

      »Weißt du, mir ist so gut …«

      Nach einem Augenblick des Schweigens fügte sie hinzu:

      »Ich möchte dir etwas erzählen, davon, was der Mensch vor dem Tod empfindet …«

      »Ach, lass doch!« Ich verzog das Gesicht. »Wirklich, das geht zu weit! Erzähl mir lieber von dir, schließlich weiß ich überhaupt nichts über dich!«

      »Morgen! Versprochen! Vor dem Tod spürt der Mensch nur das süße Beben seines Herzens, in banger Erwartung des großen Mysteriums. Weiter nichts. Und Kälte. Komm, wir fachen das Feuer an.«

      Innerhalb einer Minute hatte ich den Ofen eingeheizt. Ob es die Wärme war, oder das Licht – uns wurde es wieder leichter ums Herz. Irina erhob sich, dehnte sich und meinte auf ganz alltägliche Art:

      »Lass uns noch ein bisschen schlafen.«

      Plötzlich aber blickte sie mich erschrocken an und ergriff meine Hand:

      »Hörst du das? Was ist das?«

      Ich spitzte die Ohren, konnte aber nichts hören.

      »Hörst du es?«

      »Nein.«

      Sie lächelte betreten.

      »Mir kam es so vor. Ich bin so schreckhaft heute … Wann kommen eure Leute zurück?«

      »Vielleicht morgen.«

      »Früh?«

      »Sie werden wohl kaum nachts unterwegs sein. Obwohl unser Chef seine Eigenheiten hat, bei dem muss man mit allem rechnen. Warum fragst du?«

      »Ich denke, du solltest in dem anderen Zelt schlafen«, meinte sie mit gesenktem Blick.

      »Was?«, rief ich erstaunt, nahm mich aber gleich wieder zusammen. »Entschuldige, ich verstehe nicht – warum?«

      »Geh!«, befahl sie.

      Ich umarmte und küsste sie, wie einen Nahestehenden, den man in ein paar Stunden wiedersieht – flüchtig und leicht.

      Ich ging und setzte mich an mein Tagebuch. Die Nacht war tiefschwarz. Müde hörte ich mit dem Schreiben auf, ohne fertig geworden zu sein, legte den Kopf auf die Arme und begann, glückselig lächelnd, mir nach und nach alle Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen. Dann verschwamm alles.

      Ich konnte die schweren Augen nur mit Mühe öffnen, hob den Kopf und sah mich um. Im Zelt war es trübe – die Morgendämmerung brach erst an. Draußen waren leise Stimmen und das Winseln von Hunden zu hören. Die Unseren sind zurück, dachte ich und warf mit einem Ruck die Zeltplane zurück, um hinauszugehen. Etwa dreißig Schritte entfernt erblickte ich vier uniformierte Männer mit Gewehren in den Händen, die sich auf Skiern dem Lager näherten. Ihre Hunde zerrten an den Leinen. Im selben Moment fiel ganz in der Nähe, fast neben mir, ein ohrenbetäubender Schuss.

      Ohne mir schon klar darüber zu sein, was passiert war, nur meinem Instinkt folgend, stürzte ich zu Irinas Zelt, registrierte aber nebenbei, dass die vier Ankömmlinge wie auf Kommando in den Schnee fielen. Innen konnte ich zunächst nichts erkennen: Im Zelt schwebte ein fahler, bitterer Dunst. In der schreienden Stille war nur das Tröpfeln des Wassers zu hören, das auf dem Tisch aus einem umgeworfenen Glaskolben floss.

      Mit dem Rücken gegen ihren aufgeschnallten Rucksack gelehnt, ließ Irina, halb auf der Pritsche sitzend, auf schreckliche, unnatürliche Weise den Kopf auf die Brust hängen. Das wirre schwarze Haar verdeckte ihr Gesicht. Die aufgeknöpfte Joppe gab den Blick auf die mir wohlbekannte blaue Wollbluse frei, die mit seltsamen dunklen Flecken bedeckt war. Die kleine Hand mit halb gekrümmten Fingern war zur Seite geworfen. An einem Fuß trug sie einen Filzstiefel. Der andere Stiefel lag auf der Erde neben ihrem angewinkelten, herabgerutschten nackten rechten Bein; mattweiß hob es sich kläglich und hilflos von der schwarzen Decke ab. Der große Zeh steckte im Abzugsbügel meines Jagdgewehrs, das mit dem Lauf auf den Rand des Labortisches gefallen war.

      Mit angehaltenem Atem schob ich behutsam die krausen Haarsträhnen von ihrer Stirn.

      Da war kein Gesicht. Nur etwas Entsetzliches, Unförmiges.

      Ich weiß noch, dass ich vom Tisch ein Blatt Papier nahm, auf dem etwas mit Bleistift geschrieben stand, dass ich dieses zarte Blatt an meine Lippen