Taiga. Sergej Maximow

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Название Taiga
Автор произведения Sergej Maximow
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114489



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der Außenwelt isoliert sind, befällt sie nach stürmischen Ausbrüchen der Fröhlichkeit schwerer Katzenjammer. Nach Iwans Weggang saßen wir etwa zehn Minuten schweigend, mit hängenden Köpfen da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

      »Und morgen?«, fragte sie plötzlich.

      Ich hob den Kopf: Der Sinn der seltsamen Frage war mir nicht klar. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und antwortete selbst:

      »Morgen nehme ich meinen Rucksack und gehe im Frost durch die Taiga, hin zu … hin zu …«

      Sie warf sich auf den Strohsack, den ich als Kopfkissen benutzte, und begann laut zu schluchzen.

      »Was ist denn? Nicht doch, bitte, nicht …«

      Ihre fülligen Schultern bebten vom Weinen. Ein Windstoß riss eine Zeltbahn los, warf einen Haufen Schnee ins Zelt und zerrte an der losen Plane. Ich ging hin und befestigte die Plane wieder. Irina erhob sich ein wenig und sah mich mit tränennassen Augen an.

      »Sagen Sie doch: Wozu haben Sie mich heute in der Taiga gefunden? Wozu haben Sie mich gerettet? Ich hätte lieber erfrieren sollen … Lieber ein schnelles Ende … Warum haben Sie mich gerettet?«

      »Warum? Darum, weil Sie geschrien haben«, erwiderte ich, versuchte die Ruhe zu bewahren und begann meine Pfeife zu stopfen.

      Sie lächelte auf irgendwie kindliche Weise und wischte sich mit einem Tuch die Tränen ab.

      »Das stimmt«, seufzte sie niedergeschlagen. »Wer will schon sterben? Auch ich will nicht sterben … Ganz und gar nicht …«

      Sie verstummte nachdenklich.

      Ich trat an den Ofen, hielt die Hand vor das glühend heiße Rohr und fragte leise, ohne Irina anzusehen: »Sagen Sie, warum belügen Sie mich?«

      Sie änderte nicht einmal ihre Haltung, blickte mich nicht an, als habe sie diese Frage erwartet. Einen Moment lang dachte sie nach und sagte dann in ruhigem Ton:

      »Weil ich Ihnen die Wahrheit nicht sagen kann …«

      »Warum nicht? Aber was rede ich … verzeihen Sie … wie dumm von mir«, besann ich mich, als mir klar wurde, wie anmaßend meine Frage war. Ich spürte, dass ich mich irgendwie erklären musste, und fügte hinzu: »Wissen Sie, warum ich frage … Ich habe in Moskau gewohnt. Meine Kindheit und den größten Teil meines bewussten Lebens habe ich dort verbracht. Ich bin Ingenieur. Obwohl ich es aus gewissen Gründen vorziehe, als einfacher Laborant zu arbeiten. Aus denselben Gründen, aus denen ich die gottverlassene Taiga der Hauptstadt vorziehe. Und jetzt sind Sie da, und ich erkenne einen Menschen aus meinen Kreisen. Dieselbe Art zu reden, derselbe Moskauer Dialekt, dieselben Umgangsformen eines Intelligenzlers. Ich habe bemerkt, wie Sie Ihr Haar mit dieser schnellen, präzisen Bewegung richten, wie Sie sich bei Tisch verhalten. Kurz, Ihre Tarnung als Postzustellerin in der Taiga ist ungeschickt und wenig überzeugend. Und Sie müssen mir recht geben: Es ist doch ganz natürlich, dass ich mir die Frage stelle: Wer ist sie, diese Taiga-Postfrau mit dem Moskauer Dialekt? Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, aber …«

      »Sie haben nichts Unangemessenes getan«, unterbrach sie mich. »Die Taiga befreit die Menschen von vielem, offenbar auch von der Höflichkeit.«

      Ich schwieg.

      »Und dann vergessen die Männer zum Beispiel auch, dass es auf der Welt Rasiermesser gibt.«

      »Sie spielen auf meinen Bart an?«

      »Nein … so allgemein.«

      »Wissen Sie, der Bart schützt mich vor dem Frost.«

      »Und auch vor etwas anderem …«

      Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ ihre Zahnreihen blitzen.

      Ich schwieg erneut.

      »Zum Beispiel ist es unmöglich, sich in Sie zu verlieben«, ließ sie nicht locker.

      Oje, meine Neugier kommt mir teuer zu stehen, dachte ich und schickte mich in Gedanken zum Teufel.

      »Nun schauen Sie sich doch mal an, wie Sie aussehen! Wie ein Waldschrat: lange Haare, roter Bart …«

      »Nicht rot, kastanienfarben …«, versuchte ich zu scherzen.

      »Kastanienfarben, kastanienfarben«, äffte sie mich nach. »Wenn ich sage: rot, dann ist er rot! Und, was interessiert Sie noch? Wollen Sie vielleicht wissen, wie alt ich bin?«

      »Wozu? Sie glauben doch wohl nicht, dass ich anfange, mich zu rasieren?«

      »Ist das jetzt eine Retourkutsche für meine ehrliche Meinung über Ihr Aussehen? Ich hätte sie für geistreicher gehalten … Aber trotzdem: Was glauben Sie denn, wer ich bin?«

      »Ich werde darauf nicht antworten. Es ist Ihnen offenbar unangenehm, und ich möchte Ihnen Peinlichkeiten ersparen.«

      »Aber ich bestehe darauf … und bitte Sie. Wer bin ich wohl?«

      »Eine Passantin …«, sagte ich ruhig und zündete meine erkaltete Pfeife wieder an.

      »Mehr nicht?«

      »Mehr nicht. Wenigstens für mich.«

      »Eine Passantin …«, wiederholte sie spöttisch und blickte mir mit Hass und Verachtung in die Augen.

      »Eine Passantin …«

      »… die die Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule nicht bestehen würde«, fügte ich hinzu.

      Sie sprang auf, in den dunklen Augen das Funkeln eines gehetzten Tiers.

      »Ja!«, schrie sie. »Ich lüge! Hören Sie? Ich lüge! Ich bin keine Postfrau und war nie eine! Ich bin Ingenieur, genau wie Sie, nur mit dem Unterschied, dass ich … dass ich …« Sie hielt zurück, was ihr auf der Zunge lag, biss sich nervös auf die blutrote, aufgeworfene Lippe und fiel schwer atmend zurück auf die Pritsche.

      »Im Übrigen«, fügte sie nach einer Weile hinzu, »geht es Sie auch gar nichts an, welcher Unterschied zwischen uns besteht. Für Sie bin ich ja nur eine … eine Passantin.«

      Etwa fünf Minuten schwiegen wir. Ich ärgerte mich über mich selbst; sie tat mir leid. Ich erhob mich und beschloss, hinüber ins andere Zelt zu gehen. Außerdem begann auch das Licht der Lampe zu verglimmen – das Petroleum war verbraucht. Doch Irina kam mir zuvor.

      »Ich würde gern schlafen.«

      »Das ist auch das Beste«, sagte ich. »Legen Sie sich hier auf meine Pritsche. Hier haben Sie eine Decke, legen Sie Ihre Jacke noch darüber. Um den Ofen kümmere ich mich. Gute Nacht.«

      Ich trat hinaus. Der Schneesturm fegte noch immer umher und rüttelte an den trockenen Fichten und Lärchen. Der Mond hatte sich versteckt, vom Fluss her war das abgehackte, nervenaufreibende Bellen eines Fuchses zu hören. Im Arbeiterzelt schnarchte Iwan trotz der entsetzlichen Kälte – der Ofen war ausgegangen. Ich blies in die Glut, legte Holz auf, und als das Feuer wieder fröhlich loderte, holte ich mir ein Buch und setzte mich an den Ofen, um zu lesen. Nach etwa zwei Seiten sah ich ein, dass ich den Sinn des Gelesenen nicht erfasste, legte das Buch beiseite und begann zu beobachten, wie sich die Birkenrinde im Feuer zusammenrollte. Träge hing ich irgendwelchen müßigen Gedanken nach: dachte mal an das eine, mal an das andere zurück. Wie lange ich so saß und nachdachte – ich weiß es nicht. Ich war wohl eingenickt und wachte von der Kälte wieder auf. Der Ofen war ganz ausgegangen. Mir fiel mein Gast wieder ein. Sicher war auch dort das Feuer längst erloschen.

      Ich ging ins Freie. Der Schneesturm hatte sich gelegt, und am grünlich-blauen Himmel, der von grellen Sternen übersät war, hing stählern die Mondscheibe.

      Vorsichtig schlug ich die Zeltplane zurück, trat ein und hockte mich vor den erloschenen Ofen. Ich fachte das Feuer wieder an und legte Birkenrinde auf. Sie krümmte sich, begann zu qualmen, loderte als knisternd-heiße Flamme auf und beschien das Zelt. Ich richtete mich auf und warf einen Blick zur Pritsche.

      Irina lag auf dem Rücken unter der Decke und sah mich mit gerunzelter Stirn und irgendwie allzu angespannt