Taiga. Sergej Maximow

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Название Taiga
Автор произведения Sergej Maximow
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114489



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nicht schieben?«, fragte Sulimow lächelnd. »Nach welchem Artikel sind Sie verurteilt?«

      »Achtundfünfzig, Punkt zehn«, antwortete Wsjewolod Fjodorowitsch.

      »Ah, ja … Nein, eine andere Arbeit habe ich für Sie nicht … Wie gesagt, die Karre kann ich Ihnen anbieten. Nicht gut genug?«

      Wir schwiegen.

      »Abführen!«, befahl Sulimow dem Wachmann.

      Als Mitjka-Pan von unserem Misserfolg erfuhr, meinte er, am besten sei es, abzuhauen, wenn es im Lager nicht mehr auszuhalten sei. Er bot an, mit ihm gemeinsam zu fliehen. Wir lehnten ab.

      Am folgenden Tag standen wir wieder an der Winde. Jefimytsch musste immer häufiger husten und sich für kurze Zeit neben der Ramme hinsetzen.

      »Zeit für den Sarg, Jefimytsch, Zeit für den Sarg«, tröstete Golubew ihn.

      »Weiß ich selbst, dass es an der Zeit ist«, bestätigte der Alte. »Nur will mich der Herr wohl noch nicht zu sich holen, ich weiß auch nicht warum.«

      »Die Zeit zum Sterben kommt schon noch.« Der Gruppenleiter schnitzte weiter an seinem Stock. »Ich bin jetzt schon das achte Jahr hier, solche wie dich hab ich viele gesehen, die haben alle nach und nach den Löffel abgegeben.«

      »Und wie viele davon hast du auf dem Gewissen, Golub?«, erkundigte sich Mitjka-Pan.

      »Wer weiß«, entgegnete Golubew spöttisch.

      Bis zum Mittag hatten wir drei Rammpfähle eingebracht. Nach dem Essen stiegen wir alle zum Fluss hinab und schleppten neue Pfähle zur Ramme hoch. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet und das Wetter blieb den ganzen Tag über düster. Der nasse Boden wollte nicht trocknen.

      Alle neun, einschließlich Kolja, schleppten wir einen schweren Balken hinauf. Vier neue Pfähle lagen schon oben. Mit einer solchen Last hochzusteigen, war sehr anstrengend. Wir alle spannten unsere letzten Kräfte an. Mitjka-Pan gab das Kommando.

      »Gut … Gut so, Jungs! Ein bisschen noch … Jefimytsch, nicht aufgeben. Oder besser: Geh unterm Balken weg beiseite, zum Teufel, ist egal, schaffst ja eh nicht viel. Wsjewolod, die andere Schulter, sonst reißt’s dir die Birne ab, wenn wir ihn hinschmeißen … Iwan, tricks nicht rum, hoch die Schulter! Wir schleppen alle, also streng dich an! Ein gesunder Kerl, aber will sich auf unsre Kosten ausruhn, guck dir Jefimytsch an, der kratzt bald ab, aber schleppt mit. Vorsichtig, zum Teufel … Und abwerfen! Eins! Zwei! Drei!«

      Der Balken flog von den Schultern.

      Wsjewolod rutschte auf dem feuchten Lehm aus und stürzte mit weit ausgestrecktem Arm. Seine rechte Hand landete auf einem der Pfähle. Der Balken krachte herab und quetschte Wsjewolods Finger.

      »Oh-och!«, stöhnte er auf. Es wurde still. Alle waren schockiert.

      »Was guckt ihr so!«, brüllte Mitjka-Pan. »Hoch mit dem Balken!«

      Wir ergriffen den Balken und hoben ihn etwas an. Ich zog Wsjewolods Hand heraus. Vier Finger waren zerschmettert. Unter den Nägeln trat langsam das Blut heraus. Die Hand schwoll zusehends und wurde blau. Wsjewolod lag schweigend, ohne den Kopf zu heben, auf der Seite. Seine Brille war heruntergefallen, und es war seltsam, sein Profil ohne Brille zu sehen.

      »Serjosha!«, rief er leise. Ich beugte mich zu ihm.

      »Es ist vorbei, ja? Ist die Hand ab?«

      Ich schwieg.

      Der Wachmann kam heran.

      »Man sollte ihn … na … zum Feldscher schicken«, schlug er leise, schnaufend, vor und schob sein Käppi auf den Hinterkopf.

      Auf der Aufschüttung ließen Häftlinge ihre Karren stehen und kamen herbeigerannt.

      Wsjewolod Fjodorowitsch setzte sich auf. Er lächelte seltsam, ergriff mit der linken Hand die rechte und legte die verstümmelte Hand auf seine Knie.

      »Spielen wirste wohl nicht mehr können«, meinte Mitjka-Pan betrübt.

      Wsjewolod Fjodorowitsch sah mir in die Augen. Ich werde diesen schrecklichen, verwunderten Blick nie vergessen.

      »Kannst du gehen?«, fragte der Wachmann. Wir stützten Wsjewolod Fjodorowitsch, und er erhob sich schwankend.

      »Warum nicht?«, fragte er.

      In Begleitung des zweiten Wachsoldaten und des Jungen Kolja ging er auf unsicheren Beinen zum Lager.

      Ich blickte seiner gebeugten, hochgewachsenen Gestalt nach und dachte daran, dass es am besten wäre, oben auf die Rammwinde zu steigen und sich kopfüber hinabzuwerfen, um nicht mehr all dies endlose menschliche Leid auf der geduldigen russischen Erde mit anzusehen.

      Im Herbst, an einem feuchten, nebligen Morgen, erschlug ­Mitjka-Pan mit einer Axt den Gruppenführer Golubew und floh in die Taiga.

       DER ERZIEHER

      Mittags begann es zu regnen. Die Fichten wurden dunkel und ließen traurig die zotteligen Zweige hängen; wie Tränen rollten einzelne helle Tropfen von ihnen herab. Graue Wolkenfetzen jagten ungeordnet am Himmel dahin und suchten sich an den Wipfeln der schlanken Fichten festzuhalten.

      Kaum war die gesteppte Jacke des Gruppenleiters Rubljow in den Wacholderbüschen verschwunden, ließen wir wie auf Kommando die verhassten Schubkarren stehen und drängten uns im nächsten Moment um das noch glimmende Feuer. Der bewaffnete Wachsoldat sah uns mit zusammengekniffenen Augen zu und ging weiter seiner Lieblingsbeschäftigung nach – dem Jonglieren mit drei Steinchen. Seine Aufgabe war es, aufzupassen, dass die Häftlinge nicht wegliefen; ob sie arbeiteten oder nicht, ging ihn nichts an. Antreiber gab es im Lager auch ohne ihn zur Genüge: die Leiter der Außenlager, deren Helfer, Bauführer, Gruppenführer, Vorarbeiter, Kommandanten, Erzieher.

      Wir streckten die vor Kälte steifen Hände ans Feuer, doch hielt der Moment der Glückseligkeit nicht lange an.

      »Achtung! Grischka Filon!«, kommandierte der siebzehnjährige Taschendieb Som.

      Aus dem Wald sprang ein kleiner, dünnbeiniger Mensch mit rötlich angelaufener Lederjacke in die Kiesgrube und schrie schon von weitem in dünnem Tenor:

      »Ruhen wir uns aus, Bürger Häftlinge? Und wer macht die Arbeit? Der Heilige Geist?«

      Grischka Filon war der Lagererzieher. Einst schwerer Junge und Mokruschnik, hatte er jetzt im Außenlager den Bereich Kultur und Erziehung unter sich.

      Eine erstaunliche Erfindung, diese Erzieher!

      Grischka Filon war Häftling, genau wie wir, doch hatten ihn fünfzehn Jahre in Gefängnissen und Lagern, mit kurzen Zwischenspielen in der Freiheit, gelehrt, wie man sich im Lager ganz schnell ein warmes Plätzchen sichert, daher auch sein Spitzname Filon, Nichtstuer. Die Arbeit des Erziehers ist eine der leichtesten im System der sowjetischen Zwangsarbeit. Ein Erzieher genießt viele Vorteile: Er arbeitet nicht körperlich, bekommt bestes Essen, ihm gebühren Ehre und Schmiergelder, und er hat bessere Chancen auf vorzeitige Entlassung. Diese »äußerst verantwortungsvolle« Stelle wurde nur mit »sozial nahestehenden Elementen« besetzt, wie die Tschekisten die Kriminellen nennen, auf keinen Fall aber (Gott behüte!) mit Politischen. Obwohl, einen Nachteil hatte dieser Posten: Wer einmal Erzieher war, wird in der Verbrecherwelt für vogelfrei erklärt, er gilt als Verräter, und eines schönen Tages wird er vielleicht umgebracht. Grischka Filon wusste das und machte sich bei den »Ganoven« lieb Kind.

      Er war fünfunddreißig Jahre alt. Klein, mager, mit farblosen ­Augen, deren Blick unstet umherirrte, und weißem Speichel in den Mundwinkeln, wirkte er abstoßend. Nach dem Vorbild der Lagerleitung trug er hässliche grüne Reithosen, Chromlederstiefel, Feldbluse, Lederjacke sowie eine Mütze à la Genosse Stalin. Von seinen fünf Jahren hatte er drei schon abgesessen.

      Über seinen letzten »Fall« sprach er oft und gern. Der »Fall« bestand aus folgender Begebenheit: Er hatte nachts in einer dunklen Gasse einer Frau aufgelauert, und da diese sich weigerte, ihm freiwillig und ohne Lärm ihren Pelzmantel zu überlassen, schnitt