Taiga. Sergej Maximow

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Название Taiga
Автор произведения Sergej Maximow
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114489



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leise.

      »Wieso?«

      »Na weil hier Hunderte von Kilometern nur Taiga is, und Sümpfe und Mücken. Die nächsten Dörfer sind erst an der Wytschegda. Bevor du da hingekrochen kommst, bist du vor Hunger verreckt oder im Moor ersoffen.«

      »Ich hab doch die Flinte. Kann Vögel schießen«, träumte Mitjka-Pan laut.

      »Erstens hast du nur fünf Patronen, mehr kriegen die Wachmänner nicht. Zweitens kannst du überhaupt nicht schießen und wirst sie gleich am ersten Tag alle abfeuern. Nee, nee, du kommst hier nicht weg, Mitjka.«

      »Teufel aber auch«, empörte sich Mitjka-Pan. »Die weiß schon, die Sowjetmacht, wo sie die Lagerchen für unsereins baut: nur Sumpf und Dickicht.«

      »Was hast denn du gedacht? Du weißt doch, da sind Menschen … Kch-ch-che … Menschen …« Der Husten ließ den alten Jefimytsch nicht zu Ende reden.

      Ich blickte zu Wsjewolod Fjodorowitsch. Er hielt den Kopf tief gesenkt, drückte mit Brust und Händen kräftig gegen den Schwengel und lächelte, die in der Sonne blitzende Brille auf der Nase, vor sich hin.

      Rums! Der eiserne Rammbär fiel hinab.

      Und wieder wickelte sich das Seil auf, wieder riss Kolja am Fallseil …

      Rums!

      Rums!

      Rums!

      Die Stöße kehrten als vielstimmiges Echo aus der Taiga zurück. Die Ramme arbeitete sich immer weiter in den Boden.

      »Die Sterbegehilfin kommt!«, rief der kleine Rammenführer freudig. »Pa-ause, Jungs!«

      »Pa-ause!«, flog der Ruf die Trasse entlang.

      Am Ufer tauchte hinter den Kiefern eine kleine Prozession auf. Voran marschierte eine füllige Frau, hinter ihr gingen drei Männer mit Sperrholzkisten auf den Köpfen. Sie brachten das Mittagessen. Die »Sterbegehilfin« hatte diesen Spitznamen, weil sie eine Zeit lang als Sanitäterin beim Feldscher des Lagers gearbeitet hatte. Wegen eines Vergehens (sie hatte die Baldriantropfen aus dem Notfallkoffer ausgetrunken) wurde sie zuerst in die Wäscherei versetzt, dann hatte man Erbarmen mit ihr und beauftragte sie, den arbeitenden Häftlingen das Mittagessen auszutragen. Sie war eine junge und außergewöhnlich kraftvolle Frau.

      Jeder von uns erhielt ein Stück stinkenden Dorsch und ein kleines Stück Brot.

      »Gib uns doch noch ein Stück, Hexe!«, bat Mitjka-Pan.

      »Das Cheflein hat noch was!«, entgegnete sie im Basston und kommandierte, an die Träger gewandt: »Los, weiter!«

      Wir setzten uns ins Gras und begannen hungrig, Fisch und Brot zu verschlingen.

      Wsjewolod Fjodorowitsch öffnete und schloss seine Hand.

      »Hören Sie«, sagte ich. »Warum gehen Sie nicht zum Lagerleiter und bitten darum, dass man Ihnen eine andere Arbeit zuweist?«

      Wsjewolod Fjodorowitsch lächelte traurig.

      »Hab ich ja versucht.«

      »Und?«

      »Hat nichts gebracht.«

      »Versuchen Sie’s doch einfach noch mal! Beharren Sie drauf!«

      Er zuckte die Schultern.

      »Es nützt ja doch nichts!«

      »Was sind Sie nur für einer! Man muss drum kämpfen, sonst wird es natürlich nichts.«

      Mitjka-Pan sah uns von der Seite an:

      »Du solltest wirklich hingehen, Wsjewolod. Die Arbeit hier geht über deine Kräfte, ich sehe das. Hier gehst du kaputt, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Hände sind doch das Wichtigste für einen Musiker. Ich hatte einen Kumpel, der konnte Bajan spielen, wie nix! Dann haben sie ihn bei Waldarbeiten eingesetzt, und er hatte keine Lust zu der Arbeit, hat sich selbst an der linken Hand drei Finger abgehackt. Wie er dann wieder spielen wollte, ging’s nicht, war nichts zu machen.«

      Wir mussten lachen.

      »Ich bin zwar ein Dieb«, fuhr Mitjka-Pan fort, »aber so ’ne Willkür kann ich nicht ausstehen. Jefimytsch zum Beispiel, der sollte auch von der Arbeit an der Ramme befreit werden … Nicht wahr, Jefimytsch?«

      »Der Herr wird uns alle befreien«, sagte der Alte leise.

      »Mitjka, Sie sind zwar ein Dieb, aber ein guter Mensch, besser als andere, die keine Diebe sind«, meinte Wsjewolod Fjodorowitsch. »Nur sollten Sie nicht dauernd mit dem Zehnerleiter streiten.«

      »Den mach ich irgendwann einen Kopf kürzer«, versprach Mitjka-­Pan. »Hörst du, Zehnerleiterchen?«

      »Ich höre dich«, erwiderte Golubew, während er seinen Dorsch vertilgte. »Pass nur auf, dass ich dich nicht zuerst zu fassen kriege … Los, Jungs, weiter geht’s!«

      »Oh, du Blutsauger!«, rief Mitjka-Pan. »Gönn doch den Leuten wenigstens eine Atempause.«

      Er sprang auf. Sein bis zum Gürtel zerrissenes Hemd entblößte eine kräftige tätowierte Brust und einen Bauch voller Narben, die von Messerstichen stammten. Die blauen Augen im bleichen Gesicht blitzten voller Wut und Hass. Eine Sekunde noch, und Mitjka-­Pan würde wahr machen, was er seit langem schon angedroht hatte; plötzlich aber wandte er sich auf dem Hacken um, ging als Erster zum Göpel und ergriff den Schwengel. Ich sah, wie seine Kaumuskeln sich spannten und bebten.

      Am Abend konnte ich Wsjewolod Fjodorowitsch überreden, mit mir gemeinsam zum Leiter unseres Teillagers zu gehen.

      Der Kommandant wollte uns zuerst partout nicht aus der »Zone« herauslassen, winkte dann aber doch ab und befahl einem Wachmann, uns zu begleiten.

      Sulimow, der Lagerleiter, wohnte in einem kleinen Häuschen ein wenig abseits des Lagers, das von einem Stacheldrahtzaum umgeben war. Wir standen etwa fünfzehn Minuten im Eingangsbereich und warteten darauf, dass er uns empfing.

      Dann traten wir ein.

      Sulimow lag ausgestreckt auf einer Liege und gab seinem riesigen Schäferhund Zuckerstückchen. Der Kragen seiner Feldbluse mit den blutroten Kragenspiegeln war geöffnet, den Riemen hatte er abgelegt und die oberen Knöpfe seiner blauen Reithose geöffnet.

      »Nun, was wollen Sie?«, fragte er, ohne uns anzublicken, und beschäftigte sich weiter mit seinem Hund.

      Wir drucksten unentschlossen.

      »Nun?«, fragte er erneut.

      »Wissen Sie … verzeihen Sie …«, begann Wsjewolod Fjodorowitsch schüchtern.

      »Nun?«

      »Wir … ich bin, im Grunde genommen, aufgrund einer persönlichen Angelegenheit …«

      »Nun?«

      »Ich bin Pianist …«

      »Ein bekannter Moskauer Pianist«, warf ich ein. Sulimow hob eine Augenbraue und warf mir einen schrägen Blick zu.

      »Sie reden später … Nu-un?«

      »Verstehen Sie, Bürger Lagerleiter«, fuhr Wsjewolod Fjodorowitsch fort. »Ich verrichte seit zwei Jahren ausschließlich körperliche Arbeit. Meine Hände … sehen Sie doch, was aus denen geworden ist.« Er streckte beide Hände nach vorn. »Wenn die Hände nicht mehr zu gebrauchen sind, dann … dann kann ich nicht mehr spielen, dann hab ich keinen Broterwerb, wenn ich aus dem Lager entlassen werde, ich kann nur das, etwas anderes kann ich nicht …«

      »Nun, und … Runter mit dir!«, schnauzte Sulimow den Schäferhund an, der mit den Vorderpfoten auf den Rand der Liege gesprungen war. »So was aber auch, vergisst sich vor lauter Freude! Und, weiter?«

      »Ich möchte Sie sehr bitten, mir eine andere Arbeit zu geben.«

      »So, so«, sagte Sulimow scharf. »Und Sie, was wollen Sie?«

      »Ich bin nur mitgekommen«, erwiderte ich. »Ich möchte