Taiga. Sergej Maximow

Читать онлайн.
Название Taiga
Автор произведения Sergej Maximow
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114489



Скачать книгу

Füßen, bemüht, die empfindlichsten Stellen zu treffen. Ich krümmte mich, biss die Zähne zusammen und schützte mit den Armen meinen Kopf. Sie zerschlugen mir Nase und Mund, aus denen das salzige, klebrige Blut in Strömen floss … »Der Mensch – das klingt stolz.«

      Leise erzittert der Fahrstuhl, der mich irgendwohin nach unten bringt.

       Die Gegenüberstellung

      Ich sitze auf meinem Eisenbett in der Einzelzelle; der Gefängnisarzt entfernt meinen Kopfverband. Beim letzten Verhör hat der Ermittler mir mit dem Revolvergriff den Kopf aufgeschlagen.

      »Wie viele müssen Sie denn so am Tag verbinden?«, frage ich den Arzt.

      Er schweigt beharrlich. Das macht mich wütend.

      »Was hat das eigentlich für einen Sinn: verprügeln, dann kurieren, und nach zwei Tagen wieder verprügeln? Da können sie einen doch lieber gleich totschlagen …«

      »Nicht reden«, sagt er leise, aber bestimmt.

      Als der Verband ab ist, streut der Arzt ein Pulver auf die Wunde und teilt mir mit, ein Verband sei nicht mehr nötig. Ich protestiere, doch er nimmt die Binde und geht raus. Das Schloss klickt.

      Ich falle auf die Eisenpritsche und schließe die Augen.

      Ein ganzer Monat qualvoller, Körper und Seele zermürbender Verhöre liegt hinter mir. Zweimal verlor ich im Arbeitszimmer des Ermittlers das Bewusstsein, und man trug mich in die Zelle zurück. Auch in der Gummizelle war ich. So nennen sie den Karzer, in den sie ungehorsame Untersuchungshäftlinge eine Zeit lang einsperren. Wände und Fußboden dieser Zelle sind mit Gummi beschlagen. Kein Lichtstrahl, absolute Finsternis. Es ist stickig, kein Laut zu hören. Der Arrestant sitzt im Dunkeln und spürt um sich herum nur diesen klebrigen, wie blutverschmierten Gummi. Er kann noch so viel schreien, mit dem Kopf gegen die Wand schlagen – niemand reagiert. All das wirkt sich entsetzlich auf die Psyche aus; zwei Tage des Aufenthalts in dieser Zelle genügen, und der Häftling beginnt mit den Fäusten gegen die Gummitür zu schlagen und zu schreien, er sei bereit, jedes beliebige Protokoll zu unterschreiben, jede beliebige Selbstdiffamierung. Alles hier ist bedrückend und führt dazu, dass die Nerven bis zum Gehtnichtmehr angespannt sind: die Stille, die Dunkelheit, der ununterbrochene Kontakt mit dem klebrigen kalten Gummi des Fußbodens und der Wände; man hat das Gefühl, die gesamte Zelle sei voller Blut. Wenn man dann herauskommt, brennt das Licht unerträglich in den Augen, die nicht mehr daran gewöhnt sind, und man läuft, wenn man unter Aufsicht den Korridor entlanggeht, wie ein blindes Kätzchen gegen die Wände.

      »Poch-poch. Poch-poch-poch-poch …«, klopfte es beharrlich aus der Nachbarzelle. Ich begann die Sprache der Gefängniswände schon ein wenig zu verstehen, konnte sie aber noch nicht nach dem Gehör aufnehmen und übermitteln. In den grauen Putz meiner Wand war das Klopfalphabet als Tabelle eingeritzt: je fünf Buchstaben horizontal und sechs vertikal. Das ist das Ljubjanker System. In der Butyrka ist es umgekehrt: sechs horizontal und fünf vertikal. Das Klopfen hatte mir mein Nachbar beigebracht, der in jeder verhörfreien Sekunde fünfmal entlang der Wand klopfte und, offenbar auf dem Bett stehend, sechsmal von der Decke bis zum Boden, bis ich begriff, wie es ging. Ich ritzte die Tabelle in meine Wand und begann Klopfzeichen mit ihm auszutauschen.

      Ein Popka kam. Er befahl mir mitzukommen. Ich wunderte mich. Die Verhöre fanden sonst nachts statt, jetzt aber war Tag. Vielleicht sollte ich entlassen werden? Immer, selbst wenn die Lage noch so schlimm ist, blitzt bei einem Häftling im Stillen der Gedanke an die Freiheit auf, wenn er Schlüssel im Schloss vernimmt.

      Aber nein. Schon war ich wieder im Untersuchungsraum. Der Ermittler saß am Schreibtisch und telefonierte:

      »Sei mir nicht böse, Galotschka, ich schaffe es nicht zum Mittag … Wie? … Zum Abendessen? Zum Abendessen bin ich auf jeden Fall da. Versteh doch, hier ist eine Unmenge zu tun. Ja! Ruf Grigorjew an, es soll uns zum Sonntag zwei Karten fürs Bolschoi-Theater besorgen, für den ›Stillen Don‹, der hat Beziehungen, der besorgt sie. Bis dann, Galotschka!«

      Der Ermittler legte den Hörer auf, lehnte sich im Sessel lässig zurück, sah mich an und hieß mich sitzen. Ich nahm Platz.

      »Wie geht’s dem jungen Leben?«

      »Geht so«, passte ich meinen Ton dem seinen an.

      »Sehen Sie nur, draußen ist Frühling, Mai, Blumen, Mädchen. Sie aber sitzen und werden weiter sitzen, bis Sie gestehen.«

      »Das ist unlogisch. Wenn ich irgendwas gestehe, sitze ich noch länger.«

      »Unsinn! Das hier ist die Geheime Politische Abteilung des NKWD und nicht irgendeine Literaturkneipe. Hier geht alles nach Gesetz. Also, wie war Ihre Beziehung zu Dubow?«

      »Gut.«

      »Keine offenen persönlichen Rechnungen?«

      »Nein.«

      »So aufschreiben?«

      »Können Sie.«

      »Unterschreiben Sie!«

      Ich unterschreibe.

      »Jetzt nehmen wir eine Gegenüberstellung vor«, teilt mir der Ermittler lächelnd mit und drückt einen Knopf, der sich seitlich an seinem Schreibtisch befindet.

      Aha, deshalb also wurde mir der Verband abgenommen.

      Ich bin sehr aufgeregt, nehme meinen Herzschlag wahr. Gleich würde ich meinen Kommilitonen sehen, mit dem mich eine langjährige gute Freundschaft verbindet. Ich bin mir sicher, dass er nicht gegen mich aussagen wird, doch ein Treffen mit ihm unter solchen Umständen geht mir zu Herzen. Ungeduldig schaue ich auf die Tür.

      In Begleitung eines Wachsoldaten betritt der bleiche Dubow den Raum; mit zitternden Händen knetet er seine Mütze und schaut den Ermittler erschrocken an, als würde er mich gar nicht sehen. Aufgrund des tadellos weißen Hemdkragens, der Krawatte und seines glattrasierten Gesichts begreife ich, dass er in Freiheit ist.

      »Bürger Dubow«, sagte der Ermittler, »in Ihren Angaben haben Sie ihn (der Ermittler wies auf mich) letztens als Volksfeind beschrieben. Bestätigen Sie dies in seiner Anwesenheit.«

      »Ja … ja«, stotterte Dubow verlegen.

      »Was heißt hier ja, ja?«, unterbrach ihn der Ermittler wütend. »Berichten Sie ihm und mir ausführlich von seinen konterrevolutionären Aktivitäten!«

      »Ja, ein Volksfeind«, fing Dubow an und verstummte. Sein tränenerfüllter Blick begegnete meinem, senkte sich schnell und erstarrte auf meiner nackten Schulter, die durch das zerrissene Hemd zu sehen war. Ich begriff, dass sich vor mir ein zuvor eingeübtes Theaterstück abspielte.

      »In diesem Fall werde ich Sie daran erinnern«, sagte der Ermittler. »Hören Sie zu.«

      Er begann eine umfangreiche Aufzählung meiner »Verbrechen« vorzulesen. Ein Großteil davon waren meine »Pläne, innerhalb der Moskauer Studentenschaft einen terroristischen Stoßtrupp gegen die Führer der kommunistischen Allunionspartei der Bolschewiki zu organisieren«. Diese Zeugenaussage endete ungefähr so: »In meiner Verantwortlichkeit eines ehrlichen sowjetischen Studenten erkläre ich, dass wir es mit einem ideologischen, heimtückischen und überzeugten Volksfeind zu tun haben.« Es folgte die Unterschrift.

      Der Sprachstil, die stümperhaften Wendungen machten mir sofort klar, dass dies alles der Ermittler selbst formuliert hatte (Dubow war ein sehr intelligenter Mensch), und dass von Dubow nur die Unterschrift stammte. Ganz offensichtlich hatte man ihn vor ein Ultimatum gestellt: Entweder du unterschreibst oder du wirst selbst in der Ljubjanka sitzen. Dubow hatte natürlich Ersteres gewählt. Selbstverständlich musste er auch unterschreiben, das Ganze vertraulich zu behandeln.

      Noch ein Detail: Auf den Seiten, die die Zeugenaussage meines Kameraden enthielten, befanden sich zwischen den Zeilen große Leerstellen. Diese Leerstellen würde der erfinderische Ermittler später mit selbst gebasteltem »Material« ausfüllen. Als Dubow das Dokument unterschrieb, konnte er das natürlich nicht wissen.

      »Sehen Sie!«, sagte der Ermittler triumphierend. »Sogar Ihr bester Freund sagt