Taiga. Sergej Maximow

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Название Taiga
Автор произведения Sergej Maximow
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114489



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Fotos, Briefe, die man bei mir während der Durchsuchung konfisziert hat.

      Am rechten Schreibtisch sitzt der Ermittler, ein gedrungener Mensch mittleren Alters in einer Uniform mit Schulterriemen. Er runzelt die dichten Brauen, während er meine »Beweisstücke« betrachtet. Nachdem er kurz zu mir aufgesehen hat, blättert er weiter in den Papieren. Auch der Assistent des Ermittlers, ein junger Bursche, der am zweiten Tisch sitzt, unterbricht seine Beschäftigung, die Reinigung eines brünierten Brownings, nicht.

      Auf ein Zeichen des Ermittlers hin verließ der Popka den Raum und schloss hinter sich leise die Tür. Ich stand, die Hand auf der Lehne eines freien Sessels, und wartete. Gleich würde sich alles klären und natürlich würden sie mich nach Hause entlassen. Ich war doch kein Verbrecher, ich hatte ein reines Gewissen. Hier lag einfach ein ungeheuerliches Missverständnis vor.

      Etwa zehn Minuten vergingen. Irgendwoher, vielleicht vom Ljubjanskaja-Platz, drangen dumpfes Autohupen und der mir nur zu gut bekannte vielstimmige Stadtlärm zu uns.

      »Nehmen Sie die Hand vom Sessel«, verlangte der Ermittler mit leiser Stimme.

      Gehorsam nahm ich sie herunter, obwohl ich mich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten konnte. Wollte er mich etwa nicht auffordern, mich zu setzen?

      Der Ermittler warf seine Feder plötzlich hin, lehnte sich zurück und blickte mir lange unverwandt, prüfend in die Augen.

      »Nu-un?«, sagte er dann gedehnt.

      »Wem und welchen Umständen ich meine Verhaftung auch zu verdanken habe, Genosse Ermittler …«, sprach ich ihn an, wie ich es im Umgang mit Sowjetbürgern gewohnt war.

      »Ich bin dir kein Genosse!«, brüllte er dazwischen, hieb mit der Faust auf den Tisch und fügte dann leiser hinzu: »Wofür hat man dich verhaftet? Immer dieselben Ausreden! Hier, unterschreib!«

      Er gab mir ein Papier. Ich lese:

      »Anklage wird erhoben wegen Verletzung des Artikels 58 Punkt 8, 10 und 11 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.« Das bedeutete die Begehung terroristischer Handlungen gegen die Führer der Partei der Bolschewiki, konterrevolutionäre Tätigkeit und antisowjetische Agitation. Ein hübsches Sträußchen! Wenn das alles bestätigt würde, wäre mir der »Mond« sicher. Darunter stand: »Gelesen.« Nun gut, wenn nur das zu bestätigen ist, unterschreibe ich. Der Ermittler reißt mir das Blatt eilig aus der Hand und legt mir einen ganzen Stapel vollgeschriebener Blätter vor, die vor Fehlern nur so strotzten.

      »Protokoll der Voruntersuchung in der Strafsache Nr. …«, stand auf dem Titelblatt. Seite eins begann folgendermaßen:

      »Frage: Gestehen Sie, Mitglied einer konterrevolutionären terroristischen Studentenorganisation Moskaus zu sein?

      Antwort: Ich gestehe. Zu unseren Zielen gehörte …«

      Dann folgte in meinem Namen auf zwanzig oder dreißig Seiten eine Aufzählung aller geplanten Verbrechen.

      »Nein, das kann ich nicht unterschreiben«, sagte ich und legte das »Protokoll« auf den Tisch.

      »Warum?«, erkundigte er sich mit vorgespielter Verwunderung.

      »Weil es nicht stimmt, ich bin in keiner solchen Organisation.«

      Er sprang auf, beugte sich über den Tisch und brüllte mir, vor Erregung schäumend, ins Gesicht:

      »Ne-ein?! Und, soll ich dir hundert Zeugen anführen? Ihr seid alle verhaftet, alle haben sie gestanden, sind alle hier, hie-er! Hier kann sich keiner rausreden! Wir kennen jeden eurer Schritte! Wo warst du am 5. Januar? In Makarows Wohnung! Worüber habt ihr gesprochen? Darüber, dass die sowjetische Studentenschaft die beste Plattform für die Konterrevolution darstellt … und dann, warst du nicht mit Freunden auf Sauftour im Metropol und hast die Gedichte des weißen Banditen Gumiljow rezitiert? Und bist nicht am 13. Februar mit dem Dichter Vira aus der Redaktion der ›Mursilka‹ gekommen und hast auf dem Roten Platz aufs Leninmausoleum gezeigt und einen antisowjetischen Witz erzählt? Na? So war’s doch? Wir wissen alles!«

      Im ersten Augenblick brachte mich ihr Wissen um die Einzelheiten meines Lebens völlig aus der Fassung, doch dann wurde mir klar, dass er im Grunde nur reine Fakten wusste: wo ich hingegangen war, mit wem was ich getan hatte; die Inhalte meiner Gespräche hingegen waren entweder erfunden oder völlig entstellt.

      Ein paar Fragen folgten, dann bot der Ermittler an:

      »Setzen Sie sich doch. Möchten Sie rauchen? Nein? Schade. Soll ich was zum Essen bringen lassen?« Er streckte die Hand zu einem Knopf an der Wand aus. »Auch nicht? Schade. Nutzen Sie die Chance zu rauchen oder zu essen, es ist vielleicht Ihre letzte! Wenn Sie gestehen, sieht die Sache natürlich anders aus: zwei, drei Jährchen, die sitzen Sie ab und schon sind Sie wieder vollberechtigter Bürger der Sowjetunion. Wenn Sie aber … Im Übrigen wollen Sie sich doch nicht von Ihrem jungen Leben verabschieden …«

      Ich genoss es, im Sessel zu sitzen – es war so bequem! Mir drehte sich ein wenig der Kopf, und bei aller Aufmerksamkeit verwirrten sich meine Gedanken.

      »Soo-o.« Der Ermittler wühlte in meinen Fotos umher, sein Blick blieb für einen Moment am Gesicht einer Filmschauspielerin hängen, dann zeigte er mir ein anderes Bild.

      »Erkennen Sie den?«

      Der Mann, dessen Bild der Ermittler in der Hand hielt, war ein Ingenieur, ein hervorragender Kenner der Literatur und Freund der Jugend. Er pflegte zu unseren literarischen Abenden zu kommen, und manchmal fanden sie bei ihm in der Wohnung statt.

      Der Ermittler teilte mir mit:

      »Er ist der direkte Anführer eurer Organisation. Er ist Oberst, hat enge Beziehungen zu einem Feindesstaat. Sie sind sein Zuarbeiter bei sich in der Hochschule, Makarow in der Hochschule für Architektur, und Korin im Bergbauinstitut. Kontakt hatte er außerdem mit Woronski und Sosnowski, erbitterten Volksfeinden. Die Namen sind Ihnen hoffentlich bekannt?«

      »Ich glaube nicht, dass er ein Konterrevolutionär ist.«

      »Er glaubt es nicht! Ooh, was für eine falsche Schlange!«

      Er hob sein Bein, trat mir geschickt gegen die Brust, und ich flog mitsamt dem Sessel um und stieß mir den Kopf am Fußboden. Mir drehte sich alles, die Decke verschwamm vor meinen Augen, doch ein paar Sekunden später erhob ich mich bereits langsam auf die Füße.

      Schwankend stand ich da und versuchte das Geschehene zu begreifen.

      »Wenn du nicht wie ein Mensch mit uns reden willst, können wir uns auch anders unterhalten«, drohte der Ermittler schwer atmend. »Wir werden mit dir nicht viel Federlesens machen, Gesindel. Vielleicht noch einen Prozess anstrengen? Wir knallen dich ab wie einen Hund.«

      »Erledige ich«, sagte der Assistent dienstbeflissen, trat an mich heran und hielt mir die Mündung des Brownings an die Schläfe.

      »Unterschreibst du?«

      Meine Schläfe erstarrt unter dem kalten Stahl. Binnen eines Atemzugs laufen vor meinem inneren Auge Bilder meines fernen Zuhauses und meiner Lieben ab, kurze, unbedeutende Episoden aus meinem Leben. Einen Augenblick nur, und schon bin ich wieder in der schrecklichen Gegenwart. Gleich, jetzt gleich würde ich sterben. Vielleicht sollte ich unterschreiben? Oder doch gleich … ohne lange Qualen. Dann auf einmal ein Gedanke: Und wenn es nur Methode ist, ein Spiel? Sie können mich doch nicht einfach umbringen, ohne die erforderlichen Sanktionen! Außerdem brauchen sie mich noch, für das »Verfahren«.

      »Naa-a?«, sagte der Assistent gedehnt.

      »Halt! Nicht schießen!« Der Ermittler tat so, als wolle er seinen Kumpel zurückhalten.

      Der Helfer stieß mit der Mündung des Revolvers gegen meine Schläfe und ging zur Seite. Der Ermittler lächelte genussvoll, tauchte seinen Federhalter in die Tinte und streckte ihn mir hin:

      »Hier, unterschreib und geh schlafen. Essen lass ich dir kommen. Ruh dich aus. Hier … nimm!«

      »Ich kann nicht«, presste ich mit Mühe heraus.

      Ein