Carola Pütz - Verlorene Seelen. Michael Wagner J.

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Название Carola Pütz - Verlorene Seelen
Автор произведения Michael Wagner J.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847695493



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diesen Umständen offenbaren, dass es einen ungeklärten Diebstahl gegeben hatte. In ihrer Klinik. Wo sonst nichts passieren durfte, ohne dass sie davon etwas wusste.

      Der Speisesaal der Klinik machte seinem Namen alle Ehre. Es war ein Saal. Carola Pütz hätte auch nichts anderes erwartet. Sie öffnete in diesem Moment die Tür und blieb stehen. Jemand stand ganz vorn und wollte eine Ankündigung machen.

      Der Mikrofonständer befand sich auf einer kleinen Empore auf der dem Eingang gegenüberliegenden Schmalseite des Raumes. Dort fanden abends Konzerte oder Gesangsdarbietungen statt. Oft spielte jemand Klavier.

      Frau Doktor von Hohenstetten tippte kurz mit dem Zeigefinger gegen das Mikro. Es war eingeschaltet. Sie räusperte sich. Nicht, weil sie heiser war, sondern um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten.

      »Sehr verehrte Gäste unseres Hauses«, sagte sie mit belegter Stimme, »ich muss Ihnen leider mitteilen und gleichzeitig versichern, dass ich untröstlich darüber bin, es gab letzte Nacht einen Diebstahl.« Sie machte eine Pause, um das allgemeine Raunen abklingen zu lassen.

      Carola schlüpfte währenddessen in den Saal und nahm am nächsten Tisch Platz, an dem sie einen freien Stuhl erspähte. Einen Diebstahl hatte es also gegeben. Im Jugendstilparadies. Schon war ihre Prognose hinfällig. Hatte sie doch erwartet, dass hier nichts Aufregendes passierte. Sie nickte den am Tisch Sitzenden freundlich zu. Diese nickten ebenso freundlich zurück.

      Clara von Hohenstetten erhob wieder ihre Stimme. »Einer sehr verehrten und langjährigen Freundin unseres Hauses wurde heute Nacht ein wertvoller Ring gestohlen. Ich sehe es als meine Pflicht an, Sie darüber zu informieren, appelliere aber gleichzeitig auch an Ihr Vertrauen in uns, dass wir in der Lage sind, diese unangenehme Sache schnellstmöglich zu einem positiven Ende zu bringen.«

      Erneutes Raunen im Saal. An der Hälfte der Tische wurden die Köpfe zusammengesteckt.

      »Wie will sie das denn garantieren?«, fragte eine freundlich aussehende Dame, die mit Carola Pütz den Tisch teilte, in die Runde. Sie schüttelte unmerklich ihren Kopf.

      »Wissense wat, dat kannse gar nich«, antwortete der Mann, der Carola Pütz gegenüber saß, und an sie gewandt sagte er: »Sindse neu? Ich hab Se noch net gesehen hier. Ich bin der Erwin Krawuttke aus Gelsenkirchen.«

      »Ja, ich bin heute angereist. Mein Name ist Carola Pütz. Ich grüße Sie«, antwortete sie leise und beugte sich über den Tisch.

      Direkt vor Doktor von Hohenstetten stand jemand auf. Es war die Industriellengattin, der der Ring gestohlen worden war. Sie sprach ohne Mikrofon, war aber trotzdem gut zu verstehen.

      »Liebe Frau Doktor von Hohenstetten, ich danke Ihnen sehr für Ihre Offenheit. Wie ich Ihnen ja schon persönlich mitgeteilt habe, hätte ich das nicht so an die große Glocke gehängt. Aber es ehrt Sie. Vertrauen wir auf die Polizei und deren gute Arbeit. Lassen Sie uns nun essen, wir alle haben sicher Hunger.« Sie nickte in die Runde und klatschte Frau Doktor Beifall.

      Viele taten es ihr gleich, einige standen aber auch sofort auf und gingen mit ihren Tellern zum Büfett, wo die Kellner bisher alle in Reih und Glied gewartet hatten.

      Clara von Hohenstetten fühlte sich durch den plötzlichen Aufbruch übergangen, war aber auch froh, dass ihr Auftritt ein so rasches Ende nahm.

      »Sehr verehrte Frau Güstrow«, sagte sie, »ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Und ich wünsche Ihnen allen einen guten Appetit.«

      Erst jetzt hoben die Kellner die Glocken von den Speisen. Es hätte keiner gewagt, dies eine Sekunde früher zu tun.

      »Habense dat gesehn, wie die dressierten Äffchen«, sagte Krawuttke leise über den Tisch.

      Die nette Dame grinste und gab im Aufstehen Carola die Hand.

      »Hallo, Frau Pütz. Mein Name ist Friederike Schmitt-Wienand. Sie müssen wissen, wir, die schon etwas länger hier sind, schmunzeln ein wenig über das Regime von Frau Doktor von Hohenstetten. Sie behandelt ihre Angestellten wie ihre Leibeigenen. Aber das werden Sie auch noch feststellen. Ach ja, haben Sie bereits Ihren Speiseplan?«

      »Nein«, sagte Carola.

      »Na dann los. Dann gilt‘s noch. Dann dürfen Sie noch alles essen. Morgen ist das vorbei. Hier wird streng nach Plan gelebt.«

      Frau Schmitt-Wienand nahm ihren Teller vom Tisch und machte eine aufmunternde Geste. Daran hatte Carola noch gar nicht gedacht. Eine Diät. Womöglich eine strenge Diät. Sie griff nach ihrem Teller und folgte ihrer Tischnachbarin zum Büfett.

      Nachdem sie im Krankenhaus schon auf Diät gesetzt wurde und ihr Kühlschrank nach den vielen Wochen nur noch Ungenießbares enthalten hatte, beschloss sie an diesem Abend, ihr Essen noch einmal so richtig zu genießen. Sie holte mehrfach Nachschlag, aß einen köstlichen Nachtisch, probierte einen weiteren. Als Krönung hätte sie gerne einen Kaffee getrunken, doch teilte man ihr mit, es gäbe nach dem Nachmittagskaffee keine geistigen Getränke mehr. Besonders Herr Krawuttke bedauerte das zutiefst.

      »Dann musste abends noch in die Dorfkneipe eiern, um ein Bier zu trinken. Dat End vom Lied is, dat de Frau Doktor dat spätestens am nächsten Mittag schon wieder spitz hat«, sagte er mit ehrlichem Bedauern.

      Sie unterhielt sich noch während dem ganzen Abendessen mit ihren beiden Tischgenossen und erfuhr dabei so manches Detail über die ‚Kurklinik Sachsenglück‘. So war dem Diebstahl höchstwahrscheinlich ein Stromausfall im ganzen Haus vorangegangen.

      »Ich hatte noch en bisschen ferngesehen, als plötzlich der Strom weg war.« Auf den Zimmern gab es keine Fernseher. Doch Herr Krawuttke hatte ihr verraten, dass er heimlich einen kleinen DVBT-Fernseher eingeschmuggelt hatte.

      »Gibt es hier öfter Stromausfälle?«, fragte Carola.

      Krawuttke sah zu Frau Schmitt-Wienand herüber. »Naja, wat heißt oft. Ich bin seit drei Wochen hier und dat war der zweite Ausfall. Der war aber diesmal besonders lang.« Sie nickte.

      »Der Hausmeister wohnt ja hier im Haus. Der ist dann sofort zur Stelle. Es sind ja auch die ganzen ärztlichen Apparate, die dann ausfallen. Das kann manchmal schon gefährlich sein.«

      »Wie lang war der letzte Stromausfall?« Carola fragte genau genommen nur beiläufig nach der Dauer. Sie war mit ihrem Nachtisch beschäftigt und der genoss ihre ganze Aufmerksamkeit.

      »Eine Viertelstunde vielleicht«, sagte Frau Schmitt-Wienand.

      »Und in dieser Viertelstunde hat der Dieb zugeschlagen?«

      Sie kratzte mit dem Löffel den letzten Pudding in der Schale zusammen und führte ihn genüsslich zum Mund.

      »Es scheint so.« Frau Schmitt-Wienand zog ihre Stirn kraus.

      »Hmh, für mich klingt das komisch. Hat der Dieb vor der Tür gesessen und brav gewartet? Nein, das klingt für mich nicht schlüssig.«

      Ihre beiden Tischnachbarn schauten sie an wie Lämmer einen Pinguin. Sie bemerkte es.

      »Was?«

      »Sie reden so, als wäre es Ihr Job, so etwas zu beurteilen.«

      Carola stutzte. »Nein, nein, ich bin Ärztin. Keine Sorge. Schade, der Pudding ist alle. Ich hole mir noch einen. Oh, ist das vermessen?« Sie schaute die beiden Tischnachbarn an wie ein kleines Mädchen.

      »Nein.«

      Sie stand auf, und stiefelte los. Pass auf, was du sagst, dachte sie. Es muss hier niemand wissen, dass du Gerichtsmedizinerin bist.

      Als sie sich mit dem nächsten Schälchen Pudding zurück an den Tisch setzte, fragte Frau Schmitt-Wienand: »Denken Sie, der Stromausfall war fingiert, damit der Dieb zuschlagen konnte?«

      So, jetzt hast du einen Stein ins Rollen gebracht, dachte Carola. Bremse ihn wieder ab.

      »Finden Sie nicht auch, dass der Pudding köstlich