Carola Pütz - Verlorene Seelen. Michael Wagner J.

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Название Carola Pütz - Verlorene Seelen
Автор произведения Michael Wagner J.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847695493



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gehabt haben, mehr kann ich Ihnen zurzeit nicht sagen, tut mir leid.«

      »Ja«, sagte sie schnippisch, »wenn das alles ist, muss ich es so hinnehmen.«

      Ihre Backenknochen mahlten. Zu gerne hätte sie Fakten gehört, schließlich musste sie die Klinikgäste über den Diebstahl informieren. Ihr wäre wohler gewesen, hätte sie etwas Definitives berichten können. Auf diese Weise würde sie eine Menge unangenehmer Fragen zu beantworten haben. Das schmeckte ihr nicht.

      »Sobald wir etwas Vorzeigbares ermitteln, setze ich mich umgehend mit Ihnen in Verbindung.«

      Kirchow verabschiedete sich höflich von den Damen und ging zu seinen drei Kollegen hinüber, die im Hintergrund bereits auf ihn warteten. Nach einem kurzen Gespräch gingen die Beamten durch die große, verschnörkelte Eingangstüre hinaus.

      *

      Seit ihrem Herzinfarkt war ihre Zwangsstörung weniger ausgeprägt. Es kam ihr vor, als könne sie ihre Zählsucht steuern. Kurz nach dem Infarkt war sie beinahe ganz verschwunden.

      Als Carola im Krankenhaus aufwachte, sah sie Dr. Beisiegel vor sich. Es war ihr nicht sofort bewusst, aber sie sah nur die Frau vor sich, ohne den Blick im Raum herumgehen lassen zu müssen. Erst wenn sie sich aufregte oder in eine unangenehme Situation kam, prägte sich ihre Störung in beinahe alter Stärke aus.

      So hatte sie es bei dem Gespräch mit der Ärztin erlebt. In ihrem Büro zählte sie sechsundachtzig Fachbücher, die in einem Regal hinter der Medizinerin aufgereiht warteten.

      Auf einem anderen Regal erkannte sie fünf Modelle des menschlichen Herzens mit angedeuteten Blutgefäßen. Es gab sie in verschiedenen Größen, man schien sie auseinandernehmen zu können. Daneben stapelten sich in einer Glasvitrine Medikamentenproben.

      Siebenundsiebzig.

      Der Schlüssel steckte. Ungemein sinnvoll, dachte Carola.

      Sie brauchte nicht länger als zwanzig Sekunden zum Zählen all dieser Dinge. Ihren Herzschlag dabei berechnete sie auf einhundertzwanzig Schläge pro Minute. Sie schaute auf die kleine Uhr auf dem Tisch, zählte bis dreißig in fünfzehn Sekunden. Also schlug ihr Herz einhundertzwanzig Mal pro Minute.

      Als die Ärztin ihr schließlich die Prognose verkündete, hörte sie auf zu zählen. Ihr Herzschlag beschleunigte noch mehr. Dann fiel er wieder ab. Sie hatte Informationen erhalten, die ihr helfen würden, mit ihrer neuen Situation umzugehen.

      Das beruhigte sie. Minuten später fühlte sie sich wieder normal.

      Es gab eine Neuerung in ihrem Leben, beinahe wie ein Update: Sie registrierte ihre Umwelt wie ein lebender Scanner. Dabei fielen ihr auch Dinge auf, die sich bei ihr wie auf einer intuitiv arbeitenden Festplatte ablegten. Wie ungemein hilfreich diese Fähigkeit sein sollte, konnte sie noch nicht ahnen.

      Es gab Agenten, die benötigten jahrelanges Training, um solch einen Status zu erreichen. Blitzschnelles Erfassen von Situationen, Betrachten und Beurteilen von Menschen, Dingen und das Verarbeiten von all diesen Informationen. Sie bekam diesen Status von der Natur geschenkt. Einziger Wermutstropfen daran: Sie spielte jedes Mal mit ihrer Gesundheit. Immer an der Grenze zum nächsten Infarkt durfte sie ihre Gabe nicht überreizen.

      Doch als sie jetzt im Zug saß und auf ihrem Kindle eBook-Reader einen trivialen Roman las, war sie sich dessen noch nicht bewusst.

      Der Roman, den sie las, war nicht wirklich spannend. Das rhythmische Gebrumm des fahrenden Zuges machte sie müde und sie schlief ein. Bis sie in Nürnberg würde umsteigen müssen, in Richtung Marktredwitz, hatte sie noch gut zwei Stunden Zeit. Und ihr Körper musste regenerieren. Schlaf war gut für sie. Selbst wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, so war es.

      In Marktredwitz würde sie in den Vogtland-Express umsteigen. Von dort aus ging die Fahrt geruhsam weiter und schließlich käme sie um kurz vor siebzehn Uhr in Mühlhausen an. Der private Shuttlebus würde sie dann zur Klinik bringen.

      Während sie schlief, träumte sie von anderen Klinikinsassen und von endlosen Gesprächen über deren Krankheiten. Hätte sie sich selbst betrachten können, so hätte sie ihren angewiderten Gesichtsausdruck im Schlaf sehen können. Vor wenigen Momenten erzählte ihr eine Frau mit einem Ausdruck innigster Begeisterung von ihrer letzten Kur in Bad Sooden-Allendorf. Die Frau berichtete von einer Wandelhalle, in der die salzhaltige Sole von oben über Reisig lief. Sie beschrieb die Wohltat, die man spürte, wenn man stundenlang unter dem Dach dieser Halle lustwandelte.

      *

      Der letzte Teil der Reise führte von Cheb nach Bad Elster. In Cheb stieg sie in den zweiteiligen weißen Triebwagen. Die Strecke war seit Nürnberg nicht mehr elektrifiziert, hier war sie jetzt sogar nur noch eingleisig befahrbar. Der moderne Dieseltriebwagen fuhr recht zügig durch das Vogtland. Dichte, unbelaubte Wälder wechselten sich mit Weiden und Feldern ab und zogen am Fenster vorbei.

      Carola war mittlerweile sehr gespannt auf ihre Klinik. Ihre Klinik, wie das klang. Sie musste unwillkürlich schmunzeln.

      Es war kurz vor siebzehn Uhr und bereits dunkel, als die Vogtlandbahn auf dem kleinen Bahnhof von Mühlhausen anhielt. Der Bahnsteig wurde von einer einzelnen Lampe spärlich beleuchtet. Die Automatiktüre des Triebzuges gab ein leise zischendes Geräusch von sich und schwang elegant nach außen. Carola hatte das Gefühl, der Triebwagen würde sie nun in eine andere Welt entlassen. In eine längst vergangene Welt. Sie hob ihre beiden Trolleys aus dem Zug und machte einen Schritt auf den Bahnsteig. Wieder das Zischen. Die Tür schwang zu. Der Triebwagenzug fuhr leise an. Schon legte er sich leicht in die Kurve und nahm Fahrt auf. Carola war alleine. Sie stand unter dem hölzernen Vordach des Bahnhofs und sah sich um. Niemand außer ihr war dort. Kein Shuttle. Sie zog die beiden Trolleys langsam über den Betonboden. An der Ecke des Bahnhofs drehte sie sich um. Oben an der Hauswand war eine rechteckige Uhr angebracht, sie zeigte zwei Minuten vor fünf.

      Pünktlichkeit geht anders, dachte sie. Sie hatte erwartet, das Shuttle schon wartend vorzufinden.

      »Reg dich nicht auf«, murmelte sie vor sich hin und wunderte sich, dass sie Selbstgespräche führte. In dem Moment meinte sie, einen Lichtschein auf der Straße hinter dem Bahnhofsgebäude auszumachen. Ein Lichtkegel näherte sich. Sekunden später hielt ein weißer Mercedes Bus neben ihr.

      Auf der Seite stand in großen geschwungenen Lettern ‚Kurklinik Sachsenglück‘. Das Motorengeräusch erstarb und die Fahrertür wurde aufgerissen. Ein Mann mit einer blauen Schirmmütze eilte um das Auto herum. Atemlos, als wäre er den ganzen Weg gelaufen, baute er sich vor ihr auf und meinte: »Sie müssen Frau Doktor Pütz sein, stimmt‘s?«

      Seinen Tonfall identifizierte sie als eindeutig sächsisch. Die Mütze ähnelte den viel zu ausladenden Schirmmützen der russischen Armee.

      »Ja, das stimmt.«

      »Entschuldigen Sie die Verspätung vielmals.« Er verbeugte sich tief.

      »Ist schon gut, ich bin in diesem Augenblick erst angekommen.«

      Die Verzweiflung im Gesicht des Mannes schien echt zu sein. Nach ein paar Tagen in der Klinik würde sie nachvollziehen können, warum der Mann so ergeben war. Aber im Moment war sie eher nur überrascht. Blitzschnell verstaute er ihre beiden Trolleys im Kofferraum und öffnete die seitliche Schiebetür. Wieder mit einer tiefen Verbeugung.

      Schweigend fuhren sie die zwei Kilometer vom Bahnhof bis in den Ort hinein. Es war Ende November, einige Gärten und viele Fenster waren mit Weihnachtsschmuck dekoriert. Durch ihren Aufenthalt im Krankenhaus war es ihr gar nicht bewusst, dass die Adventszeit begonnen hatte. Auch in den letzten Jahren war die Vorweihnachtszeit an ihr vorbei gegangen. Wenn sie sich richtig erinnerte, dann war in den letzten Jahren nie wirklich Zeit für Besinnlichkeit gewesen.

      Hätte sie Besinnlichkeit haben wollen? Hatte sie etwas vermisst? Nun, eigentlich nicht. Aber dieses Jahr würde sie sehr wahrscheinlich eine volle Dosis davon abbekommen. In beinahe jedem Vorgarten stand mindestens eine erleuchtete Figur. Manche hatten sogar mehrere aufgestellt. Nachbarschaftlicher Wettstreit. So oder so entlockte ihr das ein Schmunzeln.

      In