Carola Pütz - Verlorene Seelen. Michael Wagner J.

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Название Carola Pütz - Verlorene Seelen
Автор произведения Michael Wagner J.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847695493



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man das eher hochnäsig belächelt. In ihrer Frankfurter Etagenwohnung gab es keinen Garten.

      Während sie noch darüber nachdachte, ob sie sich einen Weihnachtsbaum gekauft hätte, fuhr das Shuttle auf einen imposanten Weihnachtsbaum zu. Selbst im Vergleich mit Frankfurt, wo es in der Fußgängerzone einige große Bäume gab, hätte dieser hier wahrhaftig gut abgeschnitten. Als wäre die Größe nicht schon überwältigend genug, so tauchten tausende von Lämpchen den Baum in ein Lichtermeer. Der Innenraum des Shuttles wurde im Vorbeifahren hell erleuchtet.

      »Ja, das ist der ganze Stolz von Frau Doktor«, brach der Fahrer sein Schweigen. Carola lächelte ihn an. Der gigantische Baum war also der erste Vorbote der Kurklinik ‚Sachsenglück‘.

      Der Kies knirschte unter den Reifen, als das Shuttle um eine großflächige Blumenrabatte herumfuhr. Wie in einem hochherrschaftlichen Schloss, dachte sie. Vor der breiten Freitreppe, die hinauf zur Eingangstür führte, bremste der Fahrer sanft ab. Er stieg aus, ging in Windeseile um sein Auto herum und öffnete die Schiebetür. Er hielt ihr die Hand hin, doch sie schaffte es, alleine auszusteigen. Schiebetüre schließen und den Kofferraum öffnen waren geübte Handgriffe. Schon hatte er die beiden Trolleys ausgeladen und schob die Haltebügel zusammen, um sie tragen zu können. Ihr Angebot, ihm einen der beiden Koffer abzunehmen, lehnte er ab. Er hüpfte mit den beiden schweren Koffern die Treppenstufen hinauf, als wären sie leicht wie Federn. Oben angekommen stellte er einen der Koffer ab, um ihr einen Türflügel zu öffnen. Carola blieb vor der mächtigen, alten Holztür stehen. Das war sie also, die ‚Kurklinik Sachsenglück‘. Ihr Domizil für die nächsten Wochen, sie trat ein. Der erste Eindruck war überwältigend. Ihre Augen flogen über die Wände, kletterten die Treppenstufen hinauf, hielten an den geschwungenen Simsen inne. Überall gab es Augenfutter. Sie konnte es aber genießen, das war der Unterschied. Nicht wie sonst, wenn sie zwanghaft Dinge zählen musste. Nein, hier war es eher wie ein inneres Jauchzen.

      Schau dir das an, schien sie zu sich selbst zu sagen.

       Wie schön.

      Der monströse Weihnachtsbaum war ihr schon wie ein Relikt aus einer längst vergessenen dekorativen Vergangenheit vorgekommen. Aber diese üppige Jugendstildekoration in der Eingangshalle wirkte um vieles prachtvoller.

      Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass bereits die ganze Zeit jemand mit einem freundlichen Lächeln hinter dem Tresen stand und auf sie wartete. Sicher, sie musste ja noch einchecken.

      »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie, »aber solche Pracht hätte ich nicht erwartet. Ich bin beeindruckt. Carola Pütz ist mein Name.« Auf dem Messingschild, das auf dem Tresen stand, war der Name Edith Kramke zu lesen.

      »Guten Abend, Willkommen in unserem Haus, Frau Doktor Pütz«, sagte Frau Kramke lächelnd, »Freut mich, wenn es Ihnen gefällt. Wir sind eines der Häuser am Ort, die eine durchgängige Jugendstilprägung haben. Darauf sind wir auch sehr stolz.«

      Der Satz fiel ihr aus dem Mund, als würde sie ihn täglich mehrere Male so zitieren. Sie reichte Carola den Anmeldebogen und einen Kugelschreiber.

      »Bitte.«

      »Danke.«

      »Sie werden morgen früh Ihren Therapieplan erhalten. Falls Sie ein Abendessen zu sich nehmen wollen, ab achtzehn Uhr ist der Speisesaal geöffnet. Sie brauchen nur nebenan durch die Tür zu gehen.«

      Sie zeigte auf eine feingliedrig geschwungene Doppeltür, über der mit Jugendstil-Lettern ‚Speisesaal‘ geschrieben stand.

      »Sehr gerne, danke.«

      Ihr Blick wanderte bereits wieder durch den Raum. Gut, in einer Woche ist das alles normal für dich. Dann gehst du daran vorbei und nimmst es nicht mehr wahr, dachte sie.

      Keine Viertelstunde später stand sie in ihrem Zimmer. Es bestand aus einem einzigen Raum von der gefühlten Größe eines halben Fußballplatzes und dazu ein ebenso großzügig bemessenes Badezimmer. Das Zimmer schien so weitläufig wie zwei Zimmer in ihrer Frankfurter Wohnung zusammengenommen. Sie fragte sich sofort, ob die Größe des Zimmers etwas mit ihrem Doktortitel zu tun hatte. Sie hätte den Pagen gerne gefragt, der ihr die Koffer aufs Zimmer gebracht hatte, doch der war schon wieder verschwunden.

      Hellrosa und weiß waren die vorherrschenden Farben. Die Tapete hinter dem weißen Bett war hellrosa mit einem Wellenmuster in Silber. Modern akzentuiert trat eine vorgesetzte Wand auf doppelter Breite des Bettes hervor. Eine dahinter installierte indirekte Beleuchtung tauchte das Zimmer in ein gemütliches Dämmerlicht. Das waren aber nicht die einzigen Lichtquellen im Raum. Rechts und links neben der Tür zum Bad hielten zwei possierliche Figürchen jeweils eine kleine Lampe mit einem hauchdünnen Porzellanschirmchen. Über dem ebenfalls weißen Tischchen hing ein verspielter Lüster. Farbliche Akzente setzten einige dunkel gebeizte Möbelstücke, die sich dadurch auszeichneten, dass sie nicht mit Ornamenten überladen waren. Carola suchte nach einem Kleiderschrank. Die beiden dunklen Kommoden waren dafür eher ungeeignet. Neben der Türe gab es noch eine vogelschwingenartige Wandgarderobe aus gebeiztem Nussbaum mit sechs Doppelhaken. In der Mitte war ein facettierter Spiegel angebracht.

      Ihr Blick suchte weiter. Als er an einem Messinggriff ankam, der scheinbar sinnlos in der Mitte der Wand angebracht war, ging sie darauf zu. Erst jetzt sah sie die feinen Linien auf der Wand, die ihr verrieten, dass hier eine Tür versteckt war. Sie drehte den Schlüssel und es öffnete sich ein begehbarer Kleiderschrank. Überhaupt nicht stilgerecht waren in der Decke moderne Halogenstrahler angebracht. Acht Stück an der Zahl.

      Sie warf einen kurzen Blick hinein und hatte sofort die Überzeugung gewonnen, hier ausreichend Stauraum für die Garderobe gefunden zu haben. Gewiss würde die Garderobe aller derzeitigen Klinikgäste darin Platz finden. Es gab Kleiderstangen, genug ausklappbare Schuhträger für alle Schuhe, die sie noch in ihrem Leben kaufen würde und ausreichend Ablagefläche für Pullover, Blusen und Unterwäsche. Sie schob ihre Trolleys in die begehbare Kleiderhalle und holte aus einem davon ihren Kulturbeutel heraus, um sich frisch zu machen.

      Als sie die Badezimmertür öffnete, erstrahlten wie von Geisterhand die beiden Lampen neben der Tür. Auch im mit weißem Marmor gefliesten Badezimmer ging ein üppiger zehnflammiger Leuchter an. Es gab eine Badewanne und ein Waschbecken in Muschelform. Oberhalb des Waschbeckens lief ein dunkler Fries mit diversen verspielten Jugendstilblüten einmal rund um das Badezimmer. Die Armaturen waren dreiteilig. Ein stolzer Wasserhahn, der aus poliertem Messing in der Mitte zwischen zwei Reglern stand. Die beiden Regler sahen aus, als wären sie einem Schachspiel entwichen. Ein großes ‚W‘ und ein großes ‚K‘ waren schwarz in dem weißen Porzellankreis eingelassen. Jeder Regler streckte vier Ärmchen von sich, die am Ende eine Kugel als Abschluss hatten.

      Das Messingrohr des Wasserhahns nahm in der Mitte eine bedenkliche Krümmung nach oben auf, um sich kurz drauf wieder abzusenken. Über dem Muschelwaschbecken hing ein ovaler Spiegel von beachtlichem Ausmaß, eingefasst mit gebeiztem Nussbaum. Gegenüber an der Wand befand sich ein Pendant mit genau demselben Muster über einem zerbrechlich wirkenden Tischchen, auf dem zwei weiße Flakons mit Badeöl standen.

      Vor der Badewanne lag ein flauschiger cremefarbener Teppich. Neben der Badewanne stand ein dreiteiliger, geschwungener Paravent, dahinter ein Hocker, mit schwarzem Samt bezogen. Und als wäre es noch nicht eindrucksvoll genug, gab es noch eine ansehnliche Stehlampe mit einem massiven Holzfuß.

      Die Lampe begann zu leuchten, als sie hinter den Paravent trat. Der schwarze Lampenschirm wirkte wie der Helm eines Soldaten. Ein goldener Efeu schlang sich von unten nach oben um den streng geraden Ständer der Lampe. Sie suchte nach einer Lichtschranke, fand aber nichts dergleichen.

      Beinahe schüchtern stellte sie ihre Badutensilien auf dem Tischchen ab. Jedes weitere Accessoire wirkte wie ein störender Eingriff in das Gesamtkunstwerk dieses Badezimmers.

      Nachdem sie sich frisch gemacht hatte und sich bereits jetzt auf ein entspannendes Bad freute, war sie neugierig auf das Essen.

      *

      Frau Doktor Clara von Hohenstetten hatte sich vor dem Mikrofon aufgebaut, um ihre Ankündigung zu verlesen.