Carola Pütz - Verlorene Seelen. Michael Wagner J.

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Название Carola Pütz - Verlorene Seelen
Автор произведения Michael Wagner J.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847695493



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den Traum aufgeschreckt, hatte sie dann halluziniert und die Tote neben sich auf dem Bett sitzen sehen. Die Tote lachte sie auch noch aus. Um wieder zu sich zu kommen, wollte sie duschen, dort war sie schließlich zusammengebrochen. Ihr Herz hatte beschlossen, Schluss zu machen, doch sie hatte richtig Glück gehabt, der Infarkt war nicht stark. Wäre er stärker gewesen, sie hätte die Nacht nicht überlebt. Erst vier Stunden nach dem Zusammenbruch wurde sie von der Putzfrau gefunden.

      Dr. Beisiegel war von Beruf aus neugierig.

      »Und wieso haben Sie das Rohypnol genommen?«, hatte sie gefragt. Dr. Pütz hatte versucht, der Antwort auszuweichen, jedoch ohne Erfolg.

      »Carola«, hatte Dr. Beisiegel gesagt, »wir kennen uns jetzt über zwanzig Jahre. Denkst du nicht, ich hätte ein wenig Ehrlichkeit verdient?« Sie hatte ihre alte Studienkollegin bewusst geduzt.

      »Ja, das ist wohl so.«

      Daraufhin hatte sie ihr endlich erzählt, dass sie seit einiger Zeit an einer Zwangsstörung litt. Sie hatte einen Zählzwang. Sie musste Dinge zählen, egal was, egal wann. Menschen in einem Raum, Knöpfe an einem Jackett, Fliesen auf dem Boden, Instrumente auf einem Laborwagen, alles. Immer. Es war ein Fluch.

      Jetzt empfand sie es als eine wahnsinnige Befreiung, es endlich jemandem erzählt zu haben. Warum hatte sie es so lange für sich behalten? Nur ihr Therapeut in Frankfurt wusste davon. Ihre Angst, dass man sie als Wissenschaftlerin nicht mehr für voll nehmen würde, war zu groß gewesen. Aber jetzt? Sie war immer noch Doktor Pütz, die Forensikerin. Mit einem neuen ‚Selbst‘. Und es stand ihr frei, es anzunehmen.

      Carola trat hinaus auf die Straße, es dämmerte bereits. Vier Uhr nachmittags. Im November bedeutete das noch eine knappe halbe Stunde Tageslicht, dann wurde es dunkel. Bis dahin wollte sie wieder in ihrer Wohnung sein. Nicht, weil es in ihrem Stadtteil nicht sicher war. Nein, sie fühlte sich dann draußen einfach nicht mehr wohl.

      Sie ging langsam die Straße hinunter, ihre Gedanken ließen das Geschehen der letzten Wochen weiter Revue passieren. Sie hatte sich auf dem Weg nach Hamburg befunden, um dort einen Vortrag zu halten. Da der Bonner Staatsanwalt sie gebeten hatte, der Kollegin Dr. Beisiegel bei einem schwierigen Fall zur Seite zu stehen, hatte sie in der alten Hauptstadt Zwischenstation gemacht. Dort hatte es mehrere grausame Mordfälle gegeben, drei Asiatinnen wurden getötet, danach deren Gesichter entfernt. Das bildete ihr Arbeitsfeld: Plastische Forensik. Toten Menschen ihre Identität zurückzugeben, Gesichter zu rekonstruieren, war ihre Berufung, nicht nur ein Beruf.

      Sie besaß einen Lehrstuhl an der Universität Frankfurt, reiste während der vorlesungsfreien Zeit auf Vortragsreisen in aller Welt umher. Sie hatte Fachbücher geschrieben, die in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt worden waren. Carola lebte das Leben einer viel beschäftigten und erfolgreichen Wissenschaftlerin. Bis vor fünfzehn Tagen. Seitdem lief alles anders.

      Die Ärztin im Bonner Klinikum präsentierte ihr zwei Wahlmöglichkeiten. Die Brille hatte dabei drohend auf ihrer Nasenspitze gesessen, ihre Augen nahmen jenen Ausdruck an, den Ärzte gepachtet zu haben schienen, wenn sie Menschen etwas Unbequemes ausrichten mussten. So war es auch bei ihr. Entweder änderte Carola Pütz ihren Lebensstil sofort, was gleichbedeutend mit der zeitweisen oder sogar völligen Aufgabe ihres Berufes einherging, oder sie riskierte, bei einem erneuten Herzinfarkt ihr Leben zu verlieren. So einfach schien es für eine Medizinerin, einer anderen Ärztin die Wahrheit zu verkaufen.

      Morgen würde sie mit dem Zug nach Bad Elster fahren. Ein Kurort an der tschechischen Grenze, mitten im Niemandsland. Sachsen, das Vogtland. Carola mochte die ehemalige DDR nicht. Dreiundzwanzig Jahre, nachdem die ersten Trabis auf den bundesdeutschen Autobahnen mit Hupkonzerten empfangen worden waren, hatte sie noch keinen Fuß in die neuen Bundesländer gesetzt.

      Diesen Kuraufenthalt trat sie voller Skepsis an. Wegen der eindringlichen Worte ihrer Ärztin wusste sie, dass es unumgänglich war, sie musste in ihrem Leben etwas ändern, am besten von gestern auf heute. Doch die Umstände des vergangenen Jahres waren wirklich nicht geeignet, ihre Lebensumstände in ruhigere Bahnen zu lenken. Die Scheidung von ihrem Mann, ihre beginnende Zwangsstörung, schließlich der Herzinfarkt. Jetzt sollte sie auch noch ihre Berufung verlieren? Das schmerzte mehr als die Trennung von ihrem Mann, viel mehr.

      Sie würde mit gehöriger Skepsis die medizinischen Anwendungen über sich ergehen lassen, so war der Plan. Sie würde widerwillig, jedoch nach außen begeistert, an einem Gesprächskreis teilnehmen, und an den ihr verordneten psychologischen Einzelsitzungen. Vielleicht kehrte dadurch ihr inneres Gleichgewicht zurück.

      Ihr plötzliches Ausscheiden aus der Universität hatte ihre Kollegen anfangs irritiert, war dann aber mit zunehmender Gefasstheit zur Kenntnis genommen worden. Jeder war zu ersetzen, auch eine plastische Forensikerin von Weltruhm.

      Vornehmlich ging es darum, die lebensbedrohlichen Signale ihres Körpers als unumstößliche Tatsache anzuerkennen. Sie musste Ihren Lebensstil darauf einstellen. Berufliche Eitelkeiten hatten hier keinen Platz.

      Der kurze Spaziergang tat ihr gut, und sie ging zurück in ihre Wohnung, wo die Koffer bereits gepackt auf die morgige Abreise warteten.

      *

      Carola war an dem folgenden Morgen sechsundvierzig Jahre, zweihundertsechsundzwanzig Tage und vierzehn Stunden alt. Sie trat an diesem Morgen eine Reise an, die ihr Leben grundlegend verändern sollte, nur wusste sie das an diesem achtundzwanzigsten November noch nicht.

      Mit gemischten Gefühlen hatte sie um zehn Uhr das Taxi bestiegen, das sie zum Frankfurter Hauptbahnhof brachte, ihr Intercity fuhr dort um zehn Uhr vierundfünfzig ab. Die Reise würde genau sechs Stunden dauern, dann würde sie mitten im Niemandsland aussteigen, ein Shuttle Service der Klinik würde sie dort abholen. Sie verspürte so viel Lust auf diesen Ort an der tschechischen Grenze wie eine Kuh auf einen Fallschirmsprung.

       Bad Elster.

      Wieso bloß hatte sie auf die Ärztin gehört, die ihr bestätigte, dass genau dieser Kurort der Beste für ihr Krankheitsbild sei? Es gab auch noch andere Sanatorien in Deutschland, die an die Zivilisation angeschlossen waren. Aus einer Laune heraus hatte sie am Vorabend nach dem Ort gegoogelt. Es gab dort herrliche alte Gebäude, ein altes Theater, ein altes Schwimmbad, alles dort schien alt zu sein. Positiv gesehen, ein gewachsener Kurort, nichts aus der Retorte.

      Dann hatte sie gelesen, dass ihr Aufenthaltsort, die Kurklinik ‚Sachsenglück‘, die älteste Klinik vor Ort war. Seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurden dort Menschen mit diversen Erkrankungen in dieser Fachklinik für Orthopädie, Kardiologie und Stoffwechselerkrankungen behandelt. Im Internet gab es Fotos von goldenen Wasserhähnen, einem Jugendstilschwimmbad, einer Kneipp‘schen Wandelhalle und einem Rekreationszentrum mit geschwungenen Liegen auf großen Rädern. Auf jedem dieser Fotos waren Menschen zu sehen. Menschen mit grauem Haar, Mittsechziger, Mittsiebziger und noch älter. Außer dem Klinikpersonal schien dort niemand in ihrem Alter zu sein. Mit Schrecken dachte sie an Geschichten über Herzoperationen, künstliche Kniegelenke, Inkontinenz und künstliche Darmausgänge.

      Carola passte dort eigentlich nicht hinein. Sie war ein sportlicher Typ, rauchte nicht und trank nur in Maßen Alkohol. Sie trieb Sport, nicht regelmäßig, aber trotzdem. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, war sie sicher, dass sie eigentlich jünger wirkte als es ihr biologisches Alter vorgab.

      Ihre Brüste waren noch straff, was nicht schwer war, da sie eh nie sehr üppig gewesen waren. Ihre Pobacken standen den Brüsten in nichts nach, Cellulite war ein Fremdwort für ihre Oberschenkel. Was sollte sie dort? Gut, ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen, und sie verdankte einem Defibrillator ihr Leben, das war sicher Grund genug.

      War der Widerwillen schon vorher groß gewesen, jetzt war er noch größer. Aber mit einer Tatsache konnte sie sich trösten, dort würde sicher nichts Aufregendes passieren. Außer, einer der Kurgäste hauchte dort auf natürliche Art und Weise sein Leben aus.

      Pünktlich um zehn Uhr einundfünfzig rollte der ICE leise in den Bahnhof ein. Drei Minuten nach ihrem Zustieg setzte er sich in entgegengesetzter Richtung wieder in Bewegung.

      Carola