Virus. Kristian Isringhaus

Читать онлайн.
Название Virus
Автор произведения Kristian Isringhaus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738086386



Скачать книгу

brummte Bruncke bedächtig.

      Aha? Was sollte das heißen, aha? Wegmann sah ein, dass Bruncke gut war, sehr gut sogar. Mit diesen winzigen zwei Silben hatte er ihn völlig verunsichert. War es eine Aufforderung an Wegmann, weiterzureden? Er hatte doch alles gesagt. Oder wollte Bruncke sich selbst nur etwas Zeit geben, nachzudenken, das Gesagte zu verarbeiten? Würde Wegmann seine Unsicherheit preisgeben, wenn er jetzt erneut ansetzte? Sollte er auf eine weitere Frage Brunckes warten?

      Es kam keine.

      Wegmann spürte, wie sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Er beobachtete Bruncke. Dieser hatte die Handflächen wie zum Gebet gegeneinander gelegt und berührte mit beiden Zeigefingern nachdenklich seine leicht geschürzten Lippen. Spielten sie hier Poker?

      Schließlich setzte Wegmann erneut an. „Wir warten noch auf den Bericht der Elektrotechniker, die ergründen, wie der Blitz durch das Dach schlagen konnte. Je nach Sachlage werden wir dann Ermittlungen gegen die Baufirma einleiten, um zu ergründen, ob man ihr nachweisen kann, dass sie beim Blitzableiter gepfuscht hat. Zudem geht der zuständige Brandursachenermittler noch der Frage nach, warum sich das Feuer so schnell bis zur Bühnenrückwand ausbreiten konnte. Und dann können wir den Fall als solchen wohl als abgeschlossen betrachten.”

      Wegmann hoffte inständig, dass Bruncke das genauso sah. Was wollte er noch hier? Die Sachlage war doch völlig klar. Doch Bruncke saß noch immer in unveränderter Haltung vor ihm und schwieg.

      „Haben Sie Leute in den Krankenhäusern, um die Zeugen zu befragen? Haben Sie Ihren Leuten eine Nachtschicht verordnet, um dieselben auszuwerten?” beendete der BKA-Chef endlich sein Schweigen. Es war Wegmann vorgekommen wie eine halbe Ewigkeit. Er wischte sich über die Stirn und senkte den Blick.

      „Ich dachte, dass wir zuverlässigere Angaben erhalten, wenn der erste Schock überstanden ist”, erwiderte er kleinlaut.

      „Sie dachten, dass Sie sich Arbeit sparen können”, sagte Bruncke leise und mit einem sardonischen Lächeln. „Verstehen Sie eigentlich, worum es hier geht? Das hier ist kein Dorffest, Herr Wegmann, wir befinden uns inmitten des G8-Gipfels.”

      Wegmann antwortete nicht und ein weiteres überaus ungemütliches Schweigen folgte.

      „Was ist mit der Schrift?” fragte Bruncke schließlich.

      „Wir gehen davon aus, dass es keine Schrift gegeben hat”, antwortete Wegmann bemüht sachlich. „Die Ausbreitung von Feuer ist völlig willkürlich. Ein Brandbeschleuniger wurde nicht festgestellt und wie hätte jemand auch wissen sollen, dass dieser Blitz genau dort einschlägt.”

      „Es gibt zahlreiche übereinstimmende Zeugenaussagen, die von der Schrift berichten”, sagte Bruncke. Sein Tonfall wurde jetzt etwas schärfer. „Wollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie diese einfach ignorieren?”

      „Natürlich nicht”, beeilte sich Wegmann, zu antworten. „Allerdings befanden sich diese Zeugen alle in einer psychologisch labilen Verfassung, sie standen unter Schock. Wenn man dann dazu addiert, dass es schlicht unmöglich ist, dass dort eine Schrift stand…”

      „Und wenn man dann hinzu addiert”, unterbrach Bruncke ihn scharf, „dass die Aussagen zahlreicher Zeugen übereinstimmen, dann sollten Sie als Kriminalist zu dem Schluss kommen, dass zumindest eine eingehende Untersuchung angebracht wäre.” Er blickte Wegmann eingehend in die Augen, bevor er anfügte: „Eine solche Untersuchung fällt aber natürlich schwer, wenn die Zeugenaussagen nicht einmal korrekt protokolliert werden.”

      „Die Einheitlichkeit der Aussagen, die wir im Kongresszentrum aufgenommen haben, dürfte auf ein psychologisches Massenphänomen zurückzuführen sein, das…” begann Wegmann, doch Bruncke schnitt ihm erneut das Wort ab.

      „Herr Wegmann, ich habe das Gefühl, sie machen es sich viel zu leicht.” Sein Tonfall war schneidend. „Zu dem seltsamen Ton haben Sie sich auch noch nicht geäußert. Wahrscheinlich tun Sie den auch als psychologisches Massenphänomen ab?”

      Die Frage war fast rhetorisch gestellt. Bruncke blickte Wegmann durchdringend an. Dieser antwortete nicht, doch er wusste, dass sein Blick als Antwort mehr als ausreichte.

      „Das BKA ist hier für die Sicherheit der Regierungschefs verantwortlich”, fuhr Bruncke ernst fort. „Und um die Sicherheit garantieren zu können, müssen Sie Ihre Arbeit machen, Herr Wegmann. Gibt es schon Ergebnisse von der Obduktion?”

      Wegmann zuckte zusammen. Wusste Bruncke, dass es keine Obduktion gab? Wusste er womöglich sogar, auf welche Weise Wegmann das verhindert hatte? Hatte das BKA mit dem Notarzt gesprochen? Was wusste das BKA über seine Arbeitsmethoden?

      „Es gibt noch keine Ergebnisse. Wir hoffen, morgen früh etwas zu hören.” Wegmann versuchte seiner Stimme so viel Sicherheit und Selbstbewusstsein wie nur möglich zu verleihen.

      „Sie sorgen dafür, dass die Medien keinen Wind von der Sache kriegen?” fragte Bruncke.

      „Selbstverständlich”, antwortete Wegmann etwas zu hastig.

      Bruncke erhob sich. „Machen Sie Ihren Job, Herr Wegmann.”

      Wegmann hasste die Höflichkeit, mit der Bruncke ihn immer noch adressierte. Dieser Mann ließ sich nicht einmal herab, ihn einfach nur mit ‚Wegmann’ anzusprechen. Er nutzte Höflichkeit als Demonstration seiner Überlegenheit. „Ich erwarte morgen Ihren Bericht”, fuhr Bruncke fort. „Sie sind persönlich verantwortlich. Machen Sie Ihre Arbeit schlecht, so werde ich Sie degradieren und versetzen. Stellt sich heraus, dass Sie aus Faulheit bewusst die Ermittlungen nicht vorantreiben, so werde ich dafür sorgen, dass Sie nicht nur Ihren Job, sondern auch Ihren Beamtenstatus verlieren.” Bruncke hielt inne und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. „Ich nehme an, Sie wissen, was das für Ihren Rentenanspruch bedeuten würde, Herr Wegmann. Guten Abend.”

      Damit verließ er das Büro.

      Ungläubig starrte Wegmann ihm nach, als dieser die Tür von außen schloss. Was war hier bitteschön gerade passiert? Er hatte doch alles im Griff gehabt. Es hatte sogar so ausgesehen, als würden die nächsten Tage wieder ein wenig ruhiger werden, und plötzlich lief er sogar Gefahr, seinen Beamtenstatus zu verlieren?

      Was konnte er denn noch mehr tun, als auf die Gutachten der Sachverständigen zu warten? Sollte er tatsächlich Hirngespinsten unter Schock stehender Zeugen hinterherjagen?

      Er starrte ganze fünf Minuten lang ins Leere und versuchte, zu begreifen, was schief gelaufen war. Dann griff er nach dem Telefon. Er musste einen Rechtsmediziner finden, der noch über Nacht die Leiche zu obduzieren bereit war.

       18.

      Passe konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Er hatte noch lange mit Dora gesprochen, ihr aber kein Geheimnis entlocken können. Vielleicht hatte sie ja gar keins. Er hatte sie nicht mehr direkt auf ihren Sprungkick oder die Vermummung angesprochen. Sie hatte es ihm erklärt und er hätte sie beleidigt, wenn er nachgehakt hätte. Italiener waren stolz.

      Doch er hatte versucht, die Themen so zu wählen, dass sie, ohne es zu merken, etwas von sich preisgeben würde. Er hatte in den anderthalb Jahren, die sie nun zusammen waren, nicht so viel über seine Freundin erfahren, wie an diesem einen Abend. Jedes Mal, wenn er daran dachte, wie Dora dem Polizisten in den Rücken gesprungen war, hatte er das Gefühl, seine Freundin überhaupt nicht zu kennen. Er wollte das ändern.

      Nie zuvor war er ein so guter Zuhörer gewesen. Sie hatte ihm von ihrer Kindheit in Siena erzählt. Von ihren Eltern, deren kleiner Lebensmittelladen pleiteging, als eine große Kette eine Filiale ganz in der Nähe eröffnete. Von ihrem Hass auf Kapitalismus, Ausbeutung, Unterdrückung und Neoliberalismus. Von ihrem ersten Freund, der sie mit auf Demonstrationen genommen hatte.

      Und davon, was sie empfunden hatte, als sie Passe zum ersten Mal gesehen hatte.

      Passe hatte sich ihr noch nie so nahe gefühlt. Auf der anderen Seite konnte er nicht glauben, dass er seit anderthalb Jahren mit ihr zusammen war und all das nicht gewusst hatte. War