Virus. Kristian Isringhaus

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Название Virus
Автор произведения Kristian Isringhaus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738086386



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sagte sie schließlich. „Wir kommen nicht weiter. Versuch einfach, so viel wie möglich herauszufinden. Über die Forschungsgebiete des Professors, über ICD Codes im Allgemeinen, über Virusmeningitis, über die G8, über alles. Wir haben keine wirkliche Spur, also müssen wir grob streuen. Würdest du das für mich tun?”

      „Für dich würde ich alles tun, das weißt du doch”, antwortete Bobby.

      Debbie erachtete den Zeitpunkt als denkbar ungeeignet für Bemerkungen dieser Art, verkniff sich aber, ihn das wissen zu lassen. Stattdessen atmete sie einmal tief durch. „Ruf mich auf meinem Handy an, wenn du etwas herausgefunden hast. Ich werde dich auf dem Laufenden halten, wenn sich hier was entwickelt.”

      „Mach ich.”

      „Und danke für deine Hilfe, Bobby.”

      „Kein Thema.”

      Debbie legte den Hörer auf die Gabel und drehte sich wieder auf den Rücken. Viel zu viele Fragen schossen ihr durch den Kopf und viel zu wenig Antworten.

      Doch nach und nach wurden die Fragen in ihrem Kopf abgelöst von den schrecklichen Bildern des Nachmittags, die erneut begannen, sich wie in einer Endlosschleife vor ihrem inneren Auge abzuspielen. So würde sie keinen Schlaf finden können und selbst wenn sie jetzt Schlaf fände, würde sie aufgrund der frühen Stunde mitten in der Nacht aufwachen und dem gleichen Problem gegenüber stehen.

      Was sie jetzt brauchte, war frische Luft, ein Spaziergang und verdammt nochmal ein Bier. Sie erinnerte sich, dass sie auf der Taxifahrt vom Rostocker Flughafen hierher im Dorfkern eine Kneipe gesehen hatte.

       14.

      Passe war nach wie vor wie in Trance. Allerdings nicht mehr wegen des Adrenalins. Das wich langsam aber stetig aus seinem Körper. Es waren die Gedanken. Abertausende davon rasten gleichzeitig durch seinen Kopf und trübten seine Wahrnehmung. Er saß im Eingang seines Zelts, die Knie angezogen und die Arme um die Unterschenkel gelegt. Sein Kopf lag schief auf seiner Schulter, die Kapuze seines Sweatshirts hatte er über die kurzen blonden Haare gezogen.

      Um ihn herum herrschte einmal mehr Chaos. Menschen rannten umher, riefen Namen, suchten nach Freunden, fanden Freunde. Wunden wurden verbunden, Heldentaten besungen, über den Polizeistaat geschimpft. Gewaltfreie Globalisierungsgegner diskutierten hitzig mit gewaltbereiten, die einen heulten vor Wut, die anderen feierten ihren Sieg. Lagerfeuer wurden entzündet, Grills angefeuert, Bierdosen geöffnet.

      Es hatte aufgehört zu regnen und nach und nach wandelte sich die adrenalingetränkte Aufregung in eine hemmungslose Partystimmung. Die Anspannung des Nachmittags schrie nach Befreiung und entlud sich in Ausgelassenheit.

      Doch von all dem nahm Passe nicht die geringste Notiz. Wieder und wieder sah er die Bilder des Nachmittags. Die Schläge. Dora.

      Er hatte sie beschützen wollen.

      Sie hatte ihn beschützt.

      Wieso war sie vermummt gewesen? Woher konnte sie Karate? Was würden die nächsten Schritte sein? War Mark Wolf jetzt ihr Anführer? War er vielleicht wirklich aus dem Schwarzen Block und hatte den Auftrag, unter den campenden Globalisierungsgegnern Gewaltbereite zu finden? Wer waren seine Mitstreiter nochmal gewesen? Passe versuchte wieder und wieder, sich ihre Gesichter in Erinnerung zu rufen. Einige von ihnen waren ihm bekannt vorgekommen, doch persönlich und mit Namen hatte er keinen gekannt.

      Es gelang Passe nicht, seine Gedanken zu strukturieren. Wilde Assoziationen jagten Fragen ohne Antworten, immer wieder gestört durch stechende Kopfschmerzen.

      Den Rest konnte er ertragen, wirklich schlimm waren nur diese hämmernden Kopfschmerzen. Ob er eine Gehirnerschütterung hatte? Wenn er sich nicht bewegte, schmerzten die blauen Flecke kaum, wenn er nicht zu tief atmete, spürte er selbst die schwer geprellten Rippen nicht allzu stark. Oder vielleicht kam ihm das auch nur so vor, weil die stechenden Kopfschmerzen alles andere übertönten.

      Warum war der verdammte Tank nicht explodiert? Hatten sie trotzdem genug Aufmerksamkeit erzeugt? Hatten die Kamerateams sie gefilmt? Wurde ihre Botschaft um die Welt getragen? War es ein Sieg oder eine Niederlage gewesen? Wie viele waren verhaftet worden? War die Truppe noch stark genug für weitere Aktionen? Wann und wo würde man sich wieder zeigen? Hatte Mark einen Plan? Oder war er vielleicht gar kein Anführer, sondern hatte nur spontan das Kommando übernommen? Wo hatte er plötzlich den Molotow Cocktail hergehabt? War Mark überhaupt entkommen? Hatte vielleicht auch er einen rätselhaften Retter gehabt? Hatte Dora ein Geheimnis vor ihm?

      All diese Fragen schienen ihm gleichzeitig durch den Kopf zu schießen und zu jeder einzelnen assoziierte er wilde Antworten. Er sah Mark den Molotow Cocktail herstellen. Im nächsten Moment sah er, wie Mark ihn fand und wieder Bruchteile von Sekunden später sah er, wie jemand anderes Mark den Cocktail in die Hand drückte. Es gab unzählige mögliche Antworten auf alle Fragen. Und alle schwirrten gleichzeitig durch seine Gedankenwelt.

      Das Erste, was Passe von seiner Umwelt wieder wahrnahm, war, dass jemand seinen Rücken streichelte. Langsam drehte er den Kopf. Dora saß neben ihm. Seit wann? Seit einer Minute? Seit einer halben Stunde? Noch mehr Fragen. Er hatte sie einfach nicht bemerkt.

      „Wie geht es dir?” fragte sie mit sanfter Stimme. Passe liebte ihren italienischen Akzent.

      „Du hast mir nie erzählt, dass du Karate kannst”, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.

      „Ich kann kein Karate”, antwortete sie leise und mit ruhiger Intonation.

      „Oder welche Kampfsportart auch immer.” Enttäuschung über ihre Unehrlichkeit lag in seinen Worten.

      „Ich kann überhaupt keinen Kampfsport. Ich habe nur gesehen, wie der Polizist auf dich eingeprügelt hat. Da habe ich Anlauf genommen und bin ihm in den Rücken gesprungen. Ich habe nicht lange überlegt.”

      Passe dachte kurz darüber nach. Konnte jemand ohne Kampfsporterfahrung einen solchen Sprungkick überhaupt ansetzen? Geschweige denn mit der Kraft, den Polizisten wirklich umzustoßen und – wenn auch nur für Sekunden – außer Gefecht zu setzen? Andererseits war es kein Kick in dem Sinne gewesen, sondern sie war einfach mit beiden Beinen voraus in den Polizisten gesprungen. Er beschloss, das Thema fürs Erste ruhen zu lassen.

      „Warum warst du maskiert?” fragte er stattdessen.

      „Weil ich keine Lust hatte, wegen euch Spinnern in irgendwelchen Nachrichtensendungen zu sein.” Es klang nahezu liebevoll, wie sie es sagte, und ihr wunderschöner, weicher Akzent verstärkte diesen Eindruck noch. Sie war sichtlich nicht auf Konfrontation aus, sondern auf Frieden. Passe wusste, dass er gut daran täte, das Angebot anzunehmen.

      „Da hätte man höchstens gesehen, dass du keinen Stein wirfst”, gab er kleinlaut zu bedenken.

      „Es geht mir nicht um den deutschen Gesetzgeber. Es geht mir um meine Familie in Siena. Sie würden umkommen vor Sorge, wenn die auch nur wüssten, dass ich hier bin.”

      Das machte Sinn. Er schwieg eine Weile.

      „Aber wieso hattest du überhaupt was zum Vermummen dabei? Ich habe nicht daran gedacht”, sagte er schließlich.

      „Ich hatte den Schal zufällig an, weil ich heute Morgen etwas Halsschmerzen hatte nach dem Aufwachen”, antwortete sie und lächelnd fügte sie an: „Ist doch auch kein Wunder bei dem Wetter hier.”

      Passe liebte ihr Lächeln. Er liebte alles an ihr. Die dunkelbraunen, kurzen Haare, die in alle Richtungen abstanden, die dunklen Augen, den schmalen, etwas traurigen Mund, die zierliche Figur.

      Er liebte sie. Und er glaubte ihr. Es passte alles zusammen. Sie hatte einen Schal getragen, weil sie Halsschmerzen gehabt hatte. Sie hatte ihr Gesicht damit verborgen, um ihre Familie nicht zu beunruhigen. Und sie konnte kein Karate, sondern hatte einfach spontan die Bewegung durchgeführt, von der sie sich die größte Wirkung erhoffte.

      Alles klang logisch, alles passte zusammen. Und eigentlich hätte er froh sein müssen, dass sie ihm dieses Friedensangebot unterbreitete, besonders wenn man in Betracht zog, wie wütend