Virus. Kristian Isringhaus

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Название Virus
Автор произведения Kristian Isringhaus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738086386



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      „So lange dauert ein natürlicher Blitz. 0,0004 Sekunden. Hier.” Er reichte ihr einen Computerausdruck. Debbie nahm ihn entgegen und überflog den Text.

      „Ich habe die wichtige Stelle markiert”, sagte er. Obwohl er einen Meter von ihr entfernt an der Theke Platz genommen hatte, roch Debbie in seinem Atem, dass er bereits einige Pils intus haben musste. Sie blätterte durch den Ausdruck und fand eine mit Textmarker hervorgehobene Stelle. Tatsächlich. Eine Hauptentladung dauerte nur etwa 0,0004 Sekunden.

      „Warum haben Sie das gemacht?” fragte sie verwundert.

      „Muss es für jeden Unrat dieser Welt einen Grund geben?” erwiderte der Pfarrer mit der Fahne und zuckte mit den Schultern.

      „Das heißt also, sie glauben mir jetzt, dass es Mord war?” Hoffnung schwang in Debbies Stimme mit, die sie selbst nicht erklären konnte. Was interessierte es sie überhaupt, ob dieser nervige Alleswisser ihr glaubte oder nicht?

      „Ich maße mir nicht an, das beurteilen zu können”, antwortete der Pastor nachdenklich und frischte seine Fahne mit einem großen Schluck von seinem Pils auf. „Aber gewisse Ungereimtheiten fallen durchaus auf und lassen mich auch über die Existenz des Tons und der Schrift neu reflektieren.”

      Konnte der Typ eigentlich auch normal reden?

      „Die Schrift und der Ton waren wirklich da”, sagte sie nahezu flehend. Warum war es ihr so wichtig, dass dieser Blödmann ihr glaubte? Noch vor wenigen Stunden hatte er ihr offen Albträume für den Rest ihres Lebens gewünscht. War sie so verzweifelt?

      Offenbar.

      „Ich glaube Ihnen ja”, sagte Vater Fahne. „Hey, haben Sie schon gegessen?”

      Über die Aufregung, tatsächlich plötzlich jemanden gefunden zu haben, der ihr glaubte, und sei es auch der degenerierteste Geistliche, dem sie je über den Weg gelaufen war, hatte Debbie ihren Hunger glatt vergessen.

      „Nein.”

      „Hagen, mach uns mal ‘n doppelten Krabbenkorb”, sagte Vater Fahne zum Wirt. Plötzlich kam er ihr gar nicht mehr so unsympathisch vor. Natürlich wusste sie, dass das nur daran lag, dass er ihr glaubte und nicht an seiner Persönlichkeit, aber es war sowieso nicht wichtig. Anfreunden würde sie sich todsicher nicht mit ihm. Eher würde sie sich erhängen.

      „Zurück zum Blitz, Dr. Ashcroft”, sagte er.

      „Bitte. Wir Amerikaner sprechen uns immer mit dem Vornamen an. Es gibt keine Ausnahmen”, unterbrach sie ihn. Sie hasste es mit ihrem Nachnamen angesprochen zu werden und mit ihrem Titel noch viel mehr. Sie wunderte sich, wie unglaublich genervt sie am Nachmittag gewesen sein musste, als sie auf ihrem Titel bestanden hatte.

      „Also Deborah, richtig?” fragte er unsicher.

      „Debbie.”

      „Okay, Debbie. Ich höre auf den Wohlklang des Namens Holger. Zurück zum Blitz. Es kann sich nicht um einen natürlichen Lichtbogen gehandelt haben. Das war der Status unserer Überlegungen.”

      „Die einzige andere Möglichkeit ist, dass jemand den Blitz erzeugt haben muss”, sinnierte sie. „Ich weiß aber nicht, wie das gehen soll. Kann man sowas künstlich herstellen?”

      „Das entzieht sich meiner Kenntnis”, antwortete Holger. „Ich habe meinen herausragenden Intellekt stets und ausschließlich in den Dienst der Geisteswissenschaften gestellt.”

      Da war wieder dieses arrogante Leiern, das Debbie so nervte. Eigentlich, so fiel ihr jetzt auf, war es die ganze Zeit da gewesen, sie hatte es nur wegen ihrer Aufregung über die Tatsache, dass er ihr glaubte, bislang nicht wahrgenommen. Es musste der arrogante Inhalt seiner Worte sein, der sie nun wieder auf die Überheblichkeit seines Tonfalls aufmerksam gemacht hatte.

      „Es gibt etwas, wovon du keine Ahnung hast?” fragte sie provozierend. Debbie wusste, dass es nicht besonders klug war, die einzige Person, die ihr glaubte, zu provozieren, aber sie trug ihr Herz nun mal auf der Zunge.

      „Wenig, aber durchaus, ja”, antwortete Holger, ohne weiter auf ihre Provokation einzugehen. Ein kurzes Schweigen folgte.

      „Was für eine Funktion hatte der Mörder deiner Meinung nach wohl der Schrift zugedacht?” fragte Holger schließlich.

      „Er will eine Aussage treffen. Eine Botschaft aussenden. Uns etwas mitteilen.”

      „Er protestiert gegen eine Autobahn?” Holger klang wenig überzeugt. „Bastard aus Beton! Analgeburt aus Asphalt! Abkömmling Adolfs! Nieder mit ihr!” rief er im Tonfall eines Demonstrationsführers. Debbie ignorierte seinen Sarkasmus.

      „Es handelt sich nicht um den Namen einer Autobahn. Es ist ein ICD Code”, sagte sie sachlich.

      „Ein was?”

      „Ein Code der International Classification of Diseases”, erklärte Debbie. „Für jede mögliche Erkrankung gibt es einen Code. A87 steht für Virusmeningitis.”

      Hagen brachte den Krabbenkorb. Debbie war selten in ihrem Leben dankbarer für eine Mahlzeit gewesen. Sie fühlte sich fast wie zu Hause. Panierte und frittierte Krabben, zusammen in einem großen Korb mit Pommes Frites, dazu Knoblauchmayonnaise. Man aß mit den Fingern und trank Bier dazu. Amerikanischer ging es kaum.

      Während beide aus dem Korb aßen, erzählte Debbie Holger von den Theorien, die sie mit Bobby aufgestellt hatte. Von der Idee, dass ein Globalisierungsgegner hinter dem Mord stecken könnte, der auf ein Ereignis in einem bestimmten Jahr hindeuten möchte, und von der Idee, dass ein Umweltschützer der Mörder sein könnte, der auf die Erkrankung der Erdoberfläche hindeuten wolle.

      Debbie erzählte mit Enthusiasmus. Zwar hatte sie gegen Ende des Telefonats mit Bobby beide Theorien stark angezweifelt, aber das Essen gab ihr neue Kraft und das Bier neuen Mut.

      Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, Holger nicht recht überzeugen zu können. Er unterbrach sie zwar nicht, legte aber gelegentlich die Stirn in Falten, und zu keinem Zeitpunkt gab er irgendein Zeichen der Zustimmung von sich. Als sie fertig war, blickte sie ihn erwartungsvoll an.

      „Und?”

      Holger griff nach einer Krabbe, kaute länger als nötig auf ihr herum und spülte sie dann mit einem kräftigen Schluck Bier herunter. „Klingt sehr kryptisch”, sagte er schließlich. „Und woher nimmst du überhaupt die Sicherheit, dass es sich tatsächlich um einen ICD Code handelt?”

      „Ein Epidemiologe wird ermordet und hinter ihm steht der Code für eine Virusmeningitis. Was soll das denn sonst bedeuten?” fragte sie, enttäuscht über Holgers Zweifel.

      „Ich weiß es nicht”, antwortete er. „Es gibt zahllose Möglichkeiten. Warum nicht wirklich eine Autobahn? Oder eine Schließfachnummer. Der Mörder hat sein flammendes Pamphlet in einem Schließfach deponiert und möchte, dass wir es finden. Vielleicht handelt es sich aber vielmehr um einen Serienkiller, der seine Opfer durchnummeriert. Oder er sucht über Chiffre A87 eine Serienkillerfreundin. Auch möglich wäre, dass der Mörder einfach nur eine Frühlingsrolle süß-sauer bestellen wollte. Immerhin war Wang Chinese.”

      Debbie starrte ihn fassungslos und mit stechendem Blick an. Es hatte ihr die Sprache verschlagen.

      „Warst du schon immer so oder wann bist du so geworden?” fragte sie nach einer ganzen Weile mit vor Zorn zitternder Stimme.

      „Was? Ein exzellenter Freizeitkriminalist?” fragte er zurück.

      „Nein, ein Arschloch!” Damit stand sie auf und ging.

      Draußen musste sie erst ein paarmal tief durchatmen. Wie konnte ein Mensch innerhalb weniger Sekunden zwei so verschiedene Gesichter zeigen?

      Im einen Moment war er noch der nahezu sympathische, aus unbekanntem Grund gebrochen wirkende Mann gewesen, der zwar einen Schutzwall aus gespielter Gleichgültigkeit um sich aufgebaut hatte, aber doch interessiert und hilfsbereit gewirkt und sie sogar zum Essen eingeladen hatte. Und im nächsten Moment hatte er sich in den geschmacklosesten Zyniker,